Das dritte Kriegsjahr – und vier Szenarien für 2025
Russlands Krieg gegen die Ukraine
Nikolaj Mitrokhin, 30.12.2024
Das abgelaufene Kriegsjahr bringt eine klare Erkenntnis: Die Ukraine wird den Krieg nicht gewinnen. Russland ist es vor allem an Land gelungen, den Krieg zu seinen Gunsten zu wenden. Die ukrainischen Erfolge im Luftkrieg und am Schwarzen Meer waren nicht entscheidend. Der Angriff im russländischen Gebiet Kursk blieb taktisch erfolglos. Es wird immer deutlicher, dass das mögliche Ende des Krieges das Ergebnis von amerikanisch-russländischen Verhandlungen sein wird. Die kommende US-Regierung will die Militärhilfe für die Ukraine streichen und die restlichen Verbündeten werden diese Lücke nicht schließen können. Eine systematische und umfassende Analyse des dritten Kriegsjahres und die vier wahrscheinlichstes Szenarien veranschaulichen: Kiew bleiben kaum Optionen.
Das Kriegsjahr in der globalen Dimension
Die entscheidende Erkenntnis aller Beteiligten und Beobachter im dritten Kriegsjahr ist, dass die Ukraine diesen Krieg nicht gewinnen wird. Es wird unmöglich sein, zu den Grenzen vom 1. Januar 2014 (oder „den Grenzen von 1991“) zurückzukehren, wie von der politischen Führung des Landes wiederholt erklärt. Genauso werden auch die Grenzen des tatsächlich kontrollierten Gebiets vom 1. Januar 2022 nicht wieder hergestellt werden. Nach der US-Wahl, aus der Donald Trump als Sieger hervorging, wird immer deutlicher, dass das mögliche Ende des Krieges das Ergebnis von amerikanisch-russländischen Verhandlungen sein wird. Möglich wären auch amerikanisch-chinesische Verhandlungen mit Beteiligung Russlands und der Europäischen Union. Deren Ergebnisse müssten die Ukraine und die EU akzeptieren. Zudem ist es nicht ausgemacht, dass die Parteien eine Einigung erzielen können und der Krieg im Jahr 2025 endet. Eine andere Möglichkeit wäre, dass Russland einige seiner Kriegsziele erreicht oder, im Gegenteil, am Ende seiner Kräfte sein wird.
Die Welt hat sich beinahe an den großen Krieg auf dem europäischen Kontinent gewöhnt, dem ersten seiner Art seit fast 80 Jahren. Die Nachrichten über den Ukraine-Krieg wurden von anderen Ereignissen verdrängt: Der terroristische Angriff der Hamas auf den Gazastreifen, Israels Kampf gegen die palästinensische Terrororganisation und die Hisbollah, der Wahlkampf und die Wahl in den USA, der Sturz des Assad-Regimes, das Scheitern der Ampel-Koalition in Deutschland und vieles mehr. Die Anwesenheit der Staatsoberhäupter Chinas und Indiens sowie des UN-Generalsekretärs auf dem BRICS-Gipfel in Kazan im Oktober hat gezeigt, dass die Idee des kollektiven Westens, ein effektives politisches und wirtschaftliches Vakuum um Russland zu schaffen, fehlgeschlagen ist. Ein weiteres Indiz dafür sind die gesteigerten Flüssiggaslieferungen aus Russland an europäische Häfen im Herbst. Putins militärische Allianz mit Nordkorea, das im Herbst an der Seite Russlands in den Krieg eingetreten ist, deutet in die gleiche Richtung.
Und in dieser Lage versprechen die USA, in Person des designierten Präsidenten Donald Trump, entschiedene Maßnahmen zu ergreifen, um den Krieg zu beenden. Die kommende US-Regierung wendet sich damit klar vom bisherigen Kurs ab. Die USA haben bereits mehr als 90 Milliarden Dollar – etwas mehr als die EU – zur Unterstützung der Ukraine ausgegeben. Auch die Beteuerungen des ukrainischen Präsidenten Volodymyr Zelens’kyj, dass der Krieg in den Grenzen von 1991 beendet werden müsse, sind für eine Trump-II-Regierung ganz offenbar kein Hindernis mehr.
