Ansprache des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew auf dem Außerordentlichen Gipfel der Organisation der Turkstaaten am 16.3.2023 in Ankara

Mein lieber Bruder, sehr verehrter Präsident Recep Tayyip Erdoğan,

sehr verehrte Staats- und Regierungschefs, liebe Freunde, [1]

wir sind tief betroffen von den Folgen des schweren Erdbebens, bei dem in unserem Bruderland Türkei so viele Menschen zu Tode gekommen sind oder verletzt wurden. […][2]

Aserbaidschan und die Türkei haben immer zusammengestanden, in guten wie in schlechten Zeiten. Und das wird auch in Zukunft so sein.

Ich bin davon überzeugt, dass die Türkei dank der Führung meines lieben Freundes, des verehrten Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan die Folgen dieses Erdbebens erfolgreich überwinden wird.

Die politische und moralische Unterstützung, die Präsident Recep Tayyip Erdoğan Aserbaidschan im Jahr 2020 von den ersten Stunden bis zum letzten Tag des Zweiten Karabach-Kriegs erwiesen hat, gab uns zusätzliche Kraft.

Das gesamte türkische Volk stand während dieses 44 Tage währenden Krieges an der Seite Aserbaidschans. Tausende Unterstützungs- und Glückwunschschreiben haben uns während des Kriegs und nach unserem historischen Sieg aus der Türkei erreicht.

Im Juni 2021 haben die Türkei und Aserbaidschan in der Stadt Şuşa, dem Kronjuwel von Karabach, die Şuşa-Erklärung unterzeichnet, mit der unsere Beziehungen offiziell auf den Status einer Allianz gehoben wurden.[3]

In den vergangenen 20 Jahren hat die Türkei unter der Führung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan einen langen und ruhmreichen Weg zurückgelegt, sie hat sich international Autorität und Einfluss erkämpft. Heute wird die Türkei überall in der Welt ernst genommen und geachtet.

Die ganze Welt sieht die Militärmacht der Türkei und die riesigen Erfolge ihrer Rüstungsindustrie. Die weitere Entwicklung der Türkei, ihre Kontinuität und Stabilität, sind wichtig für die gesamte Turkwelt.[4]

Die Verleihung des Höchsten Ordens der Turkwelt an Präsident Recep Tayyip Erdoğan auf dem Gipfel der Organisation der Turkstaaten in Samarkand im Jahr 2022 beweist einmal mehr, welche Verdienste er sich um die Stärkung der Turkwelt erworben hat. Ich bin sicher, mein lieber Bruder wird über viele weitere Jahre neue große Beiträge zur weiteren Stärkung der auf der Bruderschaft zwischen unseren Ländern fußenden Turkwelt leisten.

Liebe Freunde,

in den 30 Jahren der Besatzung hat Armenien gezielt Hunderte Städte und Dörfer, historische und religiöse Stätten und Friedhöfe zerstört. Ausländische Experten nennen die Stadt Ağdam ein „Hiroshima des Kaukasus“.[5] Die Armenier haben 65 von 67 Moscheen in Karabach und Ost-Zangezur zerstört, die übrigen beiden wurden als Schweine- und Kuhstall verwendet.[6]

Unsere natürlichen Ressourcen wurden geplündert, die Umwelt massiv geschädigt.

Seit dem Ersten Karabach-Krieg gelten 4000 unserer Staatsbürger als verschollen, sie wurden fast ausnahmslos gefoltert und umgebracht. Nach der Befreiung unserer Gebiete haben wir an mehreren Orten Massengräber entdeckt. Armenien weigert sich immer noch, Informationen über das Schicksal der vermissten Aserbaidschaner zur Verfügung zu stellen.

Aufgrund der armenischen Besatzung ist Aserbaidschan eines der am meisten mit Landminen kontaminierten Länder der Welt. Nach dem Zweiten Karabach-Krieg, also seit November 2020, wurden fast 300 Aserbaidschaner durch Landminen getötet oder verwundet.

Obwohl Armenien im Jahr 2022 in Sochi und Prag die territoriale Integrität und Souveränität Aserbaidschans anerkannt hat,[7] hat es seine Truppen noch nicht vollständig vom Territorium Aserbaidschans abgezogen. In Karabach befinden sich weiter illegale armenische Gruppierungen und kriminelle Elemente.

Armenien weigert sich ebenfalls, seiner Verpflichtung nachzukommen, den Zangezur-Korridor zu öffnen. Damit verstößt es grob gegen die am 10. November 2020 unterzeichnete Erklärung und muss dafür zur Verantwortung gezogen werden.[8]

Nach der Befreiung von Karabach und Ost-Zangezur von armenischer Besatzung im Jahr 2020 hat Aserbaidschan umfangreiche Wiederaufbauarbeiten in diesen Gebieten begonnen.[9] Aserbaidschan bringt Leben zurück in riesige Gebiete, die Armenien vollständig zerstört hatte. Wir errichten neun Städte von Grund auf neu sowie – in einer ersten Phase – 300 Dörfer und Siedlungen.

