Aufatmen an der Front, Spannung im Land
Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 173. Kriegswoche
Nikolay Mitrokhin, 14.7.2025
Der ukrainischen Armee ist es überraschend gelungen, den Vormarsch der russländischen Truppen im Osten des Landes zu verlangsamen. Dies gelingt vor allem durch Drohnenangriffe auf die frontnahen Nachschublinien. Ein Teil der ukrainischen Gesellschaft ist jedoch kriegsmüde. Dies zeigt sich an der Wut über Rekrutierungspraktiken, Freude über Luftangriffe auf Wehrersatzämter und einer Zunahme von Anschlägen, die auf das Konto von Personen gehen, die der russländische Geheimdienst in der Ukraine angeworben hat.
Die trilateralen Gespräche zwischen Russland, der Ukraine und den USA sind nach ihrer faktischen Einstellung nun auch offiziell beendet. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kislica hat noch einmal festgehalten, worum es sich in Istanbul handelte: nicht um einen Dialog, sondern um ein Ultimatum Russlands.
Erstmals seit Anfang Juni haben Russland und die Ukraine in der zweiten Juliwoche keine Gefangenen und keine Leichen getöteter Soldaten ausgetauscht.
Vor Kislicas Äußerung hatte es bei einem Treffen der Außenminister Russlands und der USA am 10. Juli am Rande des ASEAN-Gipfels in Malaysia keine Einigung auf eine Grundlage für neue Gespräche zum Thema des Kriegs in der Ukraine gegeben. Anders sieht es in der Iran-Frage aus. Russland hat erklärt, ebenfalls eine Beendigung des iranischen Atomprogramms anzustreben, und Bereitschaft signalisiert, das hochangereicherte Uran aus dem Iran zu übernehmen. Die Kooperation zwischen den USA und Russland in dieser Frage macht es unwahrscheinlich, dass US-Präsident Trump seine Gangart gegenüber Moskau in den kommenden Monaten verschärft, insbesondere wenn die USA erneut Atomanlagen im Iran bombardieren sollten. Gleichwohl hat Trump grünes Licht für die Wiederaufnahme der Waffenlieferungen an die Ukraine gegeben und erklärt, er stimme einem Kauf zweier Patriot-Flugabwehrsysteme durch die Bundesrepublik zwecks Übergabe an die Ukraine zu.
Die Lage an der Front
Im Osten der Ukraine ist der Vormarsch der Okkupationstruppen in der zweiten Juliwoche unerwartet zum Halt gekommen. Die Ursache ist nicht klar. Möglich ist, dass Russland in den neueroberten Gebieten zunächst militärische Infrastruktur errichten will. Vielleicht ist es der Ukraine auch gelungen, mit Reservetruppen den Gegner zu stoppen. Für diese Annahme spricht, dass die russländischen Militärkanäle von starker Gegenwehr der ukrainischen Truppen im Raum Sumy berichten sowie von gescheiterten Versuchen der eigenen Armee, von Norden auf Kupjans’k und von Osten auf Severs’k vorzurücken. Lediglich im „Dreiländereck“ der Gebiete Donec’k, Zaporižžja und Dnipropetrovs’k ist offenbar die Siedlung Myrne an die Okkupanten gefallen.
Die ukrainischen Kanäle zeigen ihrerseits erfolgreiche Angriffe auf gepanzerte Fahrzeuge des Gegners an der Front sowie auf Artilleriegeschütze und Radaranlagen im frontnahen Hinterland des besetzten Teils des Gebiets Zaporižžja. Bei solchen Angriffen ist am 2. Juli nicht nur wie zunächst bekannt geworden war, der vormalige Kommandeur der 155. Marineinfanteriebrigade Michail Gudkov, sondern auch sein Nachfolger auf dem Kommandeursposten Sergej Il’in getötet worden.
Entscheidend für den einstweiligen Stopp des Vormarschs der Okkupationstruppen könnte sein, dass gerade im besonders gefährdeten Raum Kostjantynivka–Pokrovs’k Truppen, die die ukrainische Frontlinie durchbrochen haben, kaum aus dem Hinterland versorgt werden können. Denn oft kontrollieren die ukrainischen Drohnenpiloten den Versorgungskorridor und greifen erfolgreich die Nachschublinien an. In den russländischen Militärkanälen ist eine Diskussion darüber entbrannt, wie die Versorgung umgestellt werden könnte. Die Nutzung kleinerer Wege und die Einrichtung von mehr Zwischenlagern verspricht nur in Waldgebieten Erfolg für die Okkupanten. 60 Prozent der Front verlaufen jedoch durch die Steppe, wo es lediglich einzelne kleinere Waldstreifen gibt, welche die Felder voneinander trennen. Diese Baumgruppen hat die ukrainische Armee jedoch zu einem großen Teil durch gezielten Artilleriebeschuss sowie den Einsatz von Drohnen mit Brandsätzen abgebrannt. Selbst auf Motorrädern und Quads ist die Versorgung der vordersten Frontlinie kaum mehr möglich.
Russländische Luftangriffe auf ukrainische Wehrersatzämter
Russland hat am 11. Juli in Odessa am helllichten Tag ein Wehrersatzamt mit Kampfdrohnen angegriffen. Dies ist mindestens die sechste solche Attacke seit Mitte Juni. Am 11. Juni galt ein solcher Angriff einem Einberufungszentrum in Charkiv, am 30. Juni in Kryvyj Rih, am 3. Juli in Poltava, am 6. Juli in Kremenčuk, am 7. Juli in Zaporižžja und am selben Tag erneut in Charkiv. Russländische Militärblogger spekulieren offen darauf, dass solche Attacken nicht nur der Ukraine die Rekrutierung neuer Soldaten erschweren, sondern auch von jenen Ukrainern begrüßt werden, die das Vorgehen der Wehrersatzämter bei der Aushebung von Rekruten kritisch sehen.
Besonders groß ist der Ärger über das „Verbussen“ – willkürliche Verhaftungen von Männern auf der Straße, die von Mitarbeitern der Wehrersatzämter in Kleinbusse gezerrt werden – und oft gegen Bestechungszahlung freigelassen werden. Gerade erst ist bekannt geworden, dass der vormalige Leiter des Wehrersatzamts im westlich von Kiew gelegenen Brovary Jurij Burljaj (August 2022–November 2024), der mittlerweile in den Generalstab aufgestiegen ist, während seiner Zeit als Chef der Rekrutierungsbehörde große Vermögen angehäuft hat. Burljaj ist zugleich in einem seit langem laufenden Prozess angeklagt, in dem ihm vorgeworfen wird, im Jahr 2016 als Mitarbeiter der Polizei an Raubüberfällen beteiligt gewesen zu sein. In Zaporižžja wurden Mitarbeiter eines Wehrersatzamts verhaftet, die gegen Bestechungsgelder Männer, die sich der Einberufung entzogen hatten, aus der Fahndungskartei ihrer Behörde genommen hatten.
Es sind zahlreiche Fälle bekannt, in denen Männer, die von der Straße weg verhaftet worden waren, unter Missachtung der Bestimmungen zur Freistellung vom Wehrdienst etwa für Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen, an die Front verbracht wurden, wenn die Angehörigen nicht zur Zahlung von Bestechungsgeldern in der Lage waren.
Zur Empörung über solche Fälle kommt eine allgemeine Frustration in Teilen der ukrainischen Gesellschaft. Diese macht sich insbesondere unter jenen breit, die im Frühjahr darauf gehofft hatten, dass die Gespräche in Istanbul zu einer Waffenruhe führen könnten, und jetzt die massiven Luftangriffe Russlands erleben.
Diese Stimmung und insbesondere die Freude über die Angriffe auf Wehrersatzämter ist nicht unbemerkt geblieben. In der politischen Diskussion über den Umgang damit äußerte der rechtsradikale Politiker und Militärbeobachter Evhen Dikyj, ein ehemaliger Kommandeur des Bataillons Ajdar, im Interview mit der Presseagentur UNIAN, solche Leute müssten „wie Feinde vernichtet werden“.
Unabhängig davon gibt es in der Ukraine bereits eine „Armee“ von Deserteuren. Nach Angaben des Journalisten und ehemaligen Soldaten Volodymyr Bojko wurden alleine im ersten Halbjahr 2025 wegen Fahnenflucht 107 000 Strafverfahren nach den Paragraphen 407 und 408 des Strafgesetzbuchs eröffnet. Seit Februar 2022 seien 230 000 Verfahren eröffnet worden. Die Strafverfolgungsbehörden würden jedoch, so Bojko, der sich mit der Frage seit langem beschäftigt, nicht ernsthaft gegen Deserteure vorgehen. Vielmehr komme es häufig vor, dass Personen mit Geld oder einem gewissen Grad an Bekanntheit, die sich nicht der Einberufung entzogen haben, zwar einer Kampfeinheit der Armee zugeordnet sind, sich tatsächlich aber gar nicht dort befinden, sondern weiter ihrem zivilen Leben nachgehen.
Mehr Sabotagefälle in der Ukraine
Der Stimmungswandel in Teilen der ukrainischen Gesellschaft schafft Angriffsflächen für die Moskauer Geheimdienste. Diese werben gezielt Saboteure an. Die Zahl der Anschläge in der Ukraine hat im Jahr 2025 zugenommen, zudem sind sie schwerer als in den ersten beiden Kriegsjahren. Am 19. Februar 2025 wurden etwa in Gvardejs’k im Gebiet Odessa der Aktivist des „Rechten Sektors“ Al’bert Kručynin und seine Frau bei einem Bombenattentat schwer verletzt. Am 1. Juni wurde der ehemalige Anführer des Rechten Sektors in Odessa Sergej Stepenenko angeschossen. Er hat seit Russlands Überfall auf die Ukraine durch das Sammeln von Spenden für Drohnen Bekanntheit im gesamten Land erlangt. Am 6. Juni starb der Leiter der vierten Abteilung des Wehrersatzamts von Odessa Oleg Nomerovskij bei der Explosion einer Autobombe. Am 10. Juli wurde in Kiew ein leitender Mitarbeiter der Ersten Abteilung des Zentrums für Spezialoperationen des ukrainischen Geheimdiensts SBU Ivan Voronyč vor seinem Haus mit fünf Schüssen getötet. Nach Angaben der New York Times hatte Voronyč jene Gruppe geleitet, die im Oktober 2016 den bekannten Kommandeur der „Volksrepublik Donezk“ Arsen Pavlow (Motorola) tötete.
Am 13. Juli tötete eine Spezialgruppe des SBU in einer Siedlung im Gebiet Kiew einen Mann und eine Frau, die nach Angaben des Geheimdienstchefs Vasilij Maljuk einer Sabotageeinheit des russländischen Geheimdiensts FSB angehört hatten. Die Getöteten hatten offenbar aserbaidschanische Pässe. Dies verweist auf ein Sicherheitsproblem, das die Ukraine hat. Staatsbürger der Nachfolgestaaten der Sowjetunion – mit Ausnahme Russlands – können frei in die Ukraine einreisen. Solche Menschen sind ein bevorzugtes Ziel der Anwerbeversuche des FSB, so wie Moskau in diesen Ländern auch im großen Stil mit Geldversprechen Männer in Russlands Armee lockt.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.