Die Situation könnte womöglich anders sein, wenn die ukrainischen Streitkräfte erfolgreich vorankommen würden. Aber entscheidende Fortschritte bei der Befreiung des eigenen Territoriums machte Kiew zuletzt im November 2022. Nicht besonders wahrscheinlich ist auch eine ausreichende Unterstützung der Ukraine durch die EU und ihre Verbündeten – etwa das Vereinigte Königreich oder Kanada. Diese Länder werden in den kommenden Jahren nicht in der Lage sein, genügend gepanzerte Fahrzeuge, große Luftabwehrsysteme und Kampfjets für einen so großen Krieg zu produzieren, um den Wegfall der US-Militärhilfe zu kompensieren. Und das, obwohl die Waffenproduktion im Westen und in der Ukraine selbst in diesem Jahr erheblich gesteigert werden konnte. In dieser Situation bleiben Kiew kaum Optionen.
Die Hauptfrontlinien und die Russlands veränderte Taktik
Auf den drei Hauptkriegsschauplätzen sieht es sehr unterschiedlich aus. Russland ist es gelungen, den Krieg auf dem Boden zu seinen Gunsten zu wenden. Vor allem im Südwesten und Westen der Region Donec’k gab es erhebliche Landgewinne. Das gesamte Jahr 2024 war von schleichenden Offensiven geprägt, die Russland im November 2023 mit dem systematischen Angriff auf Avdijivka begann. Dabei entwickelte die Okkupationsarmee neue Angriffstaktiken. Zuvor war Russlands Offensive durch den Einsatz von Artillerie gekennzeichnet. Moskaus Streitkräfte hatten sich meist in Kolonnen gepanzerter Fahrzeuge über verminte Landstraßen dem nächsten Dorf genähert und dabei große Verluste erlitten. Im Jahr 2024 begannen sie, in kleinen Gruppen von Infanteristen ohne vorherigen Beschuss anzugreifen. Die Aufgabe dieser „Sturmtrupps“ bestand darin, ein von den ukrainischen Drohnenpiloten kontrolliertes Gebiet schnell zu überspringen und das nächste Waldgebiet zu erreichen, um sich besser tarnen zu können. Dort stießen sie oft auf Stütz- oder Beobachtungspunkte und „säuberten” diese – wenn nötig mit Artillerie, Drohnen oder Panzern. Wurden größere dieser Stützpunkte entdeckt, übermittelten die Angriffsteams ihre Koordinaten an Kampfflugzeuge, die aus einer Entfernung von etwa 60 bis 80 Kilometern KAB-Präzisionsbomben auf die genannte Position abschossen. Je nach Gewicht zerstören sie alles in einem Radius von 30 bis 60 Metern. Die ukrainischen Streitkräfte führen etwa 5000 Fälle auf, in denen auch chemische Munition, deren Einsatz durch Konventionen untersagt ist, zur „Ausräucherung“ von Festungen genutzt wurde. Dies war auch einer der Hauptgründe für den relativ schnellen Fall von Avdijivka.
Eine weitere Neuerung war, dass die Besatzer die ukrainischen Befestigungen, vor allem in den besiedelten Gebieten „zangenartig” umgangen haben. Die immer zahlreicheren Sturmtrupps wurden in kleinere Gruppen zerstreut. So wurde es für die Verteidiger ineffizient, Granaten für sie zu verschwenden. Später erreichten einige von ihnen, häufig auf Mopeds, das nächste Waldgebiet. Erst dann bemerkten die ukrainischen Stützpunkte, dass sie auf dem Feld umgangen worden waren. Außerdem griffen die russländischen Streitkräfte nicht in allen Richtungen gleichzeitig an. Mit Pausen von ein bis zwei Wochen rückten sie in mehreren Gebieten vor. So hatte die ukrainische Armee keine Zeit, ihre Reserven zu konzentrieren, um jeden einzelnen Durchbruch ausreichend zu bekämpfen.
