Die neue ukrainische Ministerpräsidentin Julija Svyrydenko. Foto: Zelenskiy / official
Die neue ukrainische Ministerpräsidentin Julija Svyrydenko. Foto: Zelenskiy / official

Auf allen Ebenen

Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 174. Kriegswoche

Nikolay Mitrokhin, 22.7.2025

Nach der Kehrtwende von US-Präsident Trump kann die Ukraine in dem von Russland aufgezwungenen Abnutzungskrieg wieder etwas mehr Hoffnung haben. Mit einer Regierungsumbildung in Kiew soll die ganz auf den Krieg ausgerichtete Wirtschaft besser unterstützt werden. Einstweilen leidet das Land jedoch unter den schweren allnächtlichen Luftangriffen. An der Front rückt die Besatzungsarmee weiter langsam vor.

US-Präsident Donald Trump hat seinen Kurs in der Russland- und Ukrainepolitik geändert. Einer der Gründe sind die massiven Luftangriffe, mit denen Russland die Ukraine seit deren erfolgreicher Attacke auf die Bomber der strategischen Luftwaffe Anfang Juni überzieht. Nach einem Treffen zwischen Trump und dem NATO-Generalsekretär Mark Rutte kann die Ukraine mit neuen Flugabwehrsystemen vom Typ Patriot rechnen. Die Rede ist von 17 Batterien, doch wo diese herkommen sollen, ist unklar. Fest steht nur, dass Deutschland bereit ist, für zwei Systeme aufzukommen, Norwegen für eines. Möglicherweise kommen einige Patriot-Batterien aus Israel, das solche angeblich Anfang 2025 durch neuere Systeme ersetzt habe. Berlin gibt voraussichtlich weitere Batterien ab, um die Lücke später wieder durch Ankauf in den USA zu schließen. Auch bei den benötigten Abfangraketen gibt es Fortschritte. Wie jetzt bekannt wurde, hat das US-Verteidigungsministerium im Haushaltsentwurf für das Jahr 2026 die Zahl der anzukaufenden Lenkflugkörper von knapp 3400 auf fast 13 800 erhöht.

Offen ist, wie es mit der US-Sanktionspolitik weitergeht. Trump hat zwar erklärt, er setze Putin eine Frist von 50 Tagen, innerhalb der Russland einem Waffenstillstand zustimmen müsse. Andernfalls werde er Russlands Ölhandel unterbinden, indem er für alle Länder, die Öl aus Russland beziehen, die Zölle auf sämtliche Waren auf 100 Prozent hochsetzt. Möglicherweise werden die Gespräche in Istanbul Ende August wieder aufgenommen. Zumindest ist die in Istanbul zwischen Kiew und Moskau vereinbarte Übergabe von Leichen getöteter Soldaten nach längerer Unterbrechung wieder in Gang gekommen. Am 17. Juli hat Russland die sterblichen Überreste von 1000 ukrainischen Männern an Übergabepunkte gebracht.

Allerdings ist es äußerst zweifelhaft, dass die Gespräche zu einem Waffenstillstand führen werden. Allenfalls ein möglicher Besuch Trumps in Peking aus Anlass des 80. Jahrestags des Kriegsendes in Ostasien. Dort könnte er mit Putin zusammentreffen, der seine Rückkehr auf die Bühne der Weltpolitik feiern und gemeinsam mit China und den USA – unter Umgehung der europäischen Staaten und der UN – die Eroberung eines kleinen Teils der Ukraine mit einem neuen „Jalta“ besiegeln möchte. Die Zweifel, ob Putin sich mit dem zufrieden gibt, was er bis dahin erobert hat, sind allerdings groß. Daran wird auch das 18. Sanktionspaket der EU nichts ändern, das Putin die Entscheidung für eine Beendigung des Kriegs erleichtern soll. Beschlossen ist eine Senkung des Ölpreisdeckels. In der EU registrierte Unternehmen dürfen Schiffsdienstleistungen für Tanker, die Öl aus Russland transportieren, nun nur dann noch erbringen, wenn der vereinbarte Preis für die Lieferung an einen Empfänger außerhalb der EU 15 Prozent unter dem aktuellen Weltmarktpreis liegt. Zudem wurden über 100 weitere Tanker der russländischen Schattenflotte, mit der genau diese Bestimmungen umgangen werden soll, auf die Sanktionsliste gesetzt. Sie würden nun bei Anlaufen eines Hafens in der EU festgesetzt. Auch wurden 22 Banken aus Russland auf die Sanktionsliste gesetzt und damit vom internationalen Zahlungsverkehr ausgeschlossen.

Ob sanktionsbedingt oder nicht – fest steht, dass Russlands Volkswirtschaft Probleme hat. Im ersten Halbjahr 2025 ist die Produktion in einer ganzen Reihe von Sektoren eingebrochen, im verarbeitenden Gewerbe und in der Automobilindustrie um 15 Prozent, im Eisenbahnsektor um sieben Prozent. Zahlreiche Kohlegruben wurden wegen Unrentabilität geschlossen. Viele Unternehmen der Holzverarbeitung sowie des Bausektors stehen am Rande des Bankrotts. Sinken die Einnahmen aus dem Ölhandel, wird sich die Krise weiter verschärfen und auch auf Sektoren durchschlagen, die bislang gut dastehen.

Regierungswechsel in der Ukraine

Am Tag der Ankündigung von Trumps Kurswechsel gab der ukrainische Präsident Zelens’kyj eine Regierungsumbildung bekannt. Sicher handelte es sich nicht um eine zufällige Koinzidenz. Am 14. Juli trat Ministerpräsident Denis Šmyhal‘ zurück und wurde noch am selben Tag zum neuen Verteidigungsminister ernannt. Seine zentrale Aufgabe ist es, die Armee mit mehr Waffen zu versorgen und die Rüstungsindustrie am Laufen zu halten. In sein Portfolio fällt auch der Aufgabenbereich des aufgelösten Ministeriums für die Entwicklung strategischer Industriezweige. Šmyhal‘ kommt nicht aus der Rüstungsindustrie, hat aber Karriere im Gebiet Lemberg gemacht. Dieses ist in den drei Jahren seit dem großen Überfall Russlands zum Wirtschaftsmotor der Ukraine geworden, insbesondere durch die Ansiedlung neuer und die Ausweitung der Kapazitäten bestehender Betriebe des Rüstungssektors. Entlassen wurde er offenbar, weil er nicht ausreichend Initiative zeigte und ihm ein strategischer Blick für die langfristige Entwicklung der Volkswirtschaft abging. Seine Nachfolgerin ist die 39-jährige Julija Svyrydenko, die zuvor erste stellvertretende Ministerpräsidentin und Wirtschaftsministerin war und sich bereits in diesem Amt um die Bewilligung ausländischer Hilfszusagen für die Ukraine verdient gemacht hat. Auf ihrem neuen Posten wird es eine ihrer Aufgaben sein, ausländische Investitionen in den ukrainischen Rüstungssektor zu lenken. Bei ihrer Ernennung nannte sie als Prioritäten eine hochwertige Versorgung der Armee, eine Steigerung der ukrainischen Rüstungsproduktion, technologische Fortschritte bei verschiedenen Waffensystemen und ein verbessertes Finanzaudit im Staatsapparat.

Den vormaligen Verteidigungsminister Rustem Umerov versetzte Zelens’kyj auf den Posten des Sekretärs des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats. Er soll für eine Ausweitung der Zusammenarbeit mit den Partnerländern im Bereich Waffenlieferungen und Rüstungskooperation zuständig sein. Der Vorsitzende des Ausschusses für Sicherheit und Aufklärung der Verchovna Rada Roman Kostenko erklärte, Zelens’kyj habe Umerov in dieses Amt gebracht, um seine Teilnahme an zukünftigen Gesprächen mit Russland abzusichern.

Die Lage an der Front

Russland hat in der dritten Juliwoche seine Angriffe an vielen Frontabschnitten erneut intensiviert. Die ukrainische Armee konnte jedoch im Zuge schwerer Kämpfe an mehreren Frontabschnitten überall größere Geländegewinne der Okkupationstruppen verhindern. Wo die Besatzungstruppen vorrücken, gelingt ihnen dies vor allem aufgrund des Einsatzes von Gleitbomben. Neu ist der Einsatz schwerer Kampfdrohnen im unmittelbaren Frontbereich und die Zerstörung zahlreicher ukrainischer Aufklärungsdrohnen. Dies gelingt den russländischen Truppen offenbar mittels aus China gelieferter Radarsysteme.

Im Raum Sumy ist es den ukrainischen Truppen gelungen, den Gegner an der westlichen Flanke des Durchbruchs unter Druck zu bringen und zum Rückzug in Richtung Staatsgrenze zu zwingen. Im östlichen Bereich sind die Besatzungstruppen hingegen einen weiteren Kilometer vorgerückt. Um die Siedlung Junakivka wird seit mehr als einem Monat gekämpft, möglicherweise wird sie bis Ende Juli in die Hände der Okkupanten fallen. 200 Kilometer Luftlinie weiter östlich ist die russländische Armee bei dem Durchbruch um die Siedlung Milove im Gebiet Charkiv vorgerückt und greift bereits die dritte ukrainische Verteidigungslinie an. Hier könnte der ukrainischen Armee Ungemach drohen.

Im Raum Kostjantynivka ist es den russländischen Truppen gelungen, die südwestlich von Torec’k gelegenen Arbeitersiedlungen Petrivka und Ščerbynivka einzunehmen und die ukrainische Armee aus den nördlichen Außenbezirken der Stadt zu drängen, um von dort weiter in Kostjantynivka vorzurücken. Auch um den einige Kilometer westlich gelegenen Stausee von Kleban-Byk sind Kämpfe entbrannt.

Entscheidend ist aber weiter der Ausgang der Kämpfe im Bereich des Durchbruchs der Besatzungsarmee zwischen der Agglomeration von Pokrovs’k und Kostjantynivka. Die russländischen Truppen haben die wichtige Siedlung Razine am Fluss Kazennyj Torec’ erobert und greifen die Agglomeration nun von Nordosten an. Sie haben den Flusslauf stellenweise befestigt und rücken nun auf die ineinander übergehenden Siedlungen Rodyns’ke und Červonyj Lyman vor. Auf dem Weg dorthin befinden sich zwei größere Seen und das Werksgelände einer Kohlegrube – günstige Begebenheiten für die Verteidigung. Doch dies hängt davon ab, ob die Ukraine über ausreichend Soldaten, Waffen und Munition verfügt.

Im Raum Novosilke, wo die Front im Gebiet Donec’k in jene im Gebiet Zaporižžja übergeht, stoßen die Okkupationstruppen weiter entlang des Flusses Mokri Jaly vor und haben weitere Orte eingenommen. Ihr Ziel ist offensichtlich: Sie wollen die befestigte Siedlung Novosilke südlich umgehen, um sie dann von Westen anzugreifen.

Attacken auf die Verkehrsinfrastruktur und massiver Drohnenkrieg

Im Küstengebiet des Schwarzen Meeres hat Russland nach den ukrainischen Angriffen auf Eisenbahnlinien im besetzten Teil der Gebiete Zaporižžja und Cherson am 15. und am 19. Juli mit schweren Kampfdrohnen zwei Triebwagen der Ukrainischen Eisenbahnen zerstört. Die Ukraine reagierte ihrerseits mit Drohnenattacken auf Eisenbahnstrecken im Raum Rostov am Don. Am 19. Juli wurde eine Oberleitung zerstört, am 21. Juli das Stellwerk eines wichtigen Eisenbahnknotenpunkts in der Siedlung Kamenolomni. Dies ist eine neue Eskalationsstufe, denn in drei Jahren Krieg verzichteten beide Seiten weitgehend darauf, das Eisenbahnnetz des Gegners aus der Luft anzugreifen.

Indes weitet Russland seine Luftangriffe immer mehr aus. Jede Nacht werden andere ukrainische Städte mit Drohnenschwärmen Raketen angegriffen. Die beiden größten Städte des Lands, Kiew und Charkiv, sind mittlerweile fast immer darunter. Bei dem massivsten Angriff der dritten Juliwoche attackierte Russland die Ukraine in der Nacht auf den 21. Juli mit 427 Flugobjekten, davon nach ukrainischen Angaben 203 Drohnenattrappen, 200 Geran‘-Drohnen und 24 Raketen. Hauptangriffsziel war Kiew, wo mehrere Rüstungsbetriebe getroffen wurden. Neben Charkiv wurde aber auch das ganz im Westen des Landes gelegene Ivano-Frankivs’k attackiert. Dort galt die Attacke einem Zementwerk. In der gleichen Nacht griff die ukrainische Armee mit 113 Drohnen Russland an, ein Teil steuerte Ziele in den Gebieten Rostov und Moskau an.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.