„Auf Bajonetten kann man nicht sitzen"

Olʼga Romanova über Russlands Strafvollzug und Putins Sackgasse

12.2.2021

Die Gründerin der NGO „Russland hinter Gittern“, Ol’ga Romanova, sieht im Urteil gegen Aleksej Naval’nyj eine rechtsnihilistische, für Russlands Justiz aber repräsentative Farce. Sie erinnert daran, dass das Strafvollzugssystem seit dem späten Stalinismus nicht reformiert ist, Geheimdienstler dort das Sagen haben und die Haftbedingungen in einem Straflager des Normalvollzugs, wo Naval’nyj inhaftiert sein wird, prekär sind.

Osteuropa: Wie beurteilen Sie den Prozess gegen Aleksej Naval’nyj?

Ol’ga Romanova: Der Prozess war eine Farce. Aber Aleksej Naval’nyj hat Großartiges geleistet. Sein Mut ist ebenso beeindruckend wie seine Fähigkeit, öffentlich zu zeigen, was hinter einem solchen Prozess steckt. Jeder konnte sehen, wie derartige Verfahren in Russland ablaufen. Zuerst dieses unmittelbar nach seiner Festnahme anberaumte, völlig ungesetzliche Verfahren im Polizeigewahrsam, dann dieses Urteil, das am 2. Februar 2020 gefällt wurde und das ihn für lange Zeit ins Gefängnis bringt. Der Bewährungswiderruf wurde im Zusammenhang mit einem Prozess und einem Urteil von 2014 gefällt, das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2017 für rechtswidrig erklärt hatte.[1] Russlands Behörden hatten diese Entscheidung des EGMR akzeptiert und den Betroffenen, Aleksej Naval’nyj und seinem Bruder Oleg Naval’nyj, sogar den Schadensersatz geleistet, zu dem Russland verurteilt worden war. Damals war festgehalten worden, dass es in der fraglichen Strafsache überhaupt keine Geschädigten gegeben hatte. Insofern ist das Urteil absurd.

Osteuropa: Amnesty International kritisierte das Verfahren in der Polizeidienststelle als „Verhöhnung des Rechts“. Der Umgang mit Naval’nyj sei „beispiellos“.

Romanova: Leider nicht. Weder gibt es eine „besondere Rechtsauslegung im Fall Naval’nyj“, noch würde ich das Vorgehen der Justiz „beispiellos“ nennen. Was wir gesehen haben, ist typisch für das Rechtswesen in Russland. Wenn jemand meint, dass mit anderen Leuten anders umgegangen würde, liegt er falsch. Es kann allenfalls unterschiedliche Spielarten geben. Wenn jemand auf der Anklagebank sitzt, der dem Gericht näher steht, etwa ein Polizist, der Festgenommene gefoltert hat, oder ein korrupter Staatsdiener, dann wird sich das Gericht ebenso gesetzwidrig verhalten, jedoch zu seinen Gunsten: Er wird eine milde Strafe bekommen.

Osteuropa: Was heißt das für den Zustand der Gerichte?

Romanova: Schon lange ist das Gericht nur noch ein Gebäude mit einer Tafel, auf der „Gericht“ steht. In Russland gibt es keine unabhängige und gerechte Rechtsprechung mehr.

Osteuropa: Naval‘nyj ist zu zwei Jahren und acht Monaten Haft verurteilt worden. Er wird seine Strafe wohl in einem Lager im Normalvollzug (kolonija obščego režima) absitzen müssen.

Romanova: Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass Naval’nyj zu zwei Jahren und acht Monaten Lagerhaft verurteilt worden wäre. Er wird viel später freikommen, wenn überhaupt. Das hängt vollständig vom Willen einer einzigen Person ab, von Vladimir Putin. Es gibt allerlei Methoden, mit denen man ihn so lange in Haft halten kann, wie man es für nötig hält. Das sind offiziell natürlich streng „juristische Gründe“…

Naval’nyj kommt nicht sofort in ein Straflager zum Normalvollzug. Zunächst steht noch das Berufungsverfahren an. Ich gehe davon aus, dass es danach zu weiteren Anklagen gegen Naval’nyj kommen wird. Seine Haftzeit dürfte nächstes oder übernächstes Jahr auf zehn Jahre heraufgesetzt werden. Vorläufig bleibt er in Einzelhaft im Moskauer Untersuchungsgefängnis „Matrosenruhe“ (Matrosskaja tišina).

Osteuropa: Wie haben wir uns die Haftbedingungen im Normalvollzug vorzustellen?

Romanova: Naval’nyj dürfte in ein Lager etwa 500 km von Moskau entfernt kommen. Diese Lager liegen in der Regel bei einem kleinen Ort in Regionen, die schwer zu erreichen sind. Das eigentliche Lager ist etwa vier Hektar groß. Darauf befinden sich ein- und zweistöckige Ziegelbauten. Diese Lager wurden vor mindestens 50 Jahren errichtet, ihr Zustand ist schlecht. Sie sind mit mehreren Reihen Betonmauern und Stacheldraht gesichert. Im Zentrum des Lagers steht eine Kirche. In der Regel sind in jedem Lager etwa 1000 Menschen inhaftiert. Die Häftlinge leben in Baracken zu jeweils 100 bis 120 Personen. Sie schlafen auf zweistöckigen Betten in Räumen, die ursprünglich für 50 bis 60 Personen vorgesehen waren. Pro Baracke gibt es eine Toilette mit einem Waschbecken. Tagsüber darf man sich nicht aufs Bett setzen, das wird bestraft. Essen darf man nur in der Kantine. Messer und Gabel gibt es nicht, nur Löffel. Das Lager hat zwei Teile: den Wohnsektor, in dem es allerdings verboten ist, sich frei zu bewegen, und den Arbeitssektor, wo auch Naval’nyj vermutlich arbeiten wird. Dort werden zum Beispiel Polizeiuniformen genäht. Die Arbeit wird nur minimal entlohnt.

Osteuropa: Wer sind die Häftlinge?

Romanova: Ungefähr ein Drittel der Gefangenen, die ihre Haft im Normalvollzug verbüßen, ist wegen „Drogendelikten“ verurteilt. Das sind keine Drogenbosse. Die kommen in Russland in ein Gefängnis. Es handelt sich vielmehr um Konsumenten. Drogenabhängige werden inhaftiert, nicht therapiert. Bis heute ist in Russland zum Beispiel eine Methadontherapie für Heroinabhängige untersagt.

Ein weiteres Drittel sind Kleinkriminelle, Diebe, Einbrecher, Hooligans und Schläger. Und das letzte Drittel sind Schwerverbrecher, Leute, die wegen Kindesmissbrauchs, Vergewaltigung, Mord oder Terrorismus einsitzen.

Viele dieser Inhaftierten geraten nur zufällig in ein solches Lager. Das ist den Besonderheiten der Rechtspraxis in Russland geschuldet. Man kann sagen, dass etwa ein Drittel der Gefangenen wirklich Kriminelle sind.

Osteuropa: Naval‘nyj dürfte der prominenteste Häftling Russlands werden. Bedeutet Prominenz Schutz? Und erhöht internationale Aufmerksamkeit seine persönliche Sicherheit?

Romanova: Prominenz schadet nicht. Insbesondere die internationale Aufmerksamkeit bietet Naval’nyj einen gewissen persönlichen Schutz. Aber keinen hundertprozentigen.

Osteuropa: Wie ist das Gefängnissystem in Russland organisiert? Wem untersteht es? Was ist der Unterschied zwischen einem Gefängnis und einem Straflager?

Romanova: Für die Gefängnisse ist der Föderale Vollzugsdienst (Federal‘naja služba ispolnenija nakazanij (FSIN)) zuständig. Dieser gehört zum Justizministerium. Die leitenden Vollzugsbeamten rekrutieren sich alle aus dem Inlandsgeheimdienst, dem FSB.

Das Wort „Gefängnis“ (tjur'ma) bedeutet im modernen Russischen so viel wie „Haftort“. Umgangssprachlich wird alles als „Gefängnis“ bezeichnet: die Untersuchungshaftanstalten (sledstvennyj izoljator), die Haftanstalten für Personen, denen eine Ordnungswidrigkeit vorgeworfen wird (specpriemnik), sowie alle Arten von Lagern (Arbeits- und Besserungslager, Erziehungslager etc.; ispravitelʼno-trudovoj lagerʼ, voskolonija). Juristisch gesehen ist das falsch. Echte Gefängnisse (tjurʼma) gibt es in Russland sehr wenige. Insgesamt sind es acht. Das ist eine spezielle Form des Strafvollzugs. Hier werden überwiegend Menschen inhaftiert, die wegen Kapitalverbrechen verurteilt wurden. Navalʼnyj befindet sich nicht in einem derartigen Gefängnis und wird auch kaum dorthin kommen. Er ist momentan im Moskauer Untersuchungsgefängnis „Matrosenruhe“. Dieses und das vor allem vom FSB genutzte Untersuchungsgefängnis „Lefortovo“, ebenfalls in Moskau, unterstehen dem Justizministerium. Alle anderen Untersuchungsgefängnisse unterstehen den regionalen Verwaltungen.

Je nach Urteil kann die Haft in einem Lager mit offenem Vollzug (kolonija poselenii), mit Normalvollzug (kolonija obščego režima) oder mit strengem Vollzug (kolonija strogogo režima) erfolgen. Es sind unterschiedliche Formen sogenannter „Besserungsanstalten“ (ispravitel’naja kolonija), in denen die Strafhaft mit der Pflicht zur Arbeit verbunden wird. Schließlich gibt es noch den Strafvollzug für lebenslänglich Verurteilte (kolonija dlja požiznenno osuždennych) und „geschlossene Gefängnisse“.

Osteuropa: Sind diese Lager oder Strafkolonien eher ein sowjetisches Relikt oder ein Spiegel der russländischen Gesellschaft?

Romanova: Russlands gesamte Gesellschaft ist ein sowjetisches Relikt! Um den „russischen Knast“ zu verstehen, muss man weit ausholen. Ende des 19. Jahrhunderts wurden in Südafrika während der Burenkriege die ersten Konzentrationslager eingerichtet. Diese billige und effiziente Methode fand in vielen Ländern Nachahmung. Vor allem zwei Länder haben das Lagersystem im 20. Jahrhundert durchgesetzt: die Sowjetunion ab den 1920er Jahren und das nationalsozialistische Deutschland in den 1930er Jahren. Was Konzentrationslager in Deutschland bedeuteten, ist bekannt.

In der Sowjetunion erhielt dieses System 1930 die Bezeichnung GULag, benannt nach der zuständigen Behörde, der Hauptverwaltung der Lager (Glavnoe upravlenie lagerej).

Osteuropa: Aber der GULag ist Geschichte …

Romanova: Gestatten Sie mir eine Metapher. Der GULag war ein feuerspeiender, blutrünstiger Drache, der die Menschen bei lebendigem Leibe verspeiste. Hundert Jahre sind vergangen, der Drache ist alt geworden und hat kein Feuer mehr, seine Krallen sind abgestumpft, und er hat nicht mehr so viel Appetit wie früher. Er sieht mehr aus wie eine alt gewordene Raupe. Aber es ist noch derselbe Drache. Er lebt immer noch.

Das gegenwärtige Strafvollzugssystem in Russland ist niemals – ich betone: niemals – grundlegend reformiert worden. Das Äußerste, was noch unter dem damaligen Geheimdienstchef Lavrentij Berija erfolgte, war, dass das Strafvollzugssystem nicht mehr den Tschekisten oder der Polizei untersteht, sondern ins Justizministerium eingegliedert wurde. Das ist alles. Auch heute wird das Strafvollzugssystem de facto vom FSB verwaltet. Das gesamte Führungspersonal kommt aus dem Inlandsgeheimdienst….

Aber das ist nicht anders als in der Freiheit. Ganz Russland steht unter Leitung von Geheimdienstlern, angefangen mit Putin. Viele Bürger mögen das sogar, eine starke Hand, Ordnung, die Sehnsucht nach der Großmacht…

Osteuropa: Haben sich der Haftvollzug und die Lage der Häftlinge durch Russlands Mitgliedschaft im Europarat verändert?

Romanova: Nein, die Haftbedingungen sind die gleichen geblieben. Aber Russlands Bürgerinnen und Bürger haben die Chance, sich mit einer Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu wenden, um ihre Rechte schützen zu lassen.

Osteuropa: Wie stehen Sie zur Forderung, Russland aus dem Europarat auszuschließen?

Romanova: Dadurch würde sich die Lage der Häftlinge mit Sicherheit verschlechtern.

Osteuropa: Sie haben 2008 die Organisation Rus' sidjaščaja (Russland hinter Gittern) gegründet, die sich für die Rechte und die soziale Unterstützung von Inhaftierten und ihren Angehörigen stark macht sowie bessere Haftbedingungen fordert. Ein Teil ihrer Organisation, der Wohlfahrtsfonds, wurde 2018 zum „Ausländischen Agenten“ erklärt.[2] Sie persönlich wurden kriminalisiert, der Veruntreuung von Spendengeldern bezichtigt und mussten Russland verlassen. Trotz dieser Schikanen setzen Sie ihre Arbeit fort: Was haben Sie erreicht?

Romanova: Unsere Anstrengungen hatten zunächst einige Ergebnisse gezeitigt. Wir haben uns für eine Reform des Strafvollzugssystems eingesetzt und auch einiges erreicht, haben Einfluss auf Gesetzesänderungen nehmen können. Doch seit der Annexion der Krim ist das vorbei. Rus‘ sidjaščaja hatte im Auftrag des staatlichen „Zentrums für strategische Entwicklung“ ein Reformkonzept für das Strafvollzugssystem in Russland entwickelt. All das wäre heute unmöglich.

Dank der Kooperation mit der Europäischen Kommission haben wir zunächst vier, heute sechs sogenannte „juristische Kliniken" in regionalen Haftanstalten eröffnet. Sie leisten humanitäre und juristische Hilfe und bieten Bildungsprojekte an. Wir geben den Versuch nicht auf, die Gesetzgebung zu ändern. Unsere wichtigste Arbeit ist jetzt der Kampf gegen die Sklavenarbeit in den Straflagern oder gegen die neue Praxis, Menschen, die aus dem Gefängnis entlassen wurden, die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Und wir werden weiter an einem Konzept zur Reform des Strafvollzugssystems arbeiten. Früher oder später wird das gefragt sein.

Osteuropa: Wie erklären Sie das massive Vorgehen der Behörden gegen die Demonstranten am 23. und 31. Januar sowie am Tag der Verhandlung gegen Aleksej Naval’nyj am 2. Februar sowie die hohe Zahl an Festnahmen?

Romanova: Putin hat seine Strategie im Kampf gegen politische Gegner und unzufriedene Bürger geändert. Er hat gezeigt, dass er mit allen gnadenlos abrechnen wird. Allerdings wird das bald für ihn zum Problem werden. Talleyrand hat das Problem gut auf den Punkt gebracht: „Auf Bajonette kann man sich stützen, aber man kann nicht auf ihnen sitzen.“ Putin hat sich auf die Bajonette gesetzt. Jetzt ist er eine Geisel der siloviki, der Gewaltapparate. Einen Rückweg hat er sich selbst abgeschnitten.

Osteuropa: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung in Belarus und in Russland?

Romanova: Ohne Zweifel hat der Protest in Belarus die Machthaber in Moskau und Putin persönlich in Angst und Schrecken versetzt. Dies erklärt zum Teil die Brutalität, mit der das Regime auf die Proteste reagiert. Belarus hat die erste Etappe des Protests für uns mit absolviert. In Russland ist es ohne Lieder abgegangen, ohne Blumen für die Schergen und ohne Umarmungen der Sondereinsatztruppen OMON. Dergleichen wird es bei uns nicht mehr geben.

Osteuropa: Stärkt oder schwächt die Inhaftierung von Naval’nyj das Putin-Regime?

Romanova: Das wissen wir nicht. Der Ausgang ist offen.

Die Fragen stellte Manfred Sapper. Aus dem Russischen von Vera Ammer, Euskirchen


[1] Dazu im Detail: Otto Luchterhandt: Missbrauch des Strafrechts. Das „System Putin“ im Kampf gegen Aleksej Naval’nyj, in: Osteuropa, 1–2/2015, S. 95–124 sowie unter <www.zeitschrift-osteuropa.de/blog/missbrauch-des-strafrechts/>.

[2] Zur Kampagne gegen „ausländische Agenten“: Grigorij Ochotin: Agentenjagd. Die Kampagne gegen NGOs in Russland, in: Osteuropa, 1–2/2015, S.83–94, online <www.zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2015/1-2/agentenjagd/>.