Diese Taktik ermöglichte nach der schwierigen Einnahme der Stadt Avdijivka (eigentlich der westliche Vorort von Donec’k) eine effektivere Offensive. Am 17. Februar wurde die Stadt eingenommen. Zwei Monate später, nach langwierigen Kämpfen im Westen, fand das Ereignis statt, das den Verlauf des gesamten Feldzugs 2024 bestimmen sollte. Am 17. und 18. April durchbrachen die Besatzer eine gut befestigte ukrainische Verteidigungslinie in der Nähe der Siedlung Očeretine nordwestlich von Avdijivka. Die ukrainischen Einheiten, die zur Verstärkung dieses Sektors eingesetzt worden waren, wurden von Putins Streitkräften innerhalb eines Monats besiegt. Danach begannen die Okkupationstruppen einen relativ raschen Vorstoß in Nord-Süd-Richtung und gelangten hinter die ukrainischen Stellungen im Zentrum und Süden des westlichen Donec’ker Gebietes. Dies führte in den darauffolgenden Monaten zur Zerstörung des gesamten Verteidigungssystems im ausgedehnten Gebiet an der Kreuzung der Donec’ker und Zaporižžja-Front (Pokrovs’k, Vuhledar, Kurachove) und zur Einnahme von Stellungen, die seit Beginn des Krieges von der ukrainischen Armee gehalten worden waren. Der wegweisende Durchbruch hätte durch einen Angriff aus Richtung Kramators’k noch mehrere Monate aufgeschoben werden können. Fünf gut ausgebildete und mit westlicher Technik ausgerüstete Reservebrigaden wurden jedoch für den ukrainischen Angriff in der russländischen Region Kursk eingesetzt. Ein Angriff, der aus militärischer Sicht außer der Gefangennahme von mehreren hundert wertvollen Gefangenen keine Ergebnisse brachte. Er blieb taktisch erfolglos, denn die ukrainischen Streitkräfte konnten ihre Stellungen dort nicht stabilisieren. Stattdessen drohen der Ukraine nun der Verlust von zwei Dritteln der Zaporižžja-Front, die Erstürmung der relativ großen Stadt Pokrovs’k sowie der Einmarsch der Okkupanten in die Region Dnipropetrov’sk und die Stadt Zaporižžja.
Luftkrieg
Der Schlagabtausch in der Luft hat sich im vergangenen Jahr zum zweitwichtigsten Kriegsschauplatz entwickelt. In diesem Kampf herrscht ein relatives Gleichgewicht mit einer gewissen Überlegenheit Russlands. Beide Seiten haben die Produktion von Angriffsdrohnen und Raketen erhöht und einander erheblichen Schaden zugefügt, vor allem im Energiesektor. Russland greift mit Raketen und Drohnen seit dem Spätsommer systematisch das ukrainische Energiesystem an, das in der ersten Jahreshälfte wiederhergestellt worden war. Nach offiziellen Angaben ist die Stromproduktion im Land um die Hälfte zurückgegangen. Dabei wurden alle Wärmekraftwerke, ein Teil der Wasserkraftwerke sowie viele Umspannwerke, die den Strom in die Regionen verteilen, beschädigt. Großstädte wie Charkiv, Odessa, Zaporižžja und Kryvyj Rih waren besonders betroffen. Sie befinden sich nahe an der Frontlinie und sind daher nicht nur Angriffen von Marschflugkörpern und Drohnen, sondern auch von ballistischen Raketen ausgesetzt. Diese können nur mit Patriot-Systemen abgefangen werden. Jedoch reicht die Anzahl der verfügbaren Systeme nicht einmal für die Millionenstädte aus. Seit Ende des Jahres 2024, nachdem die westlichen Länder der Ukraine etwa ein Dutzend zusätzlicher Systeme zur Verfügung gestellt hatten, kann man sagen, dass zumindest Kiew, Odessa, L'viv und Dnipro relativ gut vor russländischen Raketen geschützt sind. Für Charkiv, Zaporižžja und Krywyj Rih bleibt, zusätzlich zu den ballistischen Systemen, das Problem der Bombardierung mit KAB-Präzisionsbomben bestehen. Moskau konnte die Produktion der Angriffsdrohnen verdreifachen und setzte massenhaft Drohnenattrappen ein, wodurch das ukrainische Luftabwehrsystem überlastet wurde. Hinzukam der erste Einsatz des neuesten russischen ballistischen Systems „Orešnik” (bisher zu Demonstrationszwecken, ohne Sprengkopf).
Die Ukraine hat darauf mit einer starken Ausweitung der Produktion schwerer Angriffsdrohnen reagiert. Sie verfügen inzwischen über eine Reichweite von 1200 Kilometern, wodurch sie fast den gesamten europäischen Teil Russlands erreichen können, wenngleich noch nicht die großen Industriezentren im Ural. Die Ukraine konnte auch die Traglast der Drohnen erhöhen, sie liegt aber im Schnitt noch unter jener von russischen Geran-2-Drohnen. So sind Kiews Drohnen zwar in der Lage, effektiv Angriffe auf Flugplätze, Treibstoff- und Munitionsdepots sowie Ölraffinerien zu fliegen. Sie können aber keine großen Anlagen aus Beton oder Ziegeln zerstören. Deshalb haben sich die ukrainischen Drohnenangriffe im Jahr 2024 wahrscheinlich auch auf russländische Öl-Raffinerien und -Lagereinrichtungen sowie große Munitionsdepots konzentriert. Kiew ist es gelungen, Russlands Produktion von Erdölprodukten um etwa 15 Prozent zu reduzieren und dem Aggressor einen enormen finanziellen Schaden zuzufügen. Die Angriffe hatten aber keine Auswirkungen auf die Versorgung der Front. Wesentlich effektiver scheinen Angriffe von Drohnen und westlichen Raketen auf Russlands Raketenabwehrsysteme und auf die Depots der Hauptverwaltung für Raketen und Artillerie des Verteidigungsministeriums zu sein. Trotz des beeindruckenden Ausmaßes der Explosionen ist es jedoch schwierig, ernsthaft von einem Rückgang der Munitionslieferungen an die russländische Armee zu sprechen. Gleichzeitig haben sich die Hoffnungen der politischen Führung der Ukraine auf die Stärke und Reichweite der westlichen Raketen sowie die Effektivität der erhaltenen F-16-Kampfjets nicht erfüllt. Sie haben weder an der Front noch im russländischen Hinterland (mit Ausnahme der Krim) etwas an der Situation geändert.
