Alle Zeichen auf Sturm

Vor der ukrainischen Gegenoffensive: die 63. Kriegswoche

Nikolay Mitrokhin, 8.5.2023

Die ukrainische Offensive zur Befreiung besetzter Territorien im Osten und Südosten des Landes steht unmittelbar bevor. Darauf deuten vor allem die Luftangriffe auf Versorgungslinien der Besatzungstruppen hin. Russland evakuiert Besatzungsbehörden und Zivilisten aus dem Gebiet Zaporižžja. Drohnenangriffe, Anschläge und Sabotageaktionen tief in russländischem Gebiet verstärken die Unsicherheit. Die Spannung zeigt sich am offenen Konflikt zwischen dem Chef der „Wagner“-Truppen Prigožin und dem Moskauer Verteidigungsministerium.

Die vollständige Erschöpfung der Offensivkräfte und der täglich erwartete Gegenangriff der Ukraine führen zu starken Spannungen unter den russländischen Kampftruppen. Die angebliche Privatarmee „Wagner“ hat trotz massiver Überlegenheit sowohl bei der Anzahl der Soldaten als auch bei Militärgerät aus allen Waffengattungen einschließlich der Luftstreitkräfte, insbesondere aber bei der Artillerie, und trotz der Verfügung über eine riesige Zahl von entrechteten Soldaten, die in den „Fleischwolf“ geworfen werden konnten, in einem seit mehr als acht Monaten andauernden Kampf die Kreisstadt Bachmut nicht einnehmen können. Alleine im Donbass gibt es rund 20 weitere Städte von der Größe Bachmuts, die Russland annektiert hat, die aber unter ukrainischer Kontrolle stehen.

Die Spannungen zeigten sich deutlich an den Auftritten des Wagner-Chefs Evgenij Prigožin. Anfang Mai verkündete dieser, die ihm unterstehenden Truppen seiner „Privat“-Armee würden bis zum 10. Mai wegen der hohen Verluste und der zum 1. Mai vom russländischen Verteidigungsministerium eingestellten Munitionslieferungen aus Bachmut abgezogen. Eine offene Auflehnung eines Militärführers, der nach eigenem Gutdünken entscheidet, an welchen Abschnitten seine Truppen kämpfen und wo sie sich zurückziehen, hat es in Russlands Armee seit 100 Jahren nicht gegeben. 1920 hatte Lev Trockij eigenmächtige Kommandeure der Roten Armee erschießen lassen.

Nach Prigožins Äußerung erklärte der tschetschenische Republiksführer Ramzan Kadyrov, seine Achmat-Miliz würde den Platz der Wagner-Truppen in Bachmut einnehmen. Einige Tage später kündigte Prigožin jedoch an, seine Truppen würden doch weiterkämpfen, weil sein Vorstoß Erfolg gehabt hätte. Das Verteidigungsministerium hätte ihm die unverzügliche Lieferung von Munition und Unterstützung zur Sicherung der Flanken versprochen.

Luftkrieg

Größere Kampfhandlungen fanden in der 63. Kriegswoche überwiegend in der Luft statt. Vor der sich abzeichnenden ukrainischen Offensive intensivierten beide Seiten die Angriffe mit Drohnen und Raketen. Die Attacken gelten neuen und größeren Zielen. Russland greift nicht mehr Kraftwerke, Umspannwerke und Fabriken an, sondern wie bereits in einer früheren Phase des Kriegs Munitions- und Treibstofflager. Die größte Explosion ereignete sich am 30. April in Pavlohrad im Gebiet Dnipropetrovs’k. Dort schlug eine Rakete mit einem Sprengsatz von vier Kilotonnen in ein Lager ein, wo Bauteile alter sowjetischer Raketen und moderne Munition aufbewahrt wurden. Die Videoaufnahmen von der Explosion lassen an eine Atombombenexplosion denken.

Die meisten Luftschläge gegen die Ukraine waren jedoch weiter erfolglos. Russland hat in einer Woche bei mindestens vier Angriffswellen mehr als 50 Drohnen „Geran’-2“ und über ein Dutzend Raketen verschiedener Bauart eingesetzt, und neben der Explosion in Pavlohrad andernorts lediglich zwei Öltanks zerstört.

Es gelang der ukrainischen Luftabwehr sogar, mit Hilfe des gerade erst aus den USA eingetroffenen Patriot-Systems über Kiew eine Kinžal-Rakete abzufangen, gegen die sie zuvor keine Mittel hatte. Offenbar wurde so eine Racheaktion nach dem spektakulären, wenngleich wenig erfolgreichen ukrainischen Drohnenangriff auf den Kreml am 3. Mai vereitelt.

Ukrainische Drohnen hatten bereits in den vergangenen Monaten Russlands Luftabwehr auf die Probe gestellt. Militärischen Nutzen erzielten diese Angriffe zwar nicht, doch dass Drohnen bis in die Gebiete Moskau, Rjazan’ und Tula und einmal sogar bis zur Hauptstadt selbst vorgedrungen waren, hatte einen großen symbolischen Effekt. Für die angegriffene ukrainische Gesellschaft haben solche Angriffe und insbesondere der auf den Kreml eine kaum zu überschätzende große Bedeutung. Russland reagierte auf diese Attacke nicht nur mit der abgefangenen Kinžal-Rakete, sondern auch mit massivem Artilleriebeschuss auf Cherson, bei dem im Laufe von 24 Stunden 23 Menschen starben und zahlreiche verletzt wurden.

Militärischen Nutzen erzielten ukrainische Drohnenangriffe vor allem im Raum Krasnodar, wo Öllager und petrochemische Anlagen angegriffen wurden. Nachdem es den ukrainischen Streitkräften am 29. April gelungen war, die Treibstofflager der russländischen Schwarzmeer-Flotte bei Sevastopol’ auf der Krim zu zerstören, ging in der vergangenen Woche mindestens ein großer Tank auf der Taman-Halbinsel in der Nähe der Krimbrücke in Flammen auf, der zuvor zur Versorgung der in der Straße von Kertsch patrouillierenden Flotte gedient haben könnte. Schaden entstand auch bei mindestens zwei Angriffen auf die Ölverarbeitungsanlagen in der Siedlung Il’skij im Bezirk Krasnodar. Das Ziel ist offensichtlich: Die Treibstoffversorgung für die Schwarzmeer-Flotte und die in den Gebieten Cherson und Zaporižžja stationierten Okkupationstruppen soll entlang sämtlicher Etappen unterbrochen werden. Gelingt dies, verbrauchen die Besatzungstruppen kurz vor Beginn des ukrainischen Angriffs große Teile ihrer Treibstoffvorräte – und bis die Anlagen repariert sind und Nachschub kommt, dauert es. Anders als in Sevastopol’ halten sich die Schäden der beiden anderen Angriffe allerdings in Grenzen.

Wichtige Entwicklungen im Drohnenkrieg gibt es auch an der Front. Die vorgelagerten ukrainischen Truppen haben offenbar mittlerweile derartig viele Kamikaze-Drohnen zur Verfügung, dass sie diese – wie auf zahlreichen Videoaufnahmen zu sehen – zum Angriff auf einzelne Soldaten des Gegners in ihren Schützengräben nutzen. Oder sie werden im Dreierverbund eingesetzt, um ein gepanzertes Transportfahrzeug anzugreifen, indem sie in die geöffnete hintere Klappe gesteuert werden. Die einzige Antwort, die Russlands Truppen bislang gefunden haben, sind „Moskitonetze“ – eine Konstruktion, bei der anderthalb Meter lange Stangen auf die Fahrzeuge geschweißt werden, um diese mit Netzen zu bedecken, in denen Sprengfallen befestigt sind, die anfliegende Drohnen zerstören. Solche Aufbauten machen die Fahrzeuge selbstverständlich für die Aufklärung wesentlich sichtbarer.

Ukrainische Terroranschläge in Russland

Für große Aufmerksamkeit sorgten in der vergangenen Woche ukrainische Terrorangriffe in Russland, insbesondere der Anschlag auf den bekannten Kremlpropagandisten Zachar Prilepin, der zum Kreis der „Kulturschaffenden“ gehört, die unter dem unmittelbaren Schutz des Präsidenten stehen. Bekannt ist er natürlich auch als Kommandeur einer Miliz der „Volksrepublik Lugansk“, der sich vor laufender Kamera des Mordes an Ukrainern brüstete. Im Unterschied zu seinem Fahrer überlebte Prilepin die Explosion der Panzermine unter seinem deutschen Oberklassen-Fahrzeug.

Im Gebiet Brjansk explodierten bei Anschlägen am ersten und zweiten Mai auf zwei Güterzüge Tankwagen mit Benzin und Chemikalien, Dutzende Waggons entgleisten, beim ersten Anschlag wurden die beiden aneinandergekoppelten Lokomotiven zerstört. Im Gebiet Leningrad sprengten ukrainische oder proukrainische Saboteure einen Hochspannungsmast und legten Sprengsätze an drei weitere Masten, die jedoch nicht explodierten.

Die russländische Führung reagiert auf die zunehmende Sabotageaktivitäten mit neuen Gesetzen. Vladimir Putin hat einen Ukaz unterschrieben, mit dem die Höchststrafe für Sabotage auf 20 Jahre angehoben wird. In mindestens sechs FSB-Meldungen heißt es, Mitglieder von Sabotagegruppen seien verhaften worden: auf der Krim, im Gebiet Zaporižžja, im Bezirk Krasnodar, in den Gebieten Tula, Kaluga und Nižnij Novgorod.

Die ukrainische Gegenoffensive

Von beiden Seiten der Front kommen immer mehr Signale, dass der ukrainische Angriff in den nächsten Tagen erfolgen könnte. Die russländischen Besatzungsbehörden haben im Gebiet Zaporižžja mit der Evakuierung begonnen. Nach eigenen Angaben sollen 70 000 Menschen aus der Kampfzone in Sommerlager am Asowschen Meer und in Russland gebracht werden. Das Schuljahr wurde bereits für beendet erklärt, die Kinder sollen in „Pionierlager“ gebracht werden, die von den russländischen Behörden organisiert werden.

In Melitopol‘ haben nach Informationen aus proukrainischen Telegram-Kanälen die russländischen Einrichtungen ihre Arbeit eingestellt, etwa das Büro der Rentenkasse oder die Passstelle. Die Mitarbeiter seien überstürzt auf die Krim gebracht worden und hätten sämtliche Akten, Stempel und sogar Blankopapier für Pässe zurückgelassen. Die Wehrämter wurden geschlossen, die Wachen vor dem Hotel abgezogen, wo zuvor russländische Soldaten untergebracht waren, die Läden einer Lebensmittelkette öffnen nicht mehr, das Büro der Fernmeldebehörde wurde geschlossen. In Enerhodar funktionieren nach Angaben des ukrainischen Bürgermeisters die Bankautomaten nicht mehr, staatliche Einrichtungen haben geschlossen, die Lebensmittel werden knapp und sämtliche sechs Blöcke des AKW Zaporižžja wurden heruntergefahren. Auf der Straße, die auf die Krim führt, stehen LKW und PKW in zwei Reihen in einer fünf Kilometer langen Schlange.

Aus dem besetzten Teil des Gebiets Cherson gibt es keine derartigen Nachrichten.

Auf der ukrainischen Seite werden ähnliche Vorkehrungen getroffen. Bereits vor einigen Wochen wurde die Bevölkerung aus einigen Siedlungen nahe des Dnipro evakuiert. In Cherson gilt vom 5.–8. Mai eine ganztägige Ausgangssperre, sei es, um zu verhindern, dass Fotos von Militärfahrzeugen im Internet auftauchen, sei es, um die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass Menschen bei Artilleriebeschuss sterben.

Der ukrainischen Offensive kommt das Frühjahrshochwasser entgegen. Das Schwemmland am flachen linken Ufer des Dnipro ist südlich des Kachovka-Stausees teilweise überflutet, was es ukrainischen Einheiten erlaubt, auf Flößen die von der russländischen Armee errichteten Minenfelder und Stacheldrahtverhaue zu überqueren.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.