Am anderen Ufer

Nikolay Mitrokhin, 12.11.2023

Ukrainische Erfolge links des Dnipro: die 90. Kriegswoche

Der Ukraine ist es erstmals gelungen, gepanzerte Fahrzeuge über den Dnipro zu bringen. Gelingt es ihr, den Brückenkopf im Gebiet Dnipropetrovs’k zu halten und zu erweitern, eröffnen sich Chancen für eine neue Gegenoffensive im Winter. An anderen Stellen der Front gibt es keine Bewegung mehr. Im Luft- und Seekrieg hat die Ukraine weiter Erfolg bei der Zerstörung von Schiffen in Häfen auf der Krim. Das Abfangen von Raketen und Drohnen wird jedoch immer schwieriger, da Russland mit einfachen Mitteln technisch aufrüstet.

Die Lage an der Front

An weiten Teilen der Front fanden in der 90. Kriegswoche keine größeren Operationen statt. Einzelne Angriffe beider Armeen an zuvor hart umkämpften Abschnitten hatten keinen Erfolg. Bei Avdijivka im Donbass ist die Ukraine an einigen Stellen zum Gegenangriff übergegangen, nördlich der Stadt erzielt Russland kleinere Erfolge und hat einen Bahndamm überschritten.

Wichtigste Ausnahme ist die Gegend um die Siedlung Krynki im Gebiet Dnipropetrovs’k. Dort erzielt die Ukraine am linken Ufer des Dnipro Fortschritte. Russländischen Quellen zufolge hat die ukrainische Armee begonnen, gepanzerte Fahrzeuge über den Fluss zu bringen. Dies zeigt, dass der zuvor geschaffene Brückenkopf mittlerweile groß genug ist, um solches Gerät vor Angriffen zu verstecken. Darüber hinaus hat die Ukraine die südlich der Siedlung gelegenen Waldstreifen unter ihre Kontrolle gebracht.

Dies ermöglicht es, den Brückenkopf besser zu verteidigen, wenn die russländische Armee versuchen wird, diesen zu beseitigen. Der Angriff auf diese ukrainischen Stellungen wird früher oder später kommen, denn Russlands Armeeführung wird sich kaum mit solchen ukrainischen Nestern am linken Dnipro-Ufer abfinden, die zum Ausgangspunkt für eine größere ukrainische Gegenoffensive im Winter 2023/2024 werden können. Gegenwärtig beschießt Russland die ukrainischen Stellungen in Krynki mit dem Mehrfachraketenwerfer TOS-1 „Solncepek“. Die Reichweite der mit thermobarischen Sprengköpfen bestückten Raketen ist allerdings nicht sehr groß, so dass die Ukraine gute Chancen hat, dieses teure und nur in geringer Stückzahl vorhandene Gerät zu zerstören.

Russländische Kriegskorrespondenten zeigen sich sehr beunruhigt über die Lage an diesem Abschnitt und fordern, dass die eigenen Truppen verstärkt und besser ausgestattet werden müssen. Die Ukraine habe sogar mit Hubschraubern den Dnipro überquert, was ihr zuvor nicht möglich war. Dies sei ein gefährliches Zeichen, dass die Luftabwehr nicht für die Abdeckung der 300 Kilometer langen Front entlang des Flusses ausreiche.

Beim Versuch, den Brückenkopf auszuweiten, ist allerdings ein ukrainischer Trupp in einen Hinterhalt geraten. Elf Soldaten gerieten in Gefangenschaft. Seit mindestens drei Monaten hat es keinen Bericht über eine solch große Zahl von Männern gegeben, die bei einer einzigen Operation dem Gegner in die Hände gefallen sind. Generell wächst die Zahl der Kriegsgefangenen jedoch, die Ukraine hat die Errichtung eines neuen Lagers angekündigt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der Gefangenenaustausch zum Erliegen gekommen ist. Bis Sommer 2023 hatten die Kriegsparteien monatlich Gruppen von Dutzenden, manchmal bis zu 150 Kriegsgefangene ausgetauscht. Seit drei Monaten findet dies nicht mehr statt, ohne dass es eine öffentliche Diskussion darüber gegeben hätte. Man kann davon ausgehen, dass mit Russlands Beendigung des Getreideabkommens im Juli 2023 ein Großteil der Kontakte abgebrochen ist, die beide Seiten auch während des Kriegs unterhalten hatten.

Einen beachtlichen Erfolg hat die Ukraine nahe der Siedlung Hladkivka im Gebiet Cherson erzielt. Dort gelang es ihr, mit Artilleriebeschuss eine Kolonne von elf mit Munition beladenen Transportern zu zerstören. Die Siedlung liegt nahe einer vom Schwarzen Meer kommenden Überlandstraße 20 Kilometer südöstlich der im Mündungsdelta des Dnipro am linken Ufer des Flusses gelegenen Stadt Hola Prystan’. Bemerkenswert ist nicht nur, dass eine so große Zahl von Fahrzeugen zerstört wurde, sondern insbesondere, dass ukrainische Drohnen so tief im Hinterland der russländischen Verteidigungslinien operieren und Ziele für die Artillerie ausfindig machen können. Dies demonstriert erneut, dass in dieser Gegend Russlands Truppen mit der elektronischen Kampfführung überfordert sind.