Es handelt sich um einen einzigartigen, präzedenzlosen Wiederaufbau nach einem Konflikt durch eine nationale Regierung auf eigene Rechnung.

Wir haben mit der Umsetzung des Programms „Die Große Rückkehr“ zur Wiederansiedelung von Zwangsumgesiedelten in ihrer angestammten Heimat begonnen.

Türkische Unternehmen sind als Vertragspartner an vielen Infrastrukturprojekten dieses Wiederaufbauprogramms beteiligt. Bis zum heutigen Tag wurden bereits Verträge im Wert von über drei Milliarden US-Dollar unterzeichnet. Mein teurer Bruder Recep Tayyip Erdoğan hat die befreiten Gebiete bereits drei Mal besucht, er war in Şuşa, Füzuli, Zəngilan und Cəbrayıla.[10]

Ich nutze die Gelegenheit, um dem Präsidenten Usbekistans Shavkat Mirziyoyev und dem Präsidenten Kasachstans Kassym-Jomart Tokayev meine Dankbarkeit für die von Usbekistan im befreiten Bezirk Füzuli errichtete Schule und das von Kasachstan in der befreiten Stadt Füzuli errichtete Kulturzentrum auszudrücken.

Ebenso möchte ich Ihnen mitteilen, dass kürzlich ein aserbaidschanisch-usbekischer Investmentfonds eingerichtet wurde sowie ein aserbaidschanisch-kirgisischer Entwicklungsfonds.

Sehr geehrte Kollegen, die Turkwelt endet nicht an den Grenzen der Turkstaaten. Die Turkwelt umfasst ein viel größeres Gebiet. Auf der Welt leben mehr als 50 Millionen Aseri. Nur zehn Millionen von ihnen leben in der unabhängigen Republik Aserbaidschan.[11]

Mit der Entscheidung der sowjetischen Regierung vom November 1920 wurde West-Zangezur, das historisch unser Land ist, von Aserbaidschan abgetrennt und an Armenien übergeben, was zu einer geographischen Teilung der Turkwelt geführt hat.[12] Bis 1991 wurden alle Aserbaidschaner gewaltsam aus dem Gebiet des heutigen Armenien vertrieben.

Wie in Karabach und Ost-Zangezur hat Armenien unser kulturelles Erbe, Moscheen und historische Stätten im heutigen Armenien – in West-Aserbaidschan – zerstört. Die aserbaidschanische Öffentlichkeit hat sich mehrfach an die UNESCO gewandt und gebeten, eine Fact-Finding-Mission zu entsenden, die das kulturelle Erbe des aserbaidschanischen Volks im heutigen Armenien überwacht – und wartet bis heute auf eine positive Antwort der UNESCO.[13]

Unsere Landsleute, die in West-Aserbaidschan Opfer ethnischer Säuberungen wurden, haben sich nun zur West-Aserbaidschanischen Landsmannschaft zusammengeschlossen.[14] Sie haben sich das Ziel einer friedlichen Rückkehr in ihre historischen Länder gesetzt. Gemäß dem Rückkehr-Konzept, das die West-Aserbaidschanische Landsmannschaft entwickelt hat, soll für die Heimkehr der Aserbaidschaner, die gewaltsam aus ihrer Heimat auf dem Gebiet des heutigen Armeniens deportiert wurden, ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen mit einem dazugehörigen Überprüfungs- und Garantiemechanismus erreicht werden.

Ebenso wie wir, der aserbaidschanische Staat, die individuellen Rechte und die Sicherheit der in Karabach lebenden Armenier garantieren, muss auch Armenien nach dem Prinzip der Reziprozität die Rechte und die Sicherheit der West-Aserbaidschaner garantieren.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Übersetzung und Annotierung: Volker Weichsel, Berlin


[1] Türk Dövlətləri Təşkilatının Dövlət Başçılarının Fövqəladə Zirvə görüşündə İlham Əliyevin nitqi, <https://president.az/az/articles/view/59195>. Auf der Seite finden sich auch Übersetzungen ins Russische und Englische, die dieser Übersetzung zugrunde liegen.

Das Treffen fand auf Initiative Aserbaidschans statt, Teilnehmer waren die Präsidenten der Türkei, Aserbaidschans, Kasachstans, Kirgistans, Turkmenistans und Usbekistans sowie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, der Präsident der „Türkischen Republik Nordzypern“ und der Generalsekretär der Organisation der Turkstaaten. <www.tccb.gov.tr/assets/dosya/bildiri/2023-03-16-bildiri-en.pdf>.

[2] Drei Absätze, in denen Alijew sein Beileid ausdrückt und über die humanitäre Hilfe Aserbaidschans an die Türkei spricht.

[3] Şuşa Bəyannaməsinin, <https://report.az/xarici-siyaset/susa-beyannamesinin-tam-metni/>. – Šušinskaja deklaracija, <www.kavkaz-uzel.eu/articles/365007/>.

[4] Das Aserbaidschanische und das Türkische unterscheiden nicht zwischen dem staats- und ethnonationalen Begriff „türkisch“ (engl.: turkish, russ.: tureckij) und dem pannationalen Begriff „Turk-“ (Turkstaaten, Turksprachen; engl.: turcic, russ.: turkskij). Türkische Staatsangehörigkeit (Staatsangehörigkeit der Türkei) heißt „Türk vatandaşlık“, die türkische Sprache „Türk dili“, Turksprachen „Türk dilləri“ und die Organisation der Turkstaaten „Türk Dövlətləri Təşkilatı“.

[5] Alijew bezieht sich auf Thomas de Waal: The Black Garden. Armenia and Azerbaijan through Peace and War. New York, London 2013 [2003], S. 6, S. 135.

[6] Die Wirtschaftsregion Ost-Zangezur (Şərqi Zəngəzur iqtisadi rayonu) wurde im Juli 2021 im Zuge einer Verwaltungsreform geschaffen, die die Ergebnisse des Kriegs vom Herbst 2020 festschreibt und weitere Territorialansprüche formuliert. Ost-Zangezur umfasst die zwischen der armenischen Grenze und Bergkarabach gelegenen Gebiete, die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehören und im Zuge des 44-Tage-Kriegs teils zurückerobert, teils auf der Basis des in Moskau unterzeichneten Abkommens vom 9. November 2020 nach knapp 30-jähriger Besatzung an Aserbaidschan übergeben wurden. Zur Implikation des Begriffs „Ost-Zangezur“ siehe Fn. 9.

[7] Gemeint ist zum einen ein Treffen von Alijew, dem armenischen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan, dem französischen Präsidenten Emanuel Macron und dem Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel am 6.10.2022 am Rande der Tagung der Europäischen Politischen Gemeinschaft in Prag. <www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2022/10/07/ statement-following-quadrilateral-meeting-between-president-aliyev-prime-minister-pashinyan-president-macron-and-president-michel-6-october-2022/>. Zum anderen ein Treffen von Alijew und Paschinjan mit dem Präsidenten Russlands Vladimir Putin in Soči am 31.10.2022, <http://kremlin.ru/supplement/5860>.

[8] Baku reklamiert seinen Anspruch auf einen von Aserbaidschan kontrollierten Transportkorridor zwischen dem aserbaidschanischen Kernland und der Exklave Nachitschewan entlang der armenisch-iranischen Grenze. Anders als Alijew behauptet, ist in der Moskauer Erklärung vom 9.11.2020 nicht von einem „Zangezur-Korridor“ die Rede. Dort heißt es in Punkt 9: „Alle Wirtschafts- und Transportverbindungen in der Region werden geöffnet. Die Republik Armenien garantiert die Sicherheit des Transportwege zwischen den westlichen Bezirken Aserbaidschans und der Autonomen Republik Nachitschewan, damit Personen sowie Fahrzeuge des Personen- und Gütertransports ungehindert in beide Richtungen verkehren können. Verantwortlich für die Kontrolle der Transportverbindung ist der Grenzschutz des Russländischen Föderalen Sicherheitsdiensts (FSB). Gemäß Übereinkommen aller Seiten werden neue Transportwege zur Anbindung der Autonomen Republik Nachitschewan an die westlichen Bezirke Aserbaidschans errichtet.“ <http://kremlin.ru/events/president/news/64384>. ‑ Dieser Punkt ist bislang nicht umgesetzt. Die Wortwahl Alijews stützt die armenische Auffassung, dass Aserbaidschan an einer Öffnung von grenzüberschreitenden Verkehrsverbindungen kein Interesse hat, sondern einen Korridor unter seiner Kontrolle auf armenischem Staatsgebiet erzwingen will.

[9] Die 2021 von Aserbaidschan geschaffene Wirtschaftsregion Qarabağ umfasst neben 2020 übergebenen Gebieten (Bezirk Agdam) auch die karabach-armenisch kontrollierte „Republik Arzach“ (Teile des ehemaligen Autonomen Gebiets Bergkarabach), die gemäß dem Moskauer Abkommen von russländischen Friedenstruppen geschützt wird. Mit der Schaffung der Wirtschaftsregionen markiert Baku nicht nur den territorialen Anspruch auf das Gebiet von Arzach, sondern macht auch deutlich, dass dieses nach einer Übergabe oder Eroberung keine territoriale Autonomie erhalten wird.

[10] Şuşa, armenisch Schuschi, und das nahegelegene Füzuli (armenisch: Waranda) lagen auf dem Gebiet des ehemaligen Autonomen Gebiets Bergkarabach und waren von 1992‑2020 unter karabach-armenischer Kontrolle. Anfang November wurden sie von aserbaidschanischen Truppen erobert und liegen seitdem außerhalb der von den russländischen Friedenstruppen geschützten Zone. 1920 war die Stadt Şuşa/Schuschi Schauplatz eines großen Pogroms, das türkische und aserbaidschanische Truppen an der dortigen armenischen Bevölkerung begingen, 1992 wurde die zu diesem Zeitpunkt die große Mehrheit stellende aserbaidschanische Bevölkerung vertrieben, im Jahr 2020 musste die armenische Bevölkerung fliehen. Zəngilan und Cəbrayıla lagen hingegen außerhalb des Autonomen Gebiets Bergkarabach, waren aber von 1992-2020 von der „Republik Arzach“ besetzt.

[11] Neben unterschiedlich großen Diasporagruppen in vielen Staaten des postsowjetischen Raums und in östlichen Provinzen der Türkei leben zwischen 12 und 20 Millionen Aseri im Norden des Iran. Wenn Alijew von mehr als 50 Millionen Aseris außerhalb von Aserbaidschan spricht, muss er eine deutlich höhere Zahl von Aseri im Iran zugrunde legen.

[12] Alijew bezieht sich auf die historische Region Zangezur oder auf den Bezirk (uezd) Zangezur im Gouvernement Elizovetopol’ des Russländischen Reichs (1868‑1918). Die Region war in den Jahren 1918‑1920 Schauplatz eines brutal geführten Kriegs zwischen armenischen und aserbaidschanischen Verbänden. Jener Teil des Bezirks, der nach dem Sieg der Bolschewiki in Baku und Erevan Ende 1920 in die Sowjetrepublik Armenien einging, entspricht in etwa dem Territorium des mit einer Verwaltungsreform 1994 geschaffenen Gebiets (arm.: marz) Sjunik im Süden Armeniens. Auf dieses Gebiet, von Alijew „West-Zangezur“ genannt, erhebt Aserbaidschan seit Ende 2020 immer offener Anspruch. Bei drei Angriffen auf armenisches Territorium im Mai 2021, November 2021 und September 2022 hat Aserbaidschan dort und im nördlich angrenzenden Gebiet Geghardunink drei militärische Außenposten auf armenischem Staatsgebiet etabliert.

[13] Die UNESCO hat unmittelbar nach dem Zweiten Karabach-Krieg am 18. November 2020 beide Seiten an die Verpflichtung zum Kulturgüterschutz erinnert und die Entsendung einer Mission vorgeschlagen. Nagorno-Karabakh: Reaffirming the obligation to protect cultural goods, UNESCO proposes sending a mission to the field to all parties. <https://en.unesco.org/ news/nagorno-karabakh-reaffirming-obligation-protect-cultural-goods-unesco-proposes-sending-mission>. ‑ Da lediglich Aserbaidschan über neue, zuvor (karabach-)armenisch kontrollierte Gebiete die Kontrolle übernommen hat, erging der Aufruf formal an beide Seiten, faktisch aber an Baku. Bei der „Bitte der aserbaidschanischen Öffentlichkeit“ handelt es sich um einen staatlich gesteuerten Antrag, der die Zerstörung armenischen Kulturerbes (Klöster) nach November 2020 mit Verweis auf die Zerstörung aserbaidschanischen Kulturerbes in den 1920er Jahren (Alijew: „bis 1991“) kontern soll.

[14] Anfang März 2023 fand in Baku eine Anhörung des „Ausschusses für Menschenrechte“ des Parlaments unter dem Titel „Die Berge überwinden. Friedliche und rechtliche Rückkehr nach West-Aserbaidschan“ statt. Der Abgeordnete Fazil Mustafa erklärte: "Wir haben Karabach mit der Kraft unserer Armee zurückerobert. Jetzt müssen wir offen den Kampf mit Armenien führen. In der West-Aserbaidschan-Frage müssen wir uns auf konkrete Punkte konzentrieren.“ <https://apa.az/ru/zapadnyi-azerbaidzan/predlozeno-prinyat-zakon-ob-obshhine-zapadnogo-azerbaidzana-513309>.