Alle Zeichen auf Angriff
Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 165. Kriegswoche
Nikolay Mitrokhin, 19.5.2025
Russland hat sich nicht auf den Friedensplan der USA eingelassen. Dieser kam Moskau weit entgegen, doch der Kreml erhebt Forderungen, die am Verhandlungstisch nicht zu erreichen sind. Daher will Russland die annektierten Gebiete mit einer neuen Großoffensive vollständig unter seine Kontrolle bringen. Wenn der Westen die Unterstützung der Ukraine ernst nimmt, kann dieses Ziel vereitelt werden.
Die von US-Präsident Donald Trump Ende Februar 2025 angestoßenen Verhandlungen über eine Beendigung des Kriegs in der Ukraine sind gescheitert. Die Weigerung Putins, zu Gesprächen mit dem ukrainischen Präsidenten Zelens’kyj nach Istanbul zu reisen, haben dies endgültig gezeigt. Moskau will keine 30-tägige Waffenruhe, wie sie die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer vorgeschlagen hatten. Russland bereitet vielmehr eine große Sommeroffensive vor. Gleichwohl trafen in Istanbul erstmals seit langer Zeit hochrangige Militärs und Vertreter beider Präsidialadministrationen zusammen. Die Positionen beider Seiten sind jedoch vollkommen unvereinbar. Daher wurde nur über einen Gefangenenaustausch verhandelt. Tatsächlich haben beide Seiten eine Überstellung von je 1000 inhaftierten Soldaten vereinbart. Dies ist zwar der größte Austausch in dem seit mehr als drei Jahren andauernden Krieg, aber keineswegs der erste.
Gleichzeitig wurde offenbar auch über einige technische Fragen gesprochen. Zelens’kyj erklärte zwar, die Besetzung der Moskauer Delegation sei „lächerlich“. Doch die Emissäre wurden bei einer Sitzung am späten Abend des 14. Mai instruiert, bei der Russlands informeller „Verteidigungsrat“ zusammenkam: neben Putin der Sekretär des Sicherheitsrats Sergej Šojgu, der stellvertretende Ministerpräsident Denis Manturov, Putins Außenpolitikberater Jurij Ušakov, Verteidigungsminister Andrej Belousov, Außenminister Sergej Lavrov, der Chef des Geheimdiensts FSB Aleksandr Bortnikov, der Direktor des Militärgeheimdiensts SVR Sergej Naryškin, der Leiter der Nationalgarde Viktor Zolotov, Generalstabschef Valerij Gerasimov sowie die Kommandeure aller sieben an der Front eingesetzten Armeegruppen. Die Delegation brachte also nicht nur Verlautbarungen mit – wie jene ihres Leiters Vladimir Medinskij, dass Russland auch bereit sei, wie im Krieg mit Schweden im frühen 18. Jahrhundert 21 Jahre lang zu kämpfen – sondern offenbar auch konkrete militärische Forderungen.
Das größte Hindernis für Gespräche über einen Waffenstillstand ist Russlands Forderung, dass die Ukraine ihre Truppen aus jenen Teilen der vier von Russland im September 2022 annektierten ukrainischen Gebiete Luhans’k, Donec’k, Cherson und Zaporižžja zurückziehen müsse, die sie noch hält. Gemessen an der Geschwindigkeit, mit der Russlands Okkupationsarmee gegenwärtig vorrückt, muss Russland tatsächlich noch 18 Jahre kämpfen, um nach 21 Jahren Krieg dieses Ziel zu erreichen. Nahezu unerreichbar ist heute insbesondere eine Einnahme des am rechten Dnipro-Ufer gelegenen Teils des Gebietes Cherson, aus dem die ukrainische Armee die Besatzungstruppen im November 2022 vertrieben hatte. Daher ist gerade der Anspruch auf dieses Territorium absurd und wird ganz offensichtlich von Moskau eingesetzt, um durch die Rücknahme dieser Forderung andere Ziele zu erreichen. Zur Erinnerung: Die von den USA vorgelegte Skizze für Friedensgespräche sieht keinen Rückzug der ukrainischen Truppen vor, sondern einen Waffenstillstand an der gegenwärtigen Frontlinie.
Der Forderungskatalog, mit dem Russland momentan auftritt, sieht jedoch so aus:
- die Ukraine muss einen neutralen Status akzeptieren;
- die Stationierung ausländischer Soldaten sowie von Massenvernichtungswaffen auf ukrainischem Gebiet wird verboten;
- die Ukraine verzichtet auf Reparationsforderungen an Russland;
- die Ukraine erkennt den Verlust der Krim und der vier genannten Gebiete an;
- die ukrainische Armee wird aus diesen Gebieten abgezogen, diese werden unter die Kontrolle Russlands gestellt;
- die Krim sowie die vier Gebiete werden international als Teil Russlands anerkannt.
Führt auch das für den 19. Mai angesetzte trilaterale Gespräch zwischen Zelens’kyj, Putin und Trump zu nichts, so wird Russland aller Voraussicht nach versuchen, seine Ziele mit einer neuen Großoffensive zu erreichen.
Russlands Offensivplan
Moskau bereitet eine große Offensive vor, die im Juni oder sogar noch früher beginnen soll. Dies behaupten nicht nur russische Militärblogger, auch die ukrainische Militäraufklärung erklärt, dass sie über Hinweise auf ein solches Vorhaben verfüge. Für den baldigen Beginn einer solchen Offensive spricht, dass die Okkupationstruppen seit Wochen nur noch vereinzelt angreifen und stattdessen offenbar Waffen sowie Soldaten für einen Großangriff in Stellung bringen. Ziel der Offensive sind nach vorliegenden Erkenntnissen die Gebiete Charkiv und Sumy. Ziel könnte es sein, die seit langem angekündigte, 20–30 Kilometer tiefe „Sicherheitszone“ auf ukrainischem Gebiet zu schaffen. Sollten die Okkupationstruppen jedoch rasch vorrücken, werden sie kaum an einer vorher ausgegebenen Linie anhalten, sondern den Vormarsch fortsetzen und etwa versuchen, die 30 Kilometer von der Grenze entfernte Stadt Sumy oder die zu Beginn des Krieges okkupierten, im August und September aber wieder an die Ukraine gefallenen Landstriche im Nordosten des Gebiets Charkiv einzunehmen.
Die ukrainische Armee scheint diese Bedrohung sehr ernst zu nehmen und errichtet offenbar in einigem Abstand zur Grenze Verteidigungsstellungen. Dieser Abstand ist notwendig, damit Russland die Bauarbeiten nicht durch Artilleriebeschuss zum Erliegen bringen kann. Tiefer als ca. 15 Kilometer wird Russland daher an diesen Stellen bei der zu erwartenden Offensive kaum auf ukrainisches Gebiet vorstoßen können. Ähnliche Versuche waren bereits im Jahr 2024 nach maximal 15 Kilometern zum Erliegen gekommen. In großer Gefahr ist jedoch die Stadt Kup’jans’k im Nordosten des Gebiets Charkiv, die Russland bereits seit einem halben Jahr von zwei Seiten belagert. Ebenso ist es möglich, dass Moskau seine Angriffe an jenen Frontabschnitten in den Gebieten Donec’k und Zaporižžja intensiviert, wo die ukrainische Armee bereits heute in großen Schwierigkeiten steckt.
Russland hat offenbar für eine solche Offensive ausreichend Soldaten. Nach einer offenbar erfolgreichen neuen Einberufungsrunde wurden die Einmalzahlungen für neu angeworbene Söldner in vielen Regionen Russlands im Frühjahr stark gesenkt. Zwar sind nach gegenwärtigen Erkenntnissen keine neuen Soldaten aus Nordkorea nach Russland geschickt worden. Doch die Ukraine nimmt immer mehr Söldner aus Zentralafrika in Gefangenschaft. Offenbar kämpfen auch Kubaner auf der Seite Russlands.