Sieg der Ukraine am Schwarzen Meer
Am Schwarzen Meer gelang der Ukraine ein „Blitzsieg“. Diesen erreichte sie mit ihren unbemannten Drohnenbooten und westlichen Raketen. Sie zwang die russländische Schwarzmeerflotte und die Schiffe des Geheimdienstes FSB, das gesamte westliche und zentrale Schwarze Meer aufzugeben und sich fast vollständig aus ihren üblichen Häfen auf der Krim in Richtung Novorossijsk und Abchasien zurückzuziehen. Gleichzeitig gelang der Ukraine bis zum Jahresende ein Durchbruch bei der Modernisierung der unbemannten Wasserfahrzeuge. Sie setzt die Drohnenboote nicht mehr nur als Langstrecken- und ferngesteuerte Torpedos ein. Sie können auch als Plattformen für First-Person-View-Drohnen (also Drohnen, die mittels Kameratechnik aus der "Ich-Perspektive" gesteuert werden), als Kleinwaffenträger und sogar als Plattformen zur Bekämpfung von Luftzielen eingesetzt werden. So konnte die Ukraine wieder Waren über den Hafen von Odessa ausführen, was für ihre wirtschaftliche Lage von großer Bedeutung ist. Zudem kann der Feind deutlich weniger Kalibr-Raketen von Schiffen der Schwarzmeerflotte aus starten.
Hinterland
Ein zentrales Problem beider Seiten im Jahr 2024 ist die Frage der Mobilisierung und anderer Möglichkeiten, die an der Kampflinie operierenden Einheiten aufzufüllen. Nach mehreren erfolglosen Offensiven in den Jahren 2022 und 2023 und der Kursk-Operation im Jahr 2024 leidet die ukrainische Armee unter einem Mangel an motivierten Kämpfern. Sie ist mit einer Mobilisierungskrise und Desertion konfrontiert. Die Versuche, diese Probleme zu bekämpfen, indem Anreize für die Rückkehr von Soldaten zu ihren Einheiten geschaffen wurden, haben nur begrenzt Wirkung gezeigt. Ein großes Problem ist auch, dass Menschen, die von der Straße zwangsmobilisiert werden, aus den Ausbildungszentren fliehen. Es gibt keine Sperreinheiten, also Truppen, die hinter der Front stationiert sind, um Desertation zu bekämpfen. Außerdem werden Dienstverweigerer kaum zur Verantwortung gezogen. Und das Ausmaß der Korruption in den Mobilisierungs- und Musterungsstellen ist so groß, dass weder die Armee noch die politische Führung die Situation in den Griff bekommen können.
Auf russländischer Seite ist das Problem weniger akut. Allerdings reicht die vertragliche Mobilisierung in diesem Jahr von rund 440.000 Soldaten, die der Stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrates Dmitrij Medvedev am 24. Dezember nannte, für die geplante Vergrößerung der Armee nicht aus. Daher werden alle möglichen Gruppen in die Reihen der „Sturmtrupps” eingegliedert: Von Häftlingen über strategische Raketentruppen oder Reparaturkräfte der Pazifikflotte bis hin zu nordkoreanischen Soldaten. Letztere tauchten in so geringer Zahl an der Front auf, dass sie bisher nichts bewirken konnten. Gleichwohl waren ihre Verluste in den zehn Tagen ihres Einsatzes hoch.
