Auf der Kippe
Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 166. Kriegswoche
Nikolay Mitrokhin, 26.5.2025
Nachdem Russland ernsthafte Gespräche über einen Waffenstillstand abgelehnt hat, stehen die Zeichen auf Sturm. Die Okkupationstruppen haben im Gebiet Donec’k einen gefährlichen Durchbruch erzielt. Die letzten von der Ukraine in diesem Gebiet gehaltenen großen Städte sind in Gefahr. Russland könnte zudem einen Angriff auf die Ukraine von Norden starten, um eine schon lange angekündigte „Pufferzone“ zu schaffen. Beide Seiten haben zudem die während der Vorverhandlungen reduzierten Luftangriffe wieder aufgenommen.
Die Gespräche über einen Frieden in der Ukraine scheinen sich als das erwiesen zu haben, für was viele sie vom ersten Moment an gehalten hatten: eine Totgeburt. Russland hat einen 30-tägigen Waffenstillstand entlang der Frontlinie endgültig abgelehnt und stattdessen die Forderung erhoben, die ukrainische Armee müsse sich aus den von ihr noch gehaltenen Teilen der von Russland im September 2022 völkerrechtswidrig annektierten Gebiete zurückziehen. Zudem hat der Kreml erneut die Schaffung einer 30 Kilometer breiten „Pufferzone“ entlang der Grenze angekündigt, die in den ukrainischen Gebieten Charkiv und Sumy liegen soll. Beide Seiten haben ihre Luftangriffe wieder verstärkt.
Dennoch hat sich etwas verändert. Die Ukraine kommentiert die in Istanbul aufgenommenen Gespräche trotz der geringen Ergebnisse recht positiv. Am 23. Mai erklärte Außenminister Sybiha überraschend, Kiew arbeite weiter daran, dass ein direktes Treffen zwischen den Präsidenten Zelens’kyj und Putin zustande komme. Ein greifbares Resultat der bisherigen Gespräche ist der große Gefangenenaustausch, der vom 23.-25. Mai abgewickelt wurde und bei dem beide Seiten je 1000 Menschen freigelassen haben. Darunter befanden sich je 120 Zivilisten, auf deren Austausch sich beide Seiten besonders schwer einigen können. Die Ukraine gibt an, 70 Kollaborateure übergeben zu haben, darunter drei wegen Spionage verurteilte Personen. Moskau erklärte, Kiew habe 120 Personen freigelassen, die die Ukraine nach ihrem Einmarsch in das russländische Gebiet Kursk inhaftiert habe. Überprüfen lässt sich dies nicht, da der Austausch der Zivilisten anders als jener der aus der Kriegsgefangenschaft entlassenen Soldaten abseits der Öffentlichkeit stattfand. Nach Abschluss des Austauschs erklärte der für diesen auf Seiten Russlands zuständige stellvertretende Verteidigungsminister Aleksandr Fomin, der Austausch habe „eine günstige Atmosphäre für Gespräche über eine Regulierung der Ukrainekrise geschaffen.“ Solche Formeln hatte es bei ähnlichen Gelegenheiten bislang nicht gegeben.
Putins „Pufferzone“ – große Töne, unklare Aussichten
Bei einem Besuch im Gebiet Kursk hat Vladimir Putin erklärt, zum Schutz der Bevölkerung werde eine 30 Kilometer breite Pufferzone auf ukrainischem Territorium geschaffen. Dies ist bereits das achte Mal seit Juni 2023, dass er eine solche Ankündigung gemacht hat. Bei dem bislang einzigen Versuch, diese umzusetzen, sind Russlands Truppen im Norden des Gebiets Charkiv wegen des gut organisierten ukrainischen Widerstands gerade einmal 15 Kilometer weit gelangt – und dies nur auf einer der vier Angriffsachsen. Der Vorstoß endete mit schweren Kämpfen um die acht Kilometer hinter der Grenze liegende Stadt Vovčansk, die die Moskauer Truppen nur zur Hälfte besetzen konnten. Im Verlauf der Kämpfe wurde sie vollständig zerstört. Am Ort des tiefsten Vorstoßes nahe der Siedlung Lipcy wurden die Okkupationstruppen im Laufe des Jahres 2024 weitgehend zurückgedrängt und verloren bei den Kämpfen offenbar zwei Regimenter.
Selbst einige russländische Militärblogger ziehen in Zweifel, dass es zur Schaffung der „Pufferzone“ kommt. Diese würde ein riesiges Territorium umfassen, in dem die naturräumlichen Bedingungen günstig für die ukrainischen Verteidiger sind. Das Grenzgebiet ist stark bewaldet, es gibt zahlreiche Sümpfe, häufig verläuft die Grenze entlang von Flüssen und Bächen. Zudem hat die Ukraine in großer Zahl Minen ausgelegt und ist anscheinend gut auf die Verteidigung vorbereitet. Ukrainische Militärblogger geben sich zudem überzeugt, dass die an der Reichweite gängiger Artilleriegeschütze orientierte Entfernung von 30 Kilometern ohnehin durch die Fortschritte in der Drohnentechnik obsolet sei, da die unbemannten Flugobjekte mehrere Dutzende bzw. je nach Typ auch mehrere hundert Kilometer tief in das Hinterland des Gegners vordringen können.
Gleichwohl gibt es Anzeichen, dass Russland einen Angriff entlang der Grenze vorbereitet. Dazu zählt die Ernennung von Andrej Mordičev zum Oberkommandierenden des Heers. Mordičev hatte die Belagerung und Eroberung von Mariupol‘ befehligt und gilt als ein Armeeführer mit besonders harter Einsatztaktik. Der Besuch von Verteidigungsminister Belousov an der Front am 20. Mai bei der Heeresgruppe Zentrum sowie Putins Aufenthalt in Kursk sowie im AKW Kursk, wo möglicherweise der Stab der Heeresgruppe Nord untergebracht ist, dienten vielleicht einer letzten Überprüfung vor Beginn des Angriffs.
Die Lage an der Front
Die Situation im Osten der Ukraine hat sich in der 166. Kriegswoche weiter zu Ungunsten der Ukraine entwickelt. Die Bäume in den Wäldern entlang der Front tragen mittlerweile dichtes Laub, das die Angreifer vor der Entdeckung und anschließenden Drohnenattacken schützt. Zudem setzt die Okkupationsarmee mittlerweile selbst deutlich mehr Drohnen ein, die tief ins ukrainische Hinterland eindringen und die Versorgung der an vorderster Front kämpfenden Soldaten sowie die Evakuierung von Verletzten erschwert. Der Einsatz von Drohnen in einer Tiefe von 30-40 Kilometern ist möglich geworden, da Russland diese nun mit einer doppelten Batterie ausstattet und sie mittels Transmitter-Drohnen steuert, die in großer Höhe über dem Kampfgebiet fliegen und es der ukrainischen Drohnenabwehr erschweren, die Kommunikation zwischen dem Drohnenführer und der bodennah eingesetzten FPV-Drohne zu unterbrechen. Die von der Transmitter-Drohne detektierten ukrainischen Stellungen werden zudem unter Artilleriebeschuss genommen und mit Gleitbomben angegriffen. Die Ukraine hat bislang nur in geringer Stückzahl Drohnen entwickelt, die für die Bekämpfung der hochfliegenden Drohnen eingesetzt werden können.
All dies hat dazu geführt, dass die Besatzungsarmee im Raum zwischen Torec’k und Pokrovs’k einen Durchbruch erzielen konnte. Die Okkupationstruppen sind über Novoolenivka nach Novoekonomične vorgestoßen und haben das unter ihrer Kontrolle stehende Gebiet in Richtung Kostjantynivka ausgeweitet. Es besteht nicht mehr nur die Gefahr, dass sie die Agglomeration Pokrovs’k von Norden her einkreisen. Vielmehr ist der große ukrainische Verband bedroht, der Torec’k von Norden und Časiv Jar von Süden her schützt. Er könnte gezwungen sein, nach Kostjantynivka abzuziehen. Diese Stadt hatte vor Beginn der russländischen Aggression im Jahr 2014 94 000 Einwohner, vor dem Überfall im Februar 2022 lebten noch knapp 67 000 Menschen dort. Heute ist sie das letzte ernsthafte Hindernis, das Russland an einem Vorrücken in Richtung Westgrenze des Gebiets Donec’k und der dort gelegenen, bislang noch bewohnten Städte Slovjans’k und Kramators‘k hindern kann. Kostjantynivka ist allerdings in west-östlicher Richtung stark in die Länge gezogen, was eine Verteidigung erschwert.
Die weitere Entwicklung in diesem Raum ist vollständig offen. Gelingt es den Besatzern, die sich südlich von Kostjantynivka erstreckende Siedlung Jablunivka rasch einzunehmen – am 24. Mai konnten russländische Soldaten erstmals bis zu deren Außenbezirken vorstoßen, muss die Ukraine die bei Torec‘k stehenden Truppen nach Kostjantynivka abziehen. Schaffen es die ukrainischen Verteidiger nicht, einen Durchstoß und ein rasches Vorrücken des Gegners über die offene Landschaft bis zum südlichen Rand von Kostjantynivka zu verhindern, dann muss auch der bei Časiv Jar stehende Verband abgezogen werden. Dies kann ein halbes oder auch ein ganzes Jahr dauern, wenn der Krieg wie bislang verläuft. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass die ukrainische Front an dieser Stelle zusammenbricht und sich die Lage in nur zwei Wochen dramatisch verändert. Hinweise auf eine ungünstige Entwicklung gibt es: Die Ukraine hat bereits begonnen, Truppen aus der „Tasche“ südwestlich von Torec’k abzuziehen. Fest steht, dass die ukrainischen Reserven, die den Durchbruch von Novoolenivka nach Novoekonomične stoppen sollten, dies nicht vermochten und die Ukraine jetzt ein massives Problem hat.
Verschlechtert hat sich die Lage der ukrainischen Armee auch im äußersten Südwesten des Gebiets Donec’k. Dort ist die Okkupationsarmee dabei, die letzten ukrainischen Befestigungsanlagen bei den Siedlungen Bahatyr’ und Otradne zu überwinden. An mindestens zwei Stellen sind die russländischen Truppen nur noch einen Steinwurf von der Grenze zum Gebiet Dnipropetrovs’k entfernt. Es steht so gut wie fest, dass die Besatzer die Grenze zwischen den beiden Gebieten in den kommenden zwei Wochen erreichen. Die Frage ist: Bleiben sie dort stehen und errichten Verteidigungsstellungen, die eine Rückeroberung verhindern sollen, oder rücken sie weiter vor in das Gebiet Dnipropetrovs’k?
Luftangriffe
Beide Kriegsparteien haben während der Phase des eingeschränkten Luftkriegs im Zuge der Verhandlungen über einen Waffenstillstand einige Tausend Raketen und Drohnen angehäuft. Diese haben sie nun in der 166. Kriegswoche eingesetzt und jede Nacht Angriffe mit bis zu 300 Drohnen geflogen.
Der Ukraine gelang es, mit massiven Angriffen Russlands Luftabwehr zu überlasten und in kriegsrelevanten Betrieben in mehreren westlich von Moskau gelegenen Gebieten große Schäden zu verursachen.
Russland hat vor allem die modernisierte Variante der Geran‘-Drohnen eingesetzt, die nun mit einer Geschwindigkeit von mehr als 400 km/h fliegen und so für ältere Methoden der Flugabwehr, insbesondere für die mit Maschinengewehren ausgerüsteten mobilen Brigaden, nicht erreichbar sind. Und die Zahl der Flugabwehrraketen, über die die Ukraine verfügt, reicht für solche massiven Angriffe bei weitem nicht aus. So hat es in dem normalerweise gut geschützten Antonov-Betrieb am westlichen Stadtrand von Kiew, wo Drohnen und Raketen produziert werden, fünf Einschläge gegeben, die erhebliche Schäden verursacht haben. Auch die westlich von Kiew gelegenen Gebiete Žytomir, Chmel’nic’kyj und Ternopil’ waren Ziel von Angriffen. Die meisten Drohnen wurden hier jedoch mit Hilfe der aus dem Westen gelieferten Kampfflugzeuge – darunter 20 F-16 aus den Niederlanden – abgefangen. Gleichwohl gelang es nicht, alle mit Sprengstoff beladenen Flugobjekte zu zerstören. Bei einem Einschlag im Gebiet Žytomir starben in der Nacht auf den 25. Mai drei Kinder einer Familie.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.