Der Krieg auf dem Schwarzen Meer

Am 10. November haben die ukrainische Armee und der Geheimdienst, der für die Lenkung von Seedrohnen zuständig ist, ihren fast zur Regelmäßigkeit gewordenen Wochenangriff auf die russländische Schwarzmeer-Flotte durchgeführt. Im Hafen Uzkaja nahe der Siedlung Černomorskoe am Westufer der Krim wurden zwei schnelle Landungsboote der Klassen „Akula“ (Projekt 1176) und Serna (Projekt 11770) versenkt. Zuerst wurde ein Öllager bei Feodossija mit Drohnen angegriffen, dann fing die russländische Luftabwehr eine Rakete vom Typ Neptun ab, die offenbar auf eine Kaserne in Černomorskoe zielte, dann drangen vier Seedrohnen in das ungeschützte Hafenbecken ein. Die Landungsboote, auf denen sich mindestens auch ein gepanzerter Truppentransporter befand, hatten zuvor der Armee und dem Geheimdienst FSB zum Übersetzen von Truppen auf Inseln im Dnipro-Delta gedient. Es wird damit immer wahrscheinlicher, dass die Ukraine sich dort mit Landungstruppen festsetzt, denn die versenkten Boote waren eingesetzt worden, um genau dies zu verhindern. Auch die Möglichkeiten zur Anlandung am westlichen Ufer der Krim, insbesondere auf der Tarchankut-Halbinsel haben sich für die Ukraine weiter verbessert.

Russland hat am 8. November mit einer Rakete vom Typ Ch-31, die von ukrainischen Radarsystemen kaum erfasst werden kann, einen unter liberianischer Flagge fahrenden Massengutfrachter beschossen, der unweit von Odessa in den Hafen „Južnyj“ einlief, wo er Eisenerz aus der Ukraine aufnehmen sollte. Die von den Philippinen stammenden Männer der Besatzung wurden verletzt, der Lotse starb. Nach Angaben des ukrainischen Infrastrukturministeriums war dies bereits der 21. gezielte Angriff Russlands seit Moskaus Ausstieg aus dem Getreideabkommen. Insgesamt wurden seit Ende Juli 160 Hafenanlagen und -gebäude beschädigt oder zerstört. Dies war allerdings der erste Angriff auf ein Schiff, das nicht unter ukrainischer Flagge fuhr. Man muss die Attacke als Warnzeichen an alle Reeder verstehen, die Schiffe über den küstennahen Korridor ohne russländische Kontrolle schicken wollen, den die Ukraine im August öffnen konnte.

Luftschläge

Russland greift weiter mit Raketen und Drohnen militärische und zivile Infrastruktur in der Ukraine an. In der Nacht auf den 11. November erstmals nach zwei Monaten auch wieder ein Ziel im Gebiet Kiew. Die Ukraine gibt ab, die in ballistischer Flugbahn fliegende Rakete vom Typ „Iskander“ abgeschossen zu haben, Russland spricht davon, dass ein Munitionslager zerstört worden sei. Ukrainische Fotos, die drei Gebäude mit großen Schäden von umherfliegenden Gegenständen zeigen, lassen die Moskauer Angaben wahrscheinlicher erscheinen.

Generell sinkt die Rate der abgefangenen russländischen Raketen und Drohnen weiter. Das Kommando der Luftstreitkräfte gibt an, in dieser Nacht 19 von 31 Angriffsdrohnen abgefangen zu haben, die Ziele im Osten und Süden der Ukraine attackieren sollten. In der gleichen Nacht hat Russland jedoch auch Angriffe mit Raketen vom Typ CH-31, P-800 Oniks und S-300 lanciert. Diese werden in der Pressemeldung nicht erwähnt.

Eine andere für die Ukraine schlechte Nachricht gab ein Vertreter der Luftstreitkräfte jedoch bekannt. Russland könne seine MiG-31k-Kampfflugzeuge – die aus großer Entfernung Luft-Boden-Raketen auf Ziele in der Ukraine feuern – jetzt in der Luft betanken. Zuvor seien sie aufgestiegen und hätten nach Abschuss der Raketen wieder landen müssen. Der Luftalarm verlängere sich dadurch von früher durchschnittlich 20 Minuten auf zweieinhalb Stunden.

Zudem vermelden ukrainische Spezialisten der elektronischen Kampfführung, die in Russland gebauten Shahed-Drohnen unterschieden sich von den aus dem Iran importierten dadurch, dass sie über ein neues Steuerungssystem mit Bauteilen aus China verfügten. In einigen seien GPS-Empfänger mit 850 Kanälen eingebaut, auf diese Weise könnten sämtliche Codefolgen empfangen werden. Diese Bauteile seien auf dem chinesischen Amazon-Gegenstück Aliexpress für nur 500 Dollar zu erhalten. Außerdem seien die neuen Empfangsmodule besser gegen die Wirkung von Störsendern geschützt. Die Shahed-Drohnen könnten daher nun schlechter als zuvor mittels elektronischer Kampfführung vom Himmel geholt werden und müssten abgeschossen werden – was ebenfalls viel schwieriger geworden ist, da die russländischen Programmierer in die Flugbahn gezielt Finten einbauen und daher die genaue Flugrichtung lange nicht erkennbar ist.

Die Ukraine versucht im Angesicht des nahenden Winters fieberhaft, ihre Luftabwehr zu verbessern und umzustellen. Es geht um den Ersatz der sowjetischen Systeme, für die es keine Raketen mehr gibt. Der Sprecher der Luftstreitkräfte Jurij Ihnat hat erklärt, die Ukraine würde ein drittes Patriot-System erhalten, ebenso weitere Systeme vom Typ IRIS-T, NASAMS und Hawk. Wann diese allerdings eintreffen würden, sagte er nicht. Aus Litauen sind tatsächlich in der ersten Novemberwoche mobile Abschussrampen des norwegischen NASAMS-Systems eingetroffen.

Die andere Hoffnung der Ukrainer sind weitere westliche Kampfflugzeuge. Einige befinden sich bereits im Land, an anderen werden in Nachbarländern ukrainische Piloten ausgebildet. Russländische Quellen sprechen davon, die Ukraine könnte zum Beginn des neuen Jahres bis zu 12 Abfangjäger erhalten. Zweifellos wird ihre wichtigste Aufgabe darin bestehen, einfliegende Raketen und Drohnen im ukrainischen Luftraum zu zerstören.

Die Ukraine führt mit Erfolg systematisch Luftschläge gegen Ziele auf der Krim und in den besetzten südlichen Landesteilen durch. Neben dem erwähnten Angriff auf Černomorskoe ist vor allem eine Attacke auf ein Gebäude in Skadovs’k am Schwarzen Meer zu erwähnen, in dem zum Zeitpunkt des Einschlags eine Dienstversammlung von Mitarbeitern des militärischen Zweigs der Strafverfolgungsbehörde stattfand. Nach ukrainischen Angaben gab es mindestens acht Tote und zehn Verletzte, Russland sprach von elf Männern, ohne darzulegen, ob es sich um Todesopfer oder Verletzte handelt.

In der Nacht vom 10. auf den 11. November gelang der Ukraine auch erstmals nach anderthalb Monaten wieder ein erfolgreicher Schlag gegen ein Ziel tief in Russland. Ein Schwarm von Angriffsdrohnen mit großer Reichweite und schwerem Sprengsatz traf eine Sprengstofffabrik in Kotovsk im Gebiet Tambov, ein anderer einen Betrieb in Kolomna bei Moskau, der schwere Raketen herstellt. Um welchen Drohnen-Typ es sich handelte, ist bislang nicht bekannt, möglicherweise um die kürzlich angekündigte ukrainische Variante des im Iran entwickelten Shahed-Prototyps.

Wie weiter mit dem Krieg?

Die ukrainische Führung bereitet die Menschen im Land darauf vor, dass der Krieg noch lange andauern wird. Die Ukraine kann ihn allerdings nur fortführen, wenn der Westen diese weiter finanziell und mit Waffen unterstützt. Die Nervosität wächst allerdings, nachdem die Gegenoffensive des Jahres 2023, auf die so viel Hoffnung gesetzt worden war, ohne nennenswerte Ergebnisse geblieben ist. Sorgen bereiten Kiew die Uneinigkeit der Europäischen Union, deren im September angekündigtes Hilfspaket über 20 Milliarden Euro nicht zustande kommen könnte, nicht zuletzt weil Deutschland blockiert und stattdessen ein eigenes Paket von vier auf acht Milliarden Euro aufgestockt hat. Sorgen bereitet auch, dass der französische Präsident davon gesprochen hat, im Dezember müsse sich herausstellen, wie es in der Ukraine zukünftig weitergeht. Einen Konflikt zwischen dem Oberkommandierenden der Streitkräfte Zalužnyj und Präsident Zelens’kyj, von dem die New York Times berichtet hatte, wies Kiew zurück. Der Korrespondent der NYT gilt in manchen ukrainischen Medien als Kremlanhänger. Nachdem der ehemalige NATO-Generalsekretär Anders Rasmussen (2009–2014) sich im britischen Guardian mit den Worten hat zitieren lassen, der Ukraine solle ein NATO-Beitritt in den Grenzen des von ihr gegenwärtig gehaltenen Territoriums angeboten werden, wies Zelens’kyjs Sprecher und Berater Mychajlo Podoljak solche Ideen „einzelner europäischer Privatmenschen“ scharf zurück.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.