Bedrängnis und Aussicht auf Besserung

Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 121. Kriegswoche

Nikolay Mitrokhin, 26.6.2024

Russland kann an den verschiedenen Fronten im Norden und Osten der Ukraine trotz Übermacht keine großen Erfolge erzielen. An verschiedenen Frontabschnitten im Donbass ist die Lage der ukrainischen Armee jedoch heikel. Dies führt zu Spannungen und Schuldzuweisungen. Russland hat einen erheblichen Teil der konventionellen Kraftwerke der Ukraine sowie des Stromnetzes zerstört, fast täglich kommt es zu Notabschaltungen. Aussicht auf Besserung verspricht die Lieferung westlicher Luftabwehrsysteme, die in Gang gekommen ist. Vorrangiges Ziel sind neben Raketen die russländischen Kampfbomber, die schwere Gleitbomben auf Städte, Industrieanlagen und ukrainische Stellungen an der Front abwerfen.

Die Lage an der Front

Die Ukraine versucht im Gebiet Charkiv weiter, die eingedrungenen Einheiten der Okkupationsarmee zu vertreiben. Nach Kiewer Angaben erleidet Russland große Verluste, nach Moskauer Darstellung verhält es sich umgekehrt. Informationen über die vermutlich in der Aggregatorenfabrik von Vovčans’k eingekesselte Einheit der russländischen Armee gibt es nicht.

In Časiv Jar haben die Besatzer die nördliche Hälfte des Stadtteils Kanal im Westen der Stadt eingenommen. Auch im Umkreis der Stadt haben sie den unter ihrer Kontrolle stehenden Bereich ausgeweitet. Nördlich von Bachmut haben die russländischen Truppen bei Severs’k kleine Geländegewinne erzielt, ebenso westlich von Horlivka in der Nähe von Torec’k. Dort haben sie Verteidigungsanlagen durchbrochen, die bereits seit 2014 bestanden. Hinter der eingenommenen kleinen Siedlung Tiška befinden sich allerdings zwei große Abraumhalden, auf denen sich die wichtigsten ukrainischen Befestigungsanlagen befinden. Diese werden weiter von der Ukraine gehalten.

Weiter südwestlich setzte Russland westlich von Očeretine die Angriffe auf Novoaleksandrovka fort. Ziel ist die Kontrolle über die weiter westlich gelegene Straße von Pokrovs’k nach Konstantynivka. Die Nachrichtenlage ist widersprüchlich, offenbar stehen russländische Einheiten in Novoaleksandrovka, werden aber vom nördlichen und südlichen Rand der Siedlung von den dort weiter die Verteidigung haltenden ukrainischen Truppen beschossen.

Auch in den Gebieten Zaporižžja und Dnipropetrovs’k steht die Lage der ukrainischen Armee nicht zum Besten. Russland hat nach eigenen Angaben die Siedlung Staromajors’ke vollständig erobert. Dies hat vor allem symbolische Bedeutung, denn sie stand im Sommer 2023 im Zentrum des ukrainischen Versuchs, die Verteidigungslinien der Besatzungsarmee zu durchbrechen. Am linken Ufer des Dnipro versuchen die russländischen Truppen nach der Aufgabe des ukrainischen Brückenkopfs nicht nur, die Inseln im Delta des Flusses wieder unter Kontrolle zu bringen. Ziel von Sturmtrupps sind nun auch die Inseln, die flussabwärts des zerstörten Damms von Nova Kachovka im Abschnitt der Siedlungen Krynki und Kozači Laheri liegen. Von eindeutigen Erfolgen kann jedoch noch keine Rede sein.

Gleichwohl löst die Lage an der Front Nervosität aus, die sich in zunehmenden Schuldzuweisungen zeigt. Der vielgelesene proukrainische Kanal Deep State, der aktuelle, sehr genaue Karten des Frontverlaufs veröffentlicht, kritisierte etwa die Führung der 110. Mechanisierten Brigade der Ukraine. Sie kaschiere durch falsche Angaben zum Frontverlauf in Novoaleksandrovka, dass sie Einheiten der Territorialverteidigung in Positionen geschickt habe, die bereits verloren waren – und so den unnötigen Tod von Soldaten verschuldet habe.

Der Aktivist Serhij Sternenko und die Abgeordnete der Verchovna Rada Marʼjana Bezuhla, die als inoffizielle Sprecherin der Präsidialverwaltung in Kriegsfragen gilt, beschuldigten den Kommandierenden der Vereinigten Streitkräfte der ukrainischen Armee Jurij Sodolʼ der Inkompetenz. Er sei für schwere Verluste und Gebietseinbußen verantwortlich. Sodolʼ ist für den östlichen Frontabschnitt verantwortlich und trägt seit 2022 den Titel „Held der Ukraine“. Der Leiter des Stabs „Azov“ Bohdan Krotevič sendete eine Eingabe an die Staatliche Untersuchungsbehörde, in der er verlangt, dass untersucht wird, ob Sodolʼ für russländische Dienste arbeitet. Es ist kaum zu bestimmen, in welchem Ausmaß der Verlust von Avdijivka und Očeretino, der Durchbruch Russlands bei Horlivka und andere negative Entwicklungen auf den generellen Mangel an Soldaten und Material zurückzuführen sind, der sich nach der Verlegung von Truppen an die neue Front bei Charkiv verschärft hat – und in welchem Maße Sodolʼ unter schlechten Bedingungen schlechte Entscheidungen getroffen hat. Am 24. Juni ersetzte Zelens’kyj Sodolʼ durch den Brigadegeneral Andrij Hnatov. Dieser kommt auch aus der Marineinfanterie und hat die erfolgreiche Verteidigung von Mykolajiv organisiert.

Personalrotation im Moskauer Verteidigungsministerium

In Russland hat es im Verteidigungsministerium unter dem neuen Minister Belousov einen Kahlschlag gegeben. Sämtliche dem Kreis des früheren Verteidigungsministers Šojgu zugerechneten Männer wurden in den Ruhestand versetzt, einige verhaftet. Neuer stellvertretender Verteidigungsminister ist Leonid Gornin. Pavel Fradkov (1981), ein Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten und Chef des Auslandgeheimdiensts SVR Michail Fradkov, übernimmt die Verantwortung für die Verwaltung der Liegenschaften des Ministeriums. Er ist eng mit den Geheimdiensten verbunden und war in den vergangenen neun Jahren zunächst stellvertretender und dann erster stellvertretender Leiter der Präsidialkanzlei. Anna Civileva (1972), geborene Putina, soll als stellvertretende Verteidigungsministerin für die soziale Absicherung der Soldaten sorgen. Sie kommt aus Ivanovo, wo sie als Psychiaterin arbeitete. Nachdem der Mann, der – zufällig oder nicht – den gleichen Familiennamen wie sie trägt, in den Kreml eingezogen war, machte sie eine steile Karriere als Unternehmerin in einem staatlichen Unternehmen für Medizintechnik. Seit 2007 ist sie mit Sergej Civilev verheiratet, der nach sechs Jahren an der Spitze des Gebiets Kemerovo im Mai 2024 zum neuen Energieminister ernannt wurde. Investigativ arbeitende Journalisten haben berichtet, dass das Ehepaar im Jahr 2012 von Putins Freund Genadij Timčenko zu einem symbolischen Preis die Aktien des im Kuzbass tätigen Kohleunternehmens Kolmar erhalten haben, dessen Vorstandsvorsitzende Civileva bis vor kurzem war. Seit April 2023 leitet sie auch den per Präsidialerlass geschaffenen „Fonds zur Unterstützung von Teilnehmern der Spezialoperation ‚Vaterlandsverteidiger‘“.

Die Bilanz des Verteidigungsministeriums der vergangenen Monate sieht damit so aus: Minister Šojgu: entlassen und auf einen Vorruhestandsposten versetzt; erster stellv. Minister Calikov: entlassen; stellv. Minister Ivanov (Bauverwaltung): verhaftet; stellv. Minister Sadovenko (Apparat des Ministeriums): entlassen; stellv. Ministerin Ševcova (Finanzen): entlassen; stellv. Minister Pankov (Staatssekretär): entlassen; stellv. Minister Popov (Innovationen): entlassen; Leiter der Hauptverwaltung Personalentwicklung Kuznecov: verhaftet; Leiter der Hauptverwaltung Kommunikation Šamarin: verhaftet, Leiter der Abteilung Rüstungsaufträge Verteleckij: verhaftet; Pressesprecherin Markovskaja: entlassen. Den Familiennamen der meisten neuen Stellvertreter sowie deren vorherigen Posten nach zu urteilen, ist es mit der Korruption im Verteidigungsministerium alles andere als vorbei. Das politische Gewicht der „Neulinge“ ist vielmehr höher als das des „Šojgu-Teams“. Dies lässt erwarten, dass der Diebstahl noch größere Dimensionen annehmen wird – ganz gleich, welcher Ruf dem neuen Minister Belousov vorauseilt.

Der Luftkrieg

Russland und die Ukraine haben den Luftkrieg in der 121. Kriegswoche unvermindert fortgesetzt. Die Ukraine griff täglich Ziele vor allem auf der Krim und in Südrussland an, Russland attackierte die Ukraine vor allem mit Raketen.

In der Nacht auf den 20. Juni wurde in Tambov mindestens ein Öltank getroffen, in der Republik Adygeja schlugen mindestens fünf Drohnen in der Raffinerie Ėnemskaja ein. In der Nacht auf den 21. Juni meldete Russland 114 ukrainische Drohnen, die in mehreren Wellen die Krim, den Bezirk Krasnodar und die besetzten Teile der ukrainischen Gebiete Zaporižžja und Cherson anflogen. Dies sind nur die vermeldeten Abschüsse, wie viele ukrainische Drohnen ihr Ziel erreichten, ist unklar. Fest steht, dass die Raffinerien in Afipskij, Il’skij, Krasnodar und Astrachan’ attackiert wurden. Die schwersten Schäden entstanden auf einem Trainingszentrum der russländischen Luftabwehr auf dem Flugfeld bei Ejsk im Bezirk Krasnodar. Nach ukrainischen Angaben wurden 120 Drohnen verschiedenen Typs zerstört, einige Ausbilder und Techniker kamen ums Leben. Satellitenaufnahmen zeigen tatsächlich stark zerstörte Hangars auf dem Flugfeld. In der Nacht auf den 23. Juni flogen mehr als 30 ukrainische Drohnen Industrieanlagen in den Gebieten Brjansk, Smolensk, Lipeck und Tula an. Nach russländischen Angaben wurden die meisten abgefangen.

Im Zuge eines bei Tag geführten ukrainischen Angriffs mit fünf ATACMS-Raketen auf ein Zentrum für Satellitenkommunikation in der Siedlung Vitino nahe Evpatorija auf der Krim schlug eine Rakete auf einem belebten Strand bei Sevastopol’ ein. Vier Menschen starben, darunter zwei Kinder, 151 wurden verletzt, darunter 25 Kinder. Nach russländischen Angaben handelte es sich um eine der fünf ATACMS-Raketen, nach ukrainischen, mit Fotobeweis untermauerten Angaben um eine Abfangrakete der russländischen Luftabwehr (Tor-M2 – 9K332).

Unmittelbar darauf beschoss Russland Odessa mit zwei Iskander-K-Raketen, die offenbar auf ein Unternehmen für Kranbau zielten. Bereits in der Nacht zuvor waren russländische Raketen in der West- und Zentralukraine niedergegangen.

Die ukrainischen Kapazitäten zur Erzeugung und Verteilung von Strom sind massiv beschädigt. Die Nachrichtenagentur UNIAN meldete am 23. Juni, bei den letzten sieben Angriffen auf Kraftwerke seien neun Gigawatt installierte Leistung zerstört worden. Das entspricht etwa der installierten Kapazität in Hessen. Die Folgen zeigen sich bei den häufigen Notabschaltungen. Am 23. Juni etwa kam es in Kryvyj Rih zu einem Unfall im größten Hüttenbetrieb der Ukraine. Schwere Rauchwolken legten sich ausgehend von der dem Konzern ArcelorMittal gehörenden Kokerei über die Stadt.

Auch die Zerstörung von Charkiv geht weiter. Russland wirft fast täglich schwere Gleitbomben über der Stadt ab. Nach einem Treffer fiel zum wiederholten Mal in der halben Stadt der Strom aus, U-Bahnen und Straßenbahnen fuhren nicht mehr.

Einiges spricht jedoch dafür, dass sich das Blatt wendet. Die massive Zerstörung der Kraftwerke und anderer Infrastruktur sowie die zivilen Opfer haben die westlichen Unterstützerstaaten dazu bewogen, der Ukraine neue Raketenabwehrsysteme zur Verfügung zu stellen. Rumänien hat angekündigt, ein modernes Patriot-System zu übergeben, das hohe Abfangraten bei taktischen ballistischen Raketen und Marschflugkörpern erreicht. Auch die Niederlande haben gemeinsam mit einem nicht genannten Staat ein Patriot-System versprochen. Sollte die Ukraine am Ende des Sommers tatsächlich über jene sieben Systeme verfügen, von denen Präsident Zelens’kyj immer wieder gesprochen hat, verändert sich die Lage erheblich. Die Ukraine kann mit diesen Systemen in viel größerer Zahl ballistische Raketen abfangen und zudem die russländischen Bomber abschießen, die bislang die schweren Gleitbomben abwerfen. Dies hat auch Auswirkungen auf den Kampf am Boden.

Rüstungswettlauf

Für diesen macht sich die Ukraine Hoffnung auf eine größere Zahl der 2-CT Hawkeye Mobile Howitzer System. Eine solche mobile Haubitze hat das US-amerikanische Rüstungsunternehmen AM General zu Trainingszwecken geliefert.

Sie verfügt über eine 105mm-Kanone, die nach nur 90 Sekunden einsatzbereit ist und in den ersten drei Minuten acht Schüsse abgeben kann, die in Abhängigkeit von den eingesetzten Granaten eine Reichweite von 11,5 bzw. 19,5 Kilometern haben. Allerdings sind die Haubitzen nur leicht gepanzert und könnten zum Ziel der Lancet-Drohnen werden, die Russland bis in eine Entfernung von 15 Kilometern hinter der Frontlinie einsetzen kann.

Russland hat im Rüstungswettlauf eine besonders schwere Gleitbombe (FAB-3000 M-54 UMPK) mit einem Gewicht von drei Tonnen und einem 1,2-Tonnen schweren Sprengkopf entwickelt und am 20. Juni bei einem Angriff auf die Siedlung Lipcy im Gebiet Charkiv eingesetzt. Die Explosion führt im Umkreis von 35 Metern zu Totalzerstörung, im Umkreis von 150 Metern wird jegliches Leben ausgelöscht. Die ukrainischen Mannschaften, die die neuen Patriot-Systeme der Ukraine bedienen, werden die vorrangige Aufgabe haben, jene Flugzeuge abzuschießen, die diese Bombe abwerfen.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden. Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.