Ein weiteres großes Problem zu Beginn des Jahres war auf beiden Seiten der Mangel an Artilleriegranaten großen Kalibers. Dieses wurde jedoch im Laufe des Jahres von beiden Seiten gelöst. Russland erhielt die Granaten aus Nordkorea und die Ukraine aus dem Westen – als Ergebnis der „tschechischen Initiative“, die Geld zu ihrer Beschaffung einwarb. Das Problem des Mangels an gepanzerten Fahrzeugen konnte indes nicht gelöst werden. Dies führte zu einer Änderung der Taktik und zu einem verstärkten Einsatz von „First-Person-View”-Drohnen. Sie wurden zur Hauptwaffe bei der Bekämpfung des Feindes auf Entfernungen von mehr als einem Kilometer. Schätzungen zufolge sind Russlands Fabriken mit gepanzerten Fahrzeugen, die repariert werden sollen, noch für ein Jahr gefüllt. Sie werden nicht für große Durchbrüche ausreichen, aber sie werden im Prinzip zur Unterstützung der derzeit vorrückenden Infanterieverbände genügen.
Die Führung der Militärverwaltung auf allen Ebenen ist ein weiterer Hemmschuh. Kritisiert werden nicht so sehr Grundsatzentscheidungen, wie etwa die Kursk-Offensive oder der Wunsch, Dörfer im Donbass, die bereits in Schutt und Asche gelegt wurden, um jeden Preis zu halten. Anlass für Beschwerden ist vielmehr das System der Entscheidungsfindung auf der mittleren und unteren Ebene. Kritisiert wird die Praxis der häufigen Rotation der Brigaden, die dazu führt, dass neue Brigaden zu langsam die Frontpositionen der alten übernehmen, was die Russen gezielt ausnutzen. Auch soll die Koordinierung der Brigaden in einigen Gebieten immer mehr zu wünschen übrig lassen und sich die Beziehungen zwischen Kommandeuren und einfachen Soldaten rapide verschlechtern. In vielen Einheiten ist kaum noch etwas von der Brüderlichkeit bei Kriegsbeginn übrig. Andererseits zeigen die Aktionen ukrainischer Saboteure nicht nur in den besetzten Gebieten, sondern auch in Russland Wirkung.
Prognose
Vier Szenarien für den weiteren Kriegsverlauf sind denkbar: ein optimistisches, ein pessimistisches, ein düsteres und ein katastrophales Szenario.
Die optimistische Option für die Ukraine ist nach Ansicht nicht nur externer Beobachter, sondern auch vieler Menschen in der Ukraine die sofortige Einstellung der Kämpfe entlang der tatsächlichen Kontaktlinie. Die Rede ist von einem Einfrieren des Konflikts, ohne dass die besetzten Gebiete als russländisch anerkannt werden. Die Befürworter dieser Version sind bereit, für einen längeren Zeitraum eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine auszuschließen. Ihre Hoffnung ruht auf direkten Gesprächen zwischen dem kommenden US-Präsidenten Donald Trump und Russlands Präsident Vladimir Putin.
Die pessimistische Option für Kiew geht von weitaus bedeutenderen Zugeständnissen als Ergebnis der Verhandlungen aus. So könnten auch jene Gebiete vollständig oder teilweise verloren gehen, die Russland zusätzlich zu den bereits eroberten Regionen zu „seinen ureigenen“ erklärt hat – das heißt unbesetzte Teile der Regionen Donec’k, Zaporižžja, Luhansk und Cherson.
Die düstere Option geht von einem Scheitern oder einer Verschleppung der Trump-Putin-Verhandlungen aus. Gleichzeitig würden schwere Kämpfe fortgesetzt werden, wobei Russland über bessere Truppen und Ausrüstung verfügen dürfte. Denkbar wäre hier etwa eine weitere Mobilisierung von 300.000 bis 400.000 Soldaten. Die Besatzer würden mehr oder weniger schnell zum Ufer des Dnipros vorrücken. Bis Ende 2025 wären sie wohl damit beschäftigt, regionale Zentren wie Zaporižžja und Dnipro zu stürmen – zumindest deren Teile am linken Ufer. Wenn es so weit kommt, werden sich die Friedensbedingungen für die Ukraine weiter verschlechtern.
Die katastrophale Option ist die Möglichkeit eines partiellen Zusammenbruchs der Front aufgrund der Verringerung der ukrainischen Vorstoßeinheiten sowie eines raschen Vormarsches russländischer Einheiten am linken Ufer des Dnipros. Zweiteres könnte nicht nur an den derzeitigen Fronten von Zaporižžja und Donec’k geschehen, sondern auch im Gebiet Charkiv und möglicherweise sogar in den Regionen Sumy und Poltava.
Aus dem Russischen von Felix Eick, Berlin
Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift