Gefährliche Situation im Donbass

Nikolay Mitrokhin

Die militärische Lage am 24. Mai 2022

Drei Monate dauert nun Russlands Krieg gegen die Ukraine. Seit dem Ende der zwölften Woche gibt es Anzeichen für eine Wende zuungunsten der Ukraine. Der Vorstoß der ukrainischen Streitkräfte zur Befreiung der besetzten Landstriche im Norden des Gebiets Charkiv ist weitgehend zum Erliegen gekommen. Russland hat seine Truppen in den Siedlungen entlang der Straße von Charkiv nach Belgorod verstärkt und beschießt nach einigen Tagen Unterbrechungen von dort erneut die ostukrainische Großstadt, insbesondere das bereits zuvor stark getroffene Wohngebiet Sativka im Nordosten von Charkiv.

Im Abschnitt bei Izjum sind die russländischen Truppen weiter in Richtung Slovjans’k vorgerückt und nehmen nun die ukrainischen Stellungen auf den Hügeln in direktem Feuer unter Beschuss. Dort ist die Lage der ukrainischen Streitkräfte jedoch bislang nicht kritisch.

Anders weiter südlich bei Lyman. Dort haben die russländischen Truppen seit Anfang April versucht, die ukrainische Armee vom linken Ufer des Sivers’kyj Donec‘ zu verdrängen. Dies ist nun nahezu gelungen, im knapp 20 Kilometer nordöstlich von Slovjans’k gelegenen Lyman finden Straßenkämpfe statt.

Weiter östlich versuchen russländische Truppen weiter, an mittlerweile nicht mehr ausreichend von ukrainischen Truppen gesicherten Stellen über den Sivers’kyj Donec‘ zu gelangen. Zwar haben die ukrainischen Verteidiger bei Serebrjanka mindestens eine weitere Ponton-Brücke zerstört und den angreifenden Truppen ernsthafte Verluste zugefügt. Gleichwohl sind offensichtlich russländische Trupps in Richtung der Verbindungsstraße zwischen Severodonec’k und Bachmut vorgestoßen, wo sich das Zentrum jenes Teils des Donbass befindet, der bislang unter Kontrolle der ukrainischen Streitkräfte steht. Von der anderen Seite dringen neue russländische Einheiten aus Popasna in Richtung dieser Verbindungsstraße und auf Bachmut vor. Die Lage für die ukrainischen Brigaden, die die Großstädte Severodonec’k und Lysyčans’k (vor dem Überfall Russlands je rund 100 000 Einwohner) verteidigen, ist kritisch, denn ihre Versorgung hängt von dieser Straße ab, die mittlerweile unter Artillerie- und teilweise offensichtlich auch unter Granatwerferbeschuss liegt. Der ukrainische Präsident Zelens'kyj spricht von einer „schwierigen“ Lage. Konkret droht dort eine Einkreisung der ukrainischen Truppen.

All dies zeugt davon, dass die russländische Armee ihr Vorgehen geändert hat. Sie hat zumindest vorübergehend die Strategie einer großräumigen Einkreisung der ukrainischen Verbände im Osten des Landes aufgegeben und setzt sich jetzt taktische Ziele, die den nicht allzu großen zur Verfügung stehenden Kräften entsprechen. Nach Angaben des Leiters der Gebietsverwaltung von Luhans’k hat Russland in der Gegend von Popasna und Lysyčans’k rund 20 taktische Bataillonsgruppen mit je 500 Mann zusammengezogen. Mit diesen 10 000 Mann kann die ukrainische Verteidigungslinie voraussichtlich auf Dauer durchbrochen werden.

Dies ist der Kern der neuen Taktik: ausreichend Truppen für ein erreichbares Ziel an einem engen Frontabschnitt zu versammeln und für deren Nachschub zu sorgen. Die ukrainische Armee muss darauf rasch reagieren, indem sie an den Stellen des Angriffs rasch eigene Truppen zusammenzieht und mit neuen Kräften an anderen Stellen Gegenangriffe startet. Hier zeichnen sich allerdings Schwierigkeiten ab. Die Ukraine hat zwar mit Erfolg eine Mobilisierung durchgeführt, die Truppenstärke der Armee hat sich verdoppelt. Gleichzeitig hat sich im Vergleich zum März, als Russland noch große Gebiete im Norden des Landes besetzt hielt und Kiew bedrohte, die Länge der Front halbiert. Unklar ist, wo die neuen Verbände sind. Bereiten sie einen Gegenangriff im Juli vor, wie es einige Beobachter vermuten, oder füllen sie jene Lücken auf, die entstehen, weil die Truppen im Einsatz bei den Kämpfen schrittweise aufgerieben werden, etwa bei erfolglosen Gegenangriffen in der Nähe von Huljaj-Pole und Izjum, wie es russländische Quellen behaupten? Der ukrainische Präsident kritisierte am 22.5. in einer Ansprache eine Petition gegen das Ausreiseverbot für wehrfähige Männer und sprach in diesem Zusammenhang von 50-100 Männern, die jeden Tag im Kampf fallen würden. Der ukrainische Kommandeur im Frontabschnitt bei Mykolaiv erklärte, für einen Angriff zur Befreiung von Cherson bedürfe es einer Überlegenheit von mindestens 3:1. Die tatsächliche Truppenstärke ist jedoch ausgeglichen.

Nach Angaben von Zelens'kyj ist die Ukraine im Frontabschnitt bei Donec’k bei schwerem Militärgerät im Verhältnis 1:20 unterlegen. Wie sich die Lage an anderen Abschnitten darstellt, ist unbekannt. Offensichtlich ist, dass aus dem Westen zu wenig militärische Unterstützung in die Ukraine gelangt. Vor allem bei den von Deutschland versprochenen Waffen gibt es immer neue Verzögerungen. Einiges deutet darauf hin, dass die großen EU-Staaten darauf setzen, dass die Ukraine in nicht allzu ferner Zeit einen Waffenstillstand mit Russland vereinbart. Dies ist eine Fehlkalkulation. Der Krieg wird sich mindestens ein weiteres Jahr hinziehen. Soll die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren, bedarf es nicht zuletzt auch in der EU großer Ausgaben für die Produktion von Waffen und Munition – für die unmittelbare Kriegsführung, zur Auffüllung der Bestände und zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeiten der ostmitteleuropäischen Staaten. Ernsthafte Vorbereitungen für eine solche finanzielle Mobilisierung sind jedoch nicht zu beobachten.

Größeren Handlungsdruck schafft die Lage auf dem globalen Lebensmittelmarkt, die Russland durch die Blockade der ukrainischen Häfen immer weiter verschärft. Militärisch gesehen hat diese Blockade wenig Sinn, da die Ukraine über keine Flotte verfügt und Waffen auf dem Landweg in die Ukraine geliefert werden. Mit der Frage des Weizenexports hängen die Kämpfe um die an der Schifffahrtsroute von Odessa in Richtung Mittelmeer gelegenen Insel Zmejnyj zusammen, die seit Ende Februar von Truppen der russländischen Schwarzmeer-Flotte gehalten wird. Dänemark hat nun beschlossen, der Ukraine Seezielflugkörper vom Typ Harpoon zu liefern, die Schiffe aus einer Entfernung von 200-300 Kilometern treffen und von der Ukraine zur Durchbrechung der Seeblockade eingesetzt werden können. Die USA bereiten die Lieferung von Patriot-Luftabwehrraketen an die Ukraine vor, die zum Schutz von Häfen eingesetzt werden können. Eine mögliche Entwicklung ist, dass ukrainische Handelsschiffe unter Kontrolle und Begleitschutz der türkischen Flotte Weizen auf den Weltmarkt bringen werden. Kommt es nicht zu einem solchen Kompromiss, sind ukrainische Raketenangriffe auf russländische Schiffe im Hafen von Sevastopol‘ eine nicht unwahrscheinliche Entwicklung. Russland hat dort in den vergangenen Tagen bereits zusätzliche Einheiten des Luftabwehrsystems S-400 stationiert. Der nordwestliche Teil des Schwarzen Meers könnte somit neben dem Donbass zu einem weiteren wichtigen Schauplatz dieses Krieges werden.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.