Da die Besatzungsarmee seit einigen Monaten immer seltener versucht, mit größeren Kolonnen gepanzerter Fahrzeuge die ukrainischen Verteidigungsstellungen einzunehmen, haben sich die Materialverluste deutlich verringert. Bei gleichbleibender Produktion neuer Fahrzeuge bedeutet dies, dass die Besatzer bei der wohl anstehenden Offensive über mehr Ausrüstung verfügen werden, als dies bei früheren Durchbruchsversuchen der Fall war.
Russland hat mittlerweile auch beim Einsatz von Drohnen Fortschritte gemacht. Dies gilt sowohl für die im unmittelbaren Kampfgebiet eingesetzten Drohnen als auch für die schweren Angriffsdrohnen, die Ziele tief im ukrainischen Hinterland zerstören sollen. Die Okkupationsarmee setzt ukrainischen Quellen zufolge an einigen Frontabschnitten heute in gleichem Umfang FPV-Drohnen ein, wie dies die Ukraine tut. Entsprechend haben die Kiewer Truppen beim Transport von Munition, Granaten, Lebensmitteln und Wasser an die vorderste Frontlinie nun dieselben Probleme, die sie seit Monaten dem Gegner bereiten. Auch die Evakuierung von Verletzten wird immer schwieriger. Hätten FPV-Drohnen bis vor einiger Zeit in einem Streifen von sechs Kilometern hinter der Frontlinie ein große Gefahr dargestellt, so ist diese Todeszone den Aussagen eines ukrainischen Kommandeurs zufolge mittlerweile 15 Kilometer breit.
Russlands schwere Angriffsdrohnen vom Typ Geran‘ können heute in größerer Höhe und mit höherer Geschwindigkeit fliegen. Vor dem unmittelbaren Angriff werden sie mit Hilfe neuerer Entwicklungen der Computertechnologie („künstliche Intelligenz“) zu Schwärmen versammelt, deren Angriffe von den bestehenden Luftverteidigungssystemen immer schwerer abgewehrt werden können. Zudem können diese Drohnen heute fast 100 Kilogramm Sprengstoff transportieren, zu Beginn des Krieges waren es noch um die 50 Kilogramm. Schließlich konnte Russland offenbar auch die Produktion steigern. In der Nacht auf den 18. Mai hat Moskau nach Angaben der ukrainischen Luftverteidigung mehr Drohnen eingesetzt als jemals zuvor seit der Ausweitung des Kriegs im Februar 2022. Von 273 Flugobjekten seien 88 abgeschossen und weitere 128 von ihrem Weg abgebracht worden. Dies bedeutet, dass selbst nach offiziellen ukrainischen Angaben in einer Nacht rund 60 Drohnen ihr Ziel erreicht haben. Bei früheren Angriffen hatte die Ukraine maximal 15–20 Einschläge bestätigt.
Erstmals seit vielen Monaten drangen Drohnen auch wieder in den Westen der Ukraine vor und griffen Ziele in Luc’k an. Solche Attacken waren zuvor wohl mit Hilfe der an die Ukraine übergebenen F-16-Kampfflugzeuge abgewehrt worden. Am 17. Mai stürzte jedoch ein solches Flugzeug – bereits das dritte seiner Art – beim Einsatz gegen die herannahenden Drohnen ab. Nach der Zerstörung der dritten Drohne seien technische Schwierigkeiten aufgetaucht, nach der Zerstörung der vierten musste der Pilot sich über den Schleudersitz retten. Dies bedeutet, dass die Energieinfrastruktur sowie Rüstungsunternehmen im Westen der Ukraine wieder größerer Gefahr ausgesetzt sind. Gelingt es der Ukraine nicht, ein Mittel gegen diese neue Bedrohung aus der Luft zu finden, werden diese Drohnen bald ein wesentliches größeres Problem darstellen, als sie es in den vergangenen drei Kriegsjahren waren.
Die ukrainische Verteidigung
Die Ukraine versucht, den Angriffen der Okkupationsarmee unter Preisgabe der am stärksten unter Druck stehenden Stellungen standzuhalten und dem Gegner dabei größtmögliche Verluste zuzufügen. Um Kräfte der Okkupationsarmee an anderen Orten zu binden, setzt Kiew auf eine Ausweitung der Front durch Angriffe auf russländisches Staatsgebiet. Diese Strategie ist in der ukrainischen Armee selbst umstritten, werden für sie doch eigene Kräfte abgezogen, die im Osten des Landes dringend benötigt werden. Zumal gab es mehrfach Befehle zum Angriff an Stellen, wo Russland offen erkennbar die Grenze bereits gut gesichert hatte. Aus diesem Grund ist Mitte Mai der Kommandeur der 47. mechanisierten Brigade Oleksandr Šyršyn zurückgetreten, die an der Grenze zu Russland im Bereich des Gebiets Belgorod eingesetzt ist. Šyršyn ist aufgrund seines Auftretens in den sozialen Medien in der Ukraine bekannt und beliebt. Dort hat er auch dem Generalstab vorgeworfen, sinnlose Angriffe anzuordnen und erklärt, er hoffe, bei zukünftigen Attacken würden in den Sturmtruppen die Söhne der entsprechenden Generäle eingesetzt. Das Verteidigungsministerium reagierte mit der Einsetzung einer Kommission, die den Vorwürfen nachgehen soll.
Auch wenn die Ukraine in schwieriger Lage ist und daher einen Waffenstillstand gesucht hat, ist das Land weiter in der Lage, mit Hilfe seiner Verbündeten die Verteidigung fortzusetzen. Diese Hilfe kann vielerlei Gestalt annehmen. Die USA können versuchen, sich mit China darauf zu verständigen, dass Peking die Transportwege für jene Güter schließt, auf die Russlands Rüstungsindustrie angewiesen ist. Die Staaten der Europäischen Union können unabhängig davon mit schärferen Kontrollen den Export von Gütern verhindern, die über die postsowjetischen Staaten nach Russland gelangen. Eine große Rolle spielen die zentralasiatischen Staaten sowie die Türkei und die südkaukasischen Länder. Gerade erst wurde aufgedeckt, dass Russland via Georgien zwischen Februar 2022 und Januar 2025 mehr als 2000 große Baumaschinen aus der EU und den USA eingeführt hat, die etwa bei der Errichtung von Verteidigungsanlagen, beim Bau von Rüstungsbetrieben oder bei der Schaffung von Infrastruktur in den besetzten ukrainischen Gebieten eingesetzt werden. Das schärfste Schwert wären jedoch Sanktionen, die Russlands Einnahmen aus dem Ölexport massiv verringern. Dazu müsste dieser Export nicht einmal unterbunden werden. Es würde reichen, den Ölpreis in Absprache mit den OPEC-Staaten für eine befristete Zeit auf 30–35 Dollar zu drücken. Solche Sanktionen – und nicht die Ankündigung immer neuer „Pakete“, die sich gegen weitere 32 Personen oder weitere 100 Tanker richten – würden der ohnehin Anzeichen von Schwäche zeigenden russländischen Volkswirtschaft tatsächlich einen schweren Schlag versetzen. Ganz unabhängig davon können die westlichen Staaten der Ukraine mit weiteren Waffen helfen – mit Raketen, Luftabwehrsystemen, Panzern und gepanzerten Fahrzeugen sowie mit Kampfflugzeugen, mit denen Kiew zumindest den Luftraum der westlichen und zentralen Landesteile sichern kann, wo die Ukraine mittlerweile auch mit mehr Nachdruck eine eigene Rüstungsindustrie aufbaut. Die bloße Hoffnung jedenfalls, dass Putin sich doch noch auf die Vorschläge der USA einlässt, wird nicht ausreichen.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.