Ausweitung der Grauzone

Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 176. und 177. Kriegswoche

Nikolay Mitrokhin, 19.8.2025

Die Armeen Russlands und der Ukraine sind stark erschöpft. Zwar wird die ukrainische Verteidigung immer schwächer und die Okkupationstruppen erobern stetig neue Dörfer und Städte. Doch selbst ein Durchbruch bei Dobropillja hatte keine gravierenden Folgen. Vielerorts ist an die Stelle einer klaren Frontlinie eine Grauzone getreten. Da die Ukraine aber über noch weniger Kraft verfügt, um eine Wende in dem Krieg herbeizuführen, spiegeln die bei dem Treffen zwischen dem US-Präsidenten Trump und Russlands Präsidenten Putin skizzierten Vorstellungen über ein Ende des Kriegs weitgehend die militärischen Machtverhältnisse.

Russlands Armee gelang in der ersten Augusthälfte ein Durchbruch im Bereich des nördlichen Abschnitts der ukrainischen Verteidigung im Raum Pokrovs’k. Die Okkupationstruppen stießen in westliche Richtung zu der Stadt Dobropillja vor. Bereits Ende Juli hatten sie den Belagerungsring um die Agglomeration von Pokrovs’k zu zwei Dritteln geschlossen und den Sturm auf die Kernstadt Pokrovs’k begonnen. Den spärlichen Nachrichten zufolge war daraufhin in einer der ukrainischen Einheiten Panik ausgebrochen. Die Besatzer konnten mit kleinen Sturmtrupps von 2-5 Mann zu Fuß oder auf Motorrädern durch die örtlichen Waldstreifen in den sich öffnenden Korridor vorstoßen. Anschließend führte die russländische Armee in den 11 Kilometer tiefen, aber äußerst schmalen Keil weitere Soldaten nach.

Insgesamt stießen so rund 1000 Soldaten in den Rücken der ukrainischen Front vor. Wie man sich solche Vorstöße vorstellen muss, ergibt sich aus den Erzählungen einiger gefangener russländischer Soldaten aus einem Sturmtrupp der 30. Schützenbrigade, mit denen der ukrainische Kriegsberichterstatter Jurij Butusov gesprochen hat.
Sie waren Anfang August in die Stadt Pokrovs’k gelangt und dort rund einen Kilometer in Richtung Stadtzentrum vorgedrungen. Offenbar konnten sie aus dem besetzen Selydovo über Industriegelände und Waldstreifen äußerst langsam und unter hohen Verlusten in Richtung Pokrovs’k vordringen und dort ein kleines Versorgungslager anlegen. Anschließend seien sie in die nahezu leere Stadt vorgestoßen, wo es selbst auf großen Straßen in Richtung Front keine systematischen Kontrollen der ukrainischen Armee gegeben habe. Für 20 Kilometer Fußmarsch hätten sie 12 Tage gebraucht. Von einer ganzen Kompanie seien bei Erreichen der Stadtgrenze nur sieben Mann übriggeblieben.

Ähnlich muss sich der Durchbruch auf den Feldern zwischen Kostjantynivka und Pokrovs’k abgespielt haben. Und auch hier konnte die ukrainische Armee reagieren. Einen Tag nach der Nachricht über den Durchbruch verkündete der Generalstab am 12. August, Reservetruppen würden an diesen Frontabschnitt verlegt. Bereits am 15. August, dem Tag des Treffens des US-Präsidenten Trump mit Russlands Präsident Putin, ließ die Kiewer Armeeführung verlautbaren, Soldaten der 93. Brigade „Cholodnyj Jar“ hätten die Dörfer im Umkreis von Dobropillja zurückerobert und dabei Gefangene genommen. Einen Tag später hieß es, der Korridor des Vorstoßes sei zur Hälfte kupiert, zahlreiche russländische Kämpfer getötet und weitere gefangengenommen worden.

Gleichwohl gaben die örtlichen Behörden am 14. August eine Zwangsevakuierung aller Familien mit Kindern aus der nördlich des Durchbruchs gelegenen Stadt Družkivka (2022: 54 000 Einwohner) sowie aus den umliegenden Siedlungen Andrijivka, Varvarkivka, Novoandriivka und Rohans‘ke bekannt. Dies deutet darauf hin, dass der Durchbruch nicht vollständig beseitigt ist. Auch die zuletzt veröffentlichten Karten von der Lage an diesem Frontabschnitt deuten auf ein Vorrücken der Besatzungsarmee aus dem eingenommenen Časiv Jar in Richtung Družkivka hin.

Die Ereignisse rund um Dobropillja zeigen erneut, dass die ukrainische Armeeführung ihre Reserven, insbesondere die als „Löschtrupps“ eingesetzten Eliteeinheiten, nach politischen und nicht nach militärischen Kriterien einsetzt. Denn während die Verteidigungslinie zwischen Pokrovs’k und Kostjantynivka bröckelte, fand gleichzeitig im Norden des Gebiets Sumy nahe Junakivka eine Offensive der ukrainischen Armee statt, bei der drei Ortschaften und in einem etwas entfernten Abschnitt eine weitere Siedlung befreit wurden.

Neben dem Vorstoß bei Pokrovs’k konnte die russländische Armee bei Kupjans’k Geländegewinne verzeichnen, wo sie die Stadt von Westen umgangen hat. Bei Lyman konnte sie die große Siedlung Torec’ke einnehmen, um die zwei Jahre lange gekämpft worden war. Damit steht den Okkupanten faktisch der Weg nach Lyman frei. Am 7. August meldeten russländische Militärkanäle, die Moskauer Truppen seien nach Sivers’k vorgestoßen, der östlichsten Stadt der Ukraine, die noch unter Kontrolle der ukrainischen Armee steht. Sivers’k ist zugleich ein wichtiges Verteidigungsbollwerk, das seit zwei Jahren den russländischen Angriffen standhält. Nun haben die Besatzer nach eigenen Angaben die östlich der Stadt gelegene Siedlung Verchn’okam‘jans’ke eingenommen.

Im Raum Novopavlivka hat Russlands Armee ebenfalls eine weitere Ortschaft erobert, das im Gebiet Donec’k liegende Andrijivka-Klevcove (Iskra). Im Gebiet Zaporižžja ist es der Ukraine nach schweren Kämpfen gelungen, die Besatzungstruppen aus der recht großen Siedlung Stepnohirs’k (2013: 5000 Einwohner) am einstigen Ufer des verschwundenen Kachovka-Stausees zu vertreiben. Der Vorstoß der Besatzer nach Stepnohirs’k war gelegentlich als Beginn eines russländischen Angriffs auf die Großstadt Zaporižžja gesehen worden.

Tödliche Neuerungen

Die ukrainische Armee setzt seit Juli mit Drohnen hinter der Frontlinie sogenannte „Todesblumen“ ab. Dabei handelt es sich um 1,5- oder 5-Liter Wasserflaschen bzw. -behälter, die mit Plastiksprengstoff gefüllt und mit einem auf Metall reagierenden Sensor sowie einem Zünder ausgestattet sind. Nähert sich ein Fahrzeug, explodiert das zuvor mit Pflanzen getarnte Objekt. Beide Kriegsparteien setzen mittlerweile auch „wartende“ FPV-Drohnen ein. Der Drohnenführer lässt diese hinter der Frontlinie landen und aktiviert sie erst wieder, wenn sich ein Ziel nähert.

Russländische Militärblogger beklagen in jüngster Zeit häufig, dass seit Jahresbeginn in großer Zahl „Flügel“ verloren gingen. Gemeint sind hochfliegende Aufklärungs- und Angriffsdrohnen, etwa vom Typ „Lancet“ oder „ZALA“. Dies ist offenbar darauf zurückzuführen, dass die Ukraine schnelle Abfangdrohnen entwickelt hat, gegen die selbst ein speziell entwickeltes Ausweichsystem keine Abhilfe geschaffen habe. Das Aufspüren der russländischen Drohnen gelinge der Ukraine seit der Lieferung westlicher Luftabwehrsysteme, welche die Ukraine frontnah einsetze. Manche ukrainische Drohnenjägertrupps könnten jeden Monat 40–50 der recht teuren unbemannten Flugobjekte des Gegners zerstören. Auf diese Weise werden nach ukrainischen Angaben an manchen Frontabschnitten bis zu 80 Prozent der russländischen Drohnen abgefangen. Gleichwohl gibt Russland jede Woche mindestens einen erfolgreichen Raketenangriff auf Ziele im ukrainischen Hinterland bekannt, die zuvor mit Hilfe solcher Drohnen entdeckt und ausgekundschaftet wurden. Dies deckt sich mit ukrainischen Angaben. Vorrangiges Ziel solcher Angriffe sind Übungsgelände im Osten und Nordosten der Ukraine, auf denen neue Einheiten auf den Einsatz vorbereitet werden. So wurden am 21. Juli bei einem Raketenangriff auf ein Ausbildungslager für ausländische Söldner in Diensten der ukrainischen Armee nahe Kropovnic’kyj mindestens zwölf Männer getötet und bis zu 100 verletzt. Sie stammten aus den USA, Dänemark, Taiwan, Kolumbien und anderen Ländern. Trotz solcher Ereignisse ist die Bekämpfung der „Flügel“ ein Beispiel für den erfolgreichen Einsatz überlegener westlicher Technik. Zugleich verfügt die Ukraine nicht über die Mittel, um der modifizierten schweren Angriffsdrohnen Herr zu werden, die Russland in stets wachsender Zahl einsetzt.

Der Luftkrieg

Russlands Luftwaffe hat ihre Attacken auf Ziele in der Ukraine im Vorfeld des Treffens zwischen Trump und Putin stark reduziert. Diese Angriffe hatten, im Unterschied zu den Vorstößen am Boden, mehrfach Trumps Zorn erregt. Zudem gab Russlands Geheimdienst unmittelbar vor dem Gipfel am 14. August konkrete Ziele der jüngsten Angriffe bekannt, was sehr selten vorkommt. Die Luftschläge hätten angeblich dem ukrainischen Programm zur Entwicklung taktischer Raketen vom Typ „Sapsan“ gegolten, mit denen die Ukraine Schläge gegen Ziele auf russländischem Territorium in einer Tiefe von 500–750 hätte führen wollen. Dies sei das einzige Ziel der Angriffe auf Industrieanlagen in den Gebieten Charkiv, Sumy und Žytomir gewesen.

Die Ukraine hat unterdessen vor dem Treffen in Anchorage die Zahl und die Präzision ihrer Luftangriffe erhöhen können. Diese galten u.a. dem Eisenbahnnetz im Süden Russlands. Seit dem 22. Juli sind mindestens 15 Verladestationen oder andere Objekte der Bahninfrastruktur getroffen worden. Aber auch Anlagen der Rüstungsindustrie sowie Raffinerien in einer Entfernung von bis zu 2000 Kilometer von der Frontlinie wurden zum Ziel der Attacken, so etwa in der Republik Komi und im Gebiet Orenburg. Einige der Anlagen zur Rohöldestillation, darunter in Novokujbyšev, Volgograd und Rjazan‘ fielen nach Treffern vollständig aus oder konnten nur in stark eingeschränktem Betrieb weitergenutzt werden. In einigen Regionen Russlands wurde daraufhin das Benzin knapp.

Wasserkrise in Donec’k

In den von Russland besetzen Städten der Agglomeration von Donec’k wird das Wasser knapp. Ein Grund ist die Zerstörung des Kanals, über den seit Ende der 1950er Jahre Wasser vom Sivers‘kyj Donec nach Donec’k geleitet wird. Hinzu kommt, dass die russländischen Behörden einen festen, sehr niedrig angesetzten Fixpreis für den Verkauf von Wasser an die Bevölkerung festgelegt haben. Kommerzielle Anbieter haben sich daraufhin zurückgezogen.

Seit Beginn des Sommers mangelt es daher in Donec’k, Makijivka und anderen großen Städten der Region an Gebrauchswasser. Auch die Armee ist von der Wasserknappheit betroffen. Anstelle von Trinkwasser wurde offenbar Gebrauchswasser an die Front gebracht. Anfang August tauchten zahlreiche Videos auf, die russländische Soldaten zeigen, wie sie Wasser aus Schlammgruben entnehmen und dieses nach Absinken der Schwebstoffe filtern und trinken.

Nachdem sich Bewohner von Donec’k an Präsident Putin gewendet haben, wurde eine Brigade mit Tankfahrzeugen in die Stadt entsandt, doch damit war das Problem nicht gelöst. An den Ausgabepunkten für Trinkwasser stehen weiter Hunderte Menschen mit Kanistern Schlange. Die örtliche Führung sah sich bereits gezwungen, vor Ort zu erscheinen, um die Menschen zu beruhigen. In der ukrainischen Öffentlichkeit löst die Lage kaum Mitleid mit den unter Besatzung geratenen Mitbürgern aus, verbreitet ist vielmehr Schadenfreude.

Putins Forderung nach einer Übergabe der noch von der Ukraine gehaltenen Teile des Gebiets Donec’k verknüpft sich so für die Bewohner der besetzten Teile des Gebiets mit der Hoffnung, dass die Wasserversorgung aus dem Siverskyj Donec wiederhergestellt werden könnte. Die Entnahmestelle liegt im Nordwesten des Gebiets nahe Slovjans’k, im zentralen Teil des Kanals bei Časiv Jar, wo das Wasser teilweise durch Röhren geleitet wird, sind diese beim Sturm der Besatzungsarmee auf die Stadt größtenteils zerstört worden.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.