Titelbild Osteuropa 10-12/2018

Aus Osteuropa 10-12/2018

Editorial
Fragile Freundschaft


Abstract in English

(Osteuropa 10-12/2018, S. 5–6)

Volltext

Fragile Freundschaft

Was für ein Jahr! Die Türkei tritt der EU bei. Moskau und Brüssel einigen sich auf Schritte zu einem gemeinsamen Markt von Porto bis Vladivostok. Ein solches Szenario für das Jahr 2020 hätte noch 2005 nicht als utopische Träumerei gegolten. Doch längst verhallt ist solche Zukunftsmusik.

Heute sieht Russland die EU als Gegner an und beklagt Einmischung in innere Angelegenheiten. Seit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine herrscht Entfremdung zwischen Russland und dem Westen. Moskau bekennt sich nicht mehr zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, zu universal gültigen Rechten des Individuums. Als Modernisierungspartner sieht Russland nicht mehr Deutschland oder die EU an, sondern China.

Ähnlich die Türkei. Als NATO-Mitglied ist sie seit 1952 sicherheitspolitisch Teil des Westens. 2002 trat die AKP unter Recep Tayyip Erdoğan an, die säkularen Eliten Ankaras und Istanbuls mit der konservativ-islamischen Bevölkerungsmehrheit Anatoliens zu versöhnen und die Türkei in die EU zu führen. Seit der Niederschlagung der Proteste im Gezi-Park 2013 und endgültig seit den Säuberungen nach dem Putschversuch 2016 ist davon nichts mehr übrig. Obwohl – oder gerade weil – die gesellschaftliche Basis für eine pluralistische Demokratie deutlich besser entwickelt ist als in Russland, verfolgt das Erdoğan-Regime vermeintliche Gegner mit noch mehr Willkür und Härte. Wurden die bürgerlichen Freiheitsrechte in Russland über 20 Jahre schrittweise eingeschränkt, so geschah dies in der Türkei quasi über Nacht.

Doch nicht nur gleicht sich die Entwicklung, die Russland und die Türkei genommen haben. Moskau und Ankara beschwören darüber hinaus ihre Nähe. Es gebe eine gemeinsame Geschichte und gemeinsame Ziele. Was ist dran an dieser Behauptung? Wie ähnlich sind sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft der beiden Staaten? Erwachsen aus analogen Strukturen auch gemeinsame Interessen, gar Potential für eine feste Partnerschaft? Oder handelt es sich bei dem Bündnis um eine fragile Koalition zweier Konkurrenten, die kaum mehr verbindet als das Interesse, sich vom Westen abzugrenzen und diesen zugleich für Übel aller Art verantwortlich zu machen? Diesen Fragen gehen die 23 Studien dieses Bandes nach.

Tatsächlich fallen historische Parallelen auf. Beide Staaten entstanden aus Großreichen am Rande Europas. Als die Ideen der Aufklärung im Osmanischen Reich und im Russischen Zarenreich angelangten, begann ein 100-jähriges Ringen zwischen Anhängern der Tradition und Befürwortern einer nachholenden Modernisierung. Die in der Französischen Revolution formulierte Idee der Volkssouveränität beförderte überall in Europa die Entstehung nationaler Bewegungen. Während das Osmanische Reich in Südosteuropa bereits im 19. Jahrhundert bröckelte, gelang es dem Zarenreich, die Nationalbewegungen zu unterdrücken. Beide Reiche implodierten im Ersten Weltkrieg.

Die Türkei konstituierte sich als homogener Nationalstaat – der sie auch nach Ermordung, Vertreibung und Aussiedlung Hunderttausender Menschen faktisch nie war. Die Sowjetunion sah sich zunächst als Keimzelle eines weltumspannenden Vielvölkerstaats. Die Türkei wollte endlich ein europäischer Staat sein, die Sowjetunion das bürgerliche Europa hinter sich lassen und in die kommunistische Zukunft schreiten. Der gesellschaftspolitische Systemgegensatz war das eine – aber er besagt nichts über die politische Ordnung: Auch die Türkei Kemal Atatürks war eine Diktatur, wenngleich keine totalitäre wie die stalinistische Sowjetunion. Nach dem Zweiten Weltkrieg standen sich die beiden Staaten auf verschiedenen Seiten des Eisernen Vorhangs gegenüber. Selbst nach dem Ende des Ost-West-Konflikts blieb das Verhältnis kühl. Während die Türkei lange eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union anstrebte, schwelte unter der Decke der strategischen Partnerschaft zwischen Brüssel und Moskau schon seit den 1990er Jahren eine Integrationskonkurrenz um Einfluss in Ostmitteleuropa.

Heute teilen die Regime in Moskau und Ankara gewisse Ziele und Interessen. Ihre Weltsicht ähnelt sich – und stimmt doch nicht gänzlich überein. Dies ermöglicht durchaus Kooperation. Auch autoritäre Staaten können im Namen eines höheren Interesses Differenzen ausblenden. So haben Ankara und Moskau gemeinsame Projekte im Energiebereich in Gang gebracht. Die Türkei bezieht Erdgas aus Russland. Ab Ende 2019 soll über eine Pipeline durch das Schwarze Meer Erdgas aus Sibirien nach Italien und Südosteuropa gelangen. Seit 2016 baut Atomstrojėksport an der türkischen Mittelmeerküste das erste kommerziell betriebene Atomkraftwerk Akkuyu. Diese Küste ist auch Schauplatz einer ganz anderen türkisch-russischen Verbindung, dem explodierenden Massentourismus.

Auch jenseits der Ökonomie haben Moskau und Ankara einen modus vivendi gefunden, um bei gegensätzlichen Interessen zu einer kompetitiven Kooperation zu gelangen. Dies gilt für den internationalisierten Bürgerkrieg in Syrien, wo beide Staaten als Kriegspartei andere Seiten unterstützen. Und es gilt für den Südkaukasus.

Gleichwohl spricht vieles dafür, dass die Ursprünge und Elemente der autoritären Herrschaft auch einer stabilen Kooperation zwischen autoritär geführten Staaten im Wege stehen. Die Regime in Moskau und Ankara sind durch Intransparenz und Informalität gekennzeichnet, sie setzen auf die gewaltsame Durchsetzung von Interessen statt auf die Aushandlung von Kompromissen im Rahmen von Gesetzen. Da sie über die Mobilisierung von Feindbildern Legitimität zu gewinnen versuchen, ist es nur ein kurzer Schritt von inniger Verbundenheit zur Hetzkampagne. In aller Deutlichkeit zeigte sich dies, nachdem die Türkei im November 2015 im syrisch-türkischen Grenzgebiet einen russländischen Kampfbomber abgeschossen hatte.

Angesichts der zentralisierten und personalisierten Regime, welche die Gewaltenteilung aufgehoben und die Trennlinie zwischen Staat und Wirtschaft verwischt haben, bedurfte es einer persönlichen Entschuldigung Erdoğans bei Putin, damit nach dem Zerwürfnis wegen des Abschusses Touristen aus Russland wieder Urlaub an der türkischen Riviera buchen konnten. Die Beziehungen beider Staaten zum Westen, zur Europäischen Union, zu Deutschland, sind indes wohl nicht mit einem Federstreich des starken Mannes an der Spitze wieder zu reparieren. Zu tief hat die Propaganda in den Gesellschaften der Türkei und Russlands das Selbstbild als Opfer des Westens verankert, dessen vorgeblich universalistische Normen nur darauf zielten, die Eigenständigkeit der russischen und der türkischen Zivilisation und Kultur zu untergraben.

Berlin, im Dezember 2018                                   Manfred Sapper, Volker Weichsel