Beginn der Schlammperiode

Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 140. Kriegswoche

Nikolaj Mitrokhin, 7.11.2024

Das Wetter an der Front hat zu einer kurzen Verschnaufpause für die ukrainischen Streitkräfte geführt. An mehreren Abschnitten der Kampflinie rückt die Besatzungsarmee jedoch stetig vor. Bei Kurachove sollte die Ukraine darüber nachdenken, einen Gebietsverlust hinzunehmen, um die Frontlinie um 100 Kilometer zu verkürzen. Pokrovs’k bereitet sich bereits auf die Erstürmung der Stadt vor. Bei Kupjans’k werden eine Evakuierung der Bevölkerung und der Abzug militärischer Infrastruktur aus einem breiten Streifen erforderlich. 10 000 Nordkoreaner sollen in Kursk und Brjansk im Einsatz sein, Präsident Zelens’kyj versucht die Situation für sich zu nutzen. Beim Luftkrieg könnten von Katar vermittelte Gespräche zwischen Russland und der Ukraine Erfolge zeitigen. Andererseits gibt es eine neue russländische Drohnengefahr und die Ukraine startet eine weitere Mobilisierungsrunde.

Die Lage an der Front

Kälte, Regen und der erste Schnee haben den Truppen den Beginn der Schlammperiode beschert. Dies bremst die russländische Offensive, die Kämpfe an vielen Teilen der Front haben in der vergangenen Woche an Intensität verloren. Entsprechend wenige Informationen über das Vorrücken der Okkupationstruppen gibt es. Zum Ende der Woche verstärkten sie ihre Aktivitäten allerdings wieder. Wenngleich die russländischen Streitkräfte ihre Offensive vor allem im Donbass fortsetzen konnten, starteten die ukrainischen, nachdem sie ihre Kräfte gesammelt hatten, örtliche Gegenangriffe. Diese waren zumindest teilweise erfolgreich.

Kampf um Kurachove

Das Hauptgeschehen an der Front spielt sich noch immer vor Kurachove ab, hier treffen die Donec’k- und die Zaporižžja-Front aufeinander. Die russische Armee versucht an dieser Stelle, den Keil zu schließen, nachdem sie vor zwei Wochen die Zaporižžja-Front westlich von Ugledar durchbrochen hat und von der eroberten Kleinstadt Selydove von Norden aus vorstößt. Dazu kommen heftige Angriffe aus dem Osten, aus der Richtung der Kleinstadt Krasnohorivka. Diese führten in der vergangenen Woche zu den bedeutendsten Geländegewinnen. Die Ukraine hat ihre Truppen zudem aus dem „Halbkessel“ um das Dorf Kurachove abgezogen. Die Kleinstadt büßte dementsprechend die Deckung von Nordosten her ein. Gleichzeitig hat die ukrainische Armee Kurachove von Süden her aktiv verteidigt, sie verhinderte einen gefährlichen Durchbruch und konnte bis zum Ende der Woche sogar ein kleines Gebiet zurückerobern. Allerdings gelang es ihr nicht, den Durchbruch der russischen Streitkräfte südwestlich von Kurachove abzuwehren. Nur noch 15 Kilometer trennen die Besatzungsarmee somit von jener Autobahn, die für die Verteidigung der Stadt von entscheidender Bedeutung ist. Wenn Putins Truppen die Siedlungen Suchi Jaly oder Jantarne einnehmen, wird die Autobahn durch russische Artillerie und Mörser blockiert sein. Das bisherige Tempo beim Vorrücken deutet darauf hin, dass der Ukraine höchstens noch eine Woche bleibt, bis sie ihre gesamten Kurachove-Verbände aus dem Kessel über die Felder abziehen muss. Möglicherweise ist dies sogar das Beste, denn so kann die Frontlinie um knapp 100 Kilometer verkürzt werden. Angesichts des offensichtlichen Mangels an ukrainischer Infanterie und Drohnenpiloten könnte dies eine dichtere und zuverlässigere Verteidigung auf einer Linie mit Pokrovs’k ermöglichen. Gleichzeitig handelt es sich aber um einen schmerzhaften Verlust eines rohstoffreichen Gebietes.

Verteidigung von Pokrovs’k

Die Okkupationsarmee erobert nun auch südlich von Selydove mit recht hohem Tempo neue Teile des Frontvorsprungs vor Pokrovs’k. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass die Wetterbedingungen und die Konzentration der Truppen für die Beseitigung des Kurachove-Frontbogens die russländische Offensive einschränken. Dennoch bereitet sich Pokrovs’k auf die Erstürmung der Stadt vor. Der freie Zugang zur Stadt, die von zentraler Bedeutung für die ukrainische Verteidigung im südlichen Donbass ist, ist gesperrt, die Armee baut an den Straßen am Stadtrand Verteidigungsanlagen auf. Unterdessen halten sich nach Angaben der Stadtverwaltung immer noch rund 11 000 Menschen, darunter 55 Kinder, in der Stadt auf. Augenscheinlich handelt es sich um prorussische Sympathisanten, die auf eine schnelle russländische Einnahme der Stadt hoffen. Eine weitere Hoffnung ist, dass die russländische Armee Pokrovs’k nach dem Vorbild der zuvor eroberten Nachbarstädte Selydove und Novohrodivka nur einkesselt und auf einen Angriff verzichtet. So würden die ukrainischen Truppen zum Rückzug gezwungen und die Stadt entginge größerer Zerstörung.

Kämpfe vor Kupjans’k

Die Kämpfe südöstlich von Kupjans’k setzen sich fort. Die russischen Streitkräfte haben sich vor zwei Wochen dem nordöstlichen Stadtrand von Kupjans’k genähert, werden jedoch durch Kämpfe in benachbarten Dörfern aufgehalten. Im Südosten haben die russischen Streitkräfte nach der Einnahme von Kruhljakivka die ukrainischen Verteidigungsanlagen am Ostufer des Flusses Oskil geteilt. Das erforderte eine großangelegte Evakuierung der Bevölkerung und den Abzug militärischer Infrastruktur aus einem Streifen von 20 Kilometer Länge und bis zu zehn Kilometer Breite. Am Ende der Woche gelang den ukrainischen Streitkräften der Gegenangriff, wodurch der russische Angriff in diesem Gebiet etwas eingehegt wurde.

Gebiet Kursk

Die Kämpfe in verschiedenen Teilen des Gebietes Kursk dauern an. Nennenswerte Fortschritte sind allerdings nirgends zu verzeichnen – abgesehen von noch unbestätigten Informationen über die Einkreisung ukrainischer Verbände im Gebiet von Ljubimovka.

Unsichtbare Soldaten aus Nordkorea

Im Laufe der Woche berichteten Quellen aus der Ukraine, den USA und Südkorea immer wieder über eine Gruppe von rund 10 000 nordkoreanischen Soldaten, die mit Transportflugzeugen der Armee aus dem Fernen Osten in das Gebiet Kursk gebracht worden sein sollen. Am 4. November meldete eine halboffizielle ukrainische Quelle erste Schläge, einen Tag später berichtete eine anonyme Quelle von ersten Zusammenstößen zwischen ukrainischem und nordkoreanischem Militär. Nach früheren Angaben von Präsident Zelens’kyj und dem ukrainischen Verteidigungsministerium sollen bereits am 25. und 27. Oktober nordkoreanische Soldaten an der Kampflinie gewesen sein. Ersten Berichten des Verteidigungsministeriums zufolge sollen sie schon vor dem 15. Oktober im Gebiet Brjansk gekämpft haben.

Allerdings ist in dieser Zeit kein einziges Video von ukrainischer Seite oder eine schriftliche Bestätigung von russländischer Seite aus Kursk oder Brjansk aufgetaucht. Und das, obwohl die Anwesenheit von 10 000 Soldaten mit offensichtlich „nicht-russischem“ Aussehen bei der Zivilbevölkerung der Region und den Militärs selbst großes Interesse hätten wecken müssen. Von geschlossenen Militärstützpunkten im Fernen Osten gibt es hingegen mehrere Videos, seit das nordkoreanische Militär dort angekommen ist.

Auch logistisch stellen sich einige Fragen: Die Verlegung von 10 000 Menschen mit Militärflugzeugen würde die Einrichtung einer „Luftbrücke“ zwischen dem Fernen Osten und etwa Voronež oder Tula erfordern (Flüge von Militärflugzeugen über die Region Kursk sind wegen der ukrainischen Luftabwehr gesperrt). Solche Flugzeuge können 300 Soldaten transportieren. 30 Flüge auf einer einzigen Strecke bleiben für viele Menschen auf jeden Fall nicht unbemerkt. Auf der anderen Seite würde die Verlegung solcher Einheiten per Eisenbahn ebenfalls die Aufmerksamkeit der Zivilbevölkerung auf sich ziehen. Vieles deutet somit auf eine Medienkampagne der ukrainischen Regierung hin. Die Zelens’kyj-Regierung versucht die Ankunft des nordkoreanischen Militärs, das auf keinen Fall in der Lage ist, das Blatt des Krieges zu wenden, dazu zu nutzen, zusätzliche Ressourcen von Verbündeten zu erhalten. Auch will sie sicherlich die Aufmerksamkeit von den Problemen der eigenen Armee und der schwierigen Situation um Kurachove und Pokrovs’k ablenken. Der ukrainische Präsident sagte etwa in einer Videobotschaft vom 4. November: „Wir sehen eine Zunahme der Nordkoreaner, wir sehen aber keine Zunahme der Reaktion der Partner. Leider.“ Unklar bleibt zudem durchaus, worin sich 10 000 nordkoreanische Soldaten von 10 000 zusätzlichen russländischen Rekruten unterscheiden, mit denen die Okkupationsarmee ohnehin jeden Monat ihre Schlagkraft aufstockt.

Der Luftkrieg

Die wichtigste Nachricht mit Blick auf den Luftkrieg sind die Gerüchte über Gespräche zwischen Russland und der Ukraine, die von Katar vermittelt wurden, um die Angriffe auf die Energieinfrastruktur zu beenden. Tatsächlich hat Russland seit zwei Monaten keine Raketen mehr eingesetzt, um ukrainische Energieanlagen außer Betrieb zu setzen. Die Ukraine greift ihrerseits keine russischen Ölraffinerien und Treibstofflager mehr mit Kampfdrohnen an. Ansonsten ist die Lage stabil. Charkiv leidet unter russischen KAB-Präzisionsbomben. Es gab zwei bedeutende Treffer mit einer beträchtlichen Anzahl an Verletzten – auf eine Polizeistation und einen Supermarkt. Kiew ist ebenfalls ständigen Angriffen ausgesetzt. In Odessa sind insbesondere der Hafen und Industrieanlagen betroffen. Die ukrainischen Drohnenangriffe verlieren insgesamt an Wirksamkeit.

Neue Mobilisierungsrunde in der Ukraine

Am 29. Oktober hat der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, Oleksandr Lytvynenko, die Verchovna Rada über Pläne zur Einberufung weiterer 160 000 Menschen informiert. Laut Lytvynenko wurden bereits 1 050 000 Bürger eingezogen. Mitglieder der Verchovna Rada gaben an, dass im September das Tempo der Einberufung drastisch gesunken sei. Mehr als 100 000 Soldaten sollen ihre Einheiten verlassen haben, also desertiert sein. Am 5. November veröffentlichten zwei Brigaden der ukrainischen Armee auf ihren Facebook-Seiten Appelle an ihre Kämpfer, zu ihren Einheiten zurückzukehren. Mehreren Berichten zufolge versuchen die Personaloffiziere durchaus verzweifelt, die dezimierten Infanterieeinheiten aufzufüllen. So sollen sie etwa zunehmend versuchen, Mitglieder von rückwärtigen Einheiten (einschließlich jener, die westliche Ausrüstung reparieren), Artilleristen, Fahrer und sogar ausgebildete Besatzungen von Patriot-Systemen an die Front zu schicken.

Wie die neue intensive Mobilisierung vonstatten gehen wird und ob sie Massenunruhen auslösen wird, ist noch nicht absehbar. Es gab auch Initiativen von Rada-Abgeordneten, mit der Rekrutierung von Frauen zu beginnen. Diese könnten ebenso militärische Funktionen übernehmen. Sie seien nicht unbedingt für die Infanterie geeignet, aber in Einheiten und bei Arbeiten nützlich, die kein hohes Maß an körperlicher Anstrengung erfordern, zum Beispiel als Drohnenpiloten.

Kritik an der russländischen Angriffstaktik

Auch die russische Offensive hängt nach Meinung vieler Quellen an einem „seidenen Faden“. Eine Teilmobilmachung ist politisch noch nicht möglich. Diejenigen, die bereit sind, für Geld in den Krieg zu ziehen, werden allmählich weniger. Die Nachschub-Ressource „Gefangene“ ist so weit aufgebraucht, dass das Land aus Mangel an Straftätern Kolonien schließt. Die Armee nutzt bereits „interne Ressourcen“, indem sie Teile der Nachhut rekrutiert.

Derweil ist der Umgang mit den Sