Von strategischer Bedeutung

Die Rückgewinnung von Cherson durch die ukrainische Armee

Nikolay Mitrokhin, 9.11.2022

Russland zieht seine Truppen vom rechten Ufer des Dnepr zurück. In Russland sprechen kremlnahe Medien und Kriegsblogger von einer großen Bitterkeit, mit der diese Niederlage sie erfülle. Die ukrainische Führung und die ukrainischen Medien kommentieren die Ankündigung bislang zurückhaltend. Sie vermuten einen Hinterhalt.[1] Die ukrainischen Streitkräfte werden erst in einigen Tagen bis zur Antonov-Brücke in Cherson vorrücken.

Doch die zum erneuten Angriff blasenden russländischen und die zur Vorsicht mahnenden ukrainischen Stimmen geben nicht wieder, welch strategische Bedeutung diese Niederlage der russländischen Armee hat. Immer deutlicher zeigt sich, dass diese den Krieg verliert – und ihn bereits in den ersten Wochen nach dem Überfall am 24. Februar 2022 zu verlieren begann.

Dies sind die Folgen des Rückzugs vom rechten Ufer des Dnepr:

  1. Die Ukraine erringt die Kontrolle über die Hälfte des Gebiets Cherson und über die einzige Gebietshauptstadt zurück, die Russland hatte erobern und besetzen können. Im Gebiet Mykolajiv befreit sie den einzigen Landkreis, den Russland dort unter seine Kontrolle gebracht hatte. Dieses Gebiet steht nun wieder vollständig unter ukrainischer Kontrolle. Dieser Erfolg übersteigt jenen der Operation bei Izjum und Lyman Ende September 2022.[2] Es ist der größte Erfolg der ukrainischen Armee seit der Befreiung des Nordens und Nordostens des Landes im März und April.
  2. Damit ist die strategische Gefahr beseitigt, die von dem Aufmarschgebiet der russländischen Armee am rechten Ufer des Dnipro ausging. Von dort hätte Russland im Falle eines ungünstigen Kriegsverlaufs für die Ukraine ins Zentrum des Landes vorstoßen und den halben Osten sowie den gesamten Süden abschneiden können. Ebenso wäre von dort ein Vorstoß nach Süden möglich gewesen – mit Einkreisung der Großstadt Mykolajiv und Odessa als Ziel. Und ein Vordringen westlich von Kryvoj Rih mit dem Ziel, die Städte Zaporižžja und Dnipro von den weiter westlich gelegenen Gebieten der Ukraine abzuschneiden.
  3. Diese Gefahr besteht nun nicht mehr, denn einen erneuten Vorstoß über den Dnipro wird die ukrainische Armee zu verhindern wissen. Selbst wenn der Krieg in den kommenden Monaten einen eher ungünstigen Verlauf für die Ukraine nehmen sollte, ist eine Zerstörung des ökonomischen und militärischen Potentials des Landes nun ausgeschlossen. Der gesamte unter der Kontrolle der ukrainischen Truppen stehende Süden des Landes ist nun strategisch sicher. Eine Landung von Meerseite ist schon lange nicht mehr möglich, der Dnipro verhindert nun auch einen Vorstoß von Bodentruppen.
  4. Die ukrainischen Streitkräfte können daher zwei große Verbände, die Gruppierung um Mykolajiv und die um Kryvoj Rih, zu einem Verband bei Cherson zusammenziehen, der wesentlich weniger stark mit Soldaten und Material ausgestattet sein muss. Vor allem die dringend an anderen Kriegsschauplätzen benötigten Sturmbataillons sowie gepanzerte Fahrzeuge können dorthin verlegt werden. Da die ukrainische Armee das hohe rechte Dnipro-Ufer kontrollieren wird, muss sie keine durchgehende Verteidigungslinie mit dicht beieinanderliegenden befestigten Stellungen mehr aufrechterhalten. Es genügt, mit einer kleineren Truppenzahl mögliche Versuche einer erneuten Überschreitung des Dnipro zu verhindern, insbesondere durch sofortigen Artilleriebeschuss von Behelfsbrücken und Fähren. Die gutausgebildeten Einheiten können abgezogen werden, insbesondere in Richtung Zaporižžja.
  5. Russland hingegen kann entlang der 300 Kilometer umfassenden neuen Südfront nicht nur Behelfstruppen zur Verhinderung eines Übersetzens der ukrainischen Armee einsetzen. Vielmehr muss es eine komplette neue Verteidigungslinie aufbauen – und dies in erheblichem Abstand zum Dnipro, denn von den Anhöhen am Nordufer kann die ukrainische Artillerie die flache Südseite in Dutzende Kilometer Tiefe unter Beschuss nehmen. Anders als die russländischen Truppen ist die ukrainische Armee durchaus in der Lage, den Dnipro zu überschreiten. Daher muss Russland zwecks Verteidigung der eroberten Gebiete dort erhebliche Truppen einsetzen. Andernfalls kann die Ukraine bis zu der Landenge vorstoßen, die zur Krim führt, und somit den gesamten Verband der russländischen Armee bei Zaporižžja abschneiden. Für Russland werden also mit diesem Rückzug kaum Kräfte frei, die an anderen Frontabschnitten eingesetzt werden könnten.
  6. Zudem muss Russland die Bewohner von Kachovka, Nova Kachovka, Oleški, Hola Prystan‘ und anderen Städten am linken Ufer des Dnipro aussiedeln. Zumindest wird dort jede Wirtschaftstätigkeit zum Erliegen kommen, und das ohnehin geringe ökonomische Potential der noch von Russland kontrollierten Teile des Gebiets Cherson wird sich dann weiter stark reduzieren. Im gleichen Maße wächst das Problem mit der Unterbringung der ausgesiedelten Bevölkerung.
  7. Dies eröffnet der Ukraine potentiell die Möglichkeit für einen Vorstoß von allergrößter Bedeutung: ein Durchbrechen der Front bei Huljaj-Pole oder Uhledar mit einem Vorrücken auf kurzem Weg durch die dünnbesiedelte und mit Himars-Artillerie leicht abzudeckende Steppe in Richtung Berdjans’k, Melitopol‘ oder Mariupol‘. Dies gilt umso mehr, als die russländische Armee mit dem Herbst ihre Verstecke vor Aufklärungs- und Kampfdrohnen in den Waldstreifen der Region verloren hat. Es könnte der Ukraine gelingen, den gesamten Süden zu befreien und die russländischen Truppen dorthin zurückzutreiben, wo sie hergekommen sind: auf die Krim. Russlands Armee hat, bislang jedoch eher träge, bei Mariupol‘ und weiter westlich im Küstenbereich nördlich der zur Krim führenden Arabat-Nehrung bereits mit den Vorbereitungen zur Verhinderung eines solchen Durchbruchs begonnen.
  8. In Moskau kann die kampflose Übergabe von Cherson – der Hauptstadt eines zum russländischen Staatsgebiet deklarierten ukrainischen Gebiets – nicht mehr wie im Falle des Zusammenbruchs im Gebiet Charkiv als Fehler der Armeeführung interpretiert und dargestellt werden und auch nicht wie im Falle des Rückzugs aus dem ukrainischen Norden und Nordosten im April als Fehler bei der Planung des Kriegs. Vielmehr ist offensichtlich, dass der gesamte Krieg in seiner ursprünglichen Planung verloren ist, weil die Ambitionen der politischen Führung und die Eitelkeit der Armeeführung von Beginn an zu grundlegenden Falschannahmen geführt haben. Dies hat mittlerweile sogar der dem Militärgeheimdienst nahestehende Telegram-Kanal mit 1,1 Millionen Abonnenten „Rybar‘“ konstatiert.[3] Viele Monate hatten die Kriegsbegeisterten nach einer Massenmobilmachung gerufen und gefordert, der Kriege müsse „endlich mal richtig“ geführt werden, womit massive Schläge gegen die ukrainische Infrastruktur gemeint waren. Ende Oktober wurden ihnen beide Wünsche erfüllt. Und beides hat nicht verhindert, dass Russlands Armee eine weitere verheerende Niederlage erlitten hat. Vielmehr hat sich die Schwäche der Armee noch mehr offenbart: Sie erwies sich als unfähig, eine einigermaßen geregelte Mobilmachmachung durchzuführen, die Eingezogenen auszubilden und unter Waffen zu bringen, um mit ihrer Hilfe die Lage im Gebiet Cherson zu entschärfen. Und sie verfügt nicht einmal über ausreichend Raketen, um die ukrainische Strominfrastruktur zu zerstören.[4]

In Moskau wird man sich langsam klar darüber, dass von einem neuen Vorstoß zum Zwecke der „Denazifizierung“ und „Demilitarisierung“ keine Rede mehr sein kann, und die Frage, die sich stellt, lautet: Wird der Donbass, werden die Gebiete, die vor dem großen Angriff am 24.2. bereits seit acht Jahren besetzt waren, wird die Krim unter der Kontrolle Russlands bleiben? Denn eine Vorstellung liegt definitiv in Trümmern: dass Russlands Armee der ukrainischen grundsätzlich überlegen ist und am Ende eines langen Kriegs trotz allem den Sieg davontragen kann.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin


[1] Siehe etwa die Rede des Präsidenten Volodymyr Zelens’kyj am Abend des 9.11.2022: Voroh ne robyt' nam podarunkіv ta «žestіv dobroї volі», my vse ce vyborjuemo – zvernennja Prezidenta Ukraїny. (Der Feind macht uns keine Geschenke und zeigt keinen „guten Willen“, wir erkämpfen dies alles), <www.president.gov.ua/news/vorog-ne-robit-nam-podarunkiv-ta-zhestiv-dobroyi-voli-mi-vse-79061>

[2] Dazu: https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/die-militaerische-lage-in-der-ukraine/

[3] https://t.me/rybar/41019

[4] Die Mitarbeiter des Kanals Rybar‘ haben eine Auswertung von Satellitenbildern eines ukrainischen Umspannwerks veröffentlicht, das zu der 750kV-Höchstspannungs-Drehstrom-Freileitung gehört, die das ukrainische Vinnycja mit dem zentralungarischen Albertisa verbindet. Aus der Auswertung geht hervor, dass nach drei Raketeneinschlägen nur eine sehr kleine Anzahl der dortigen Anlagen massiv beschädigt ist und die Ukraine neue Mauern und Wälle zum Schutz vor Splittern und Bränden errichtet hat. <https://t.me/rybar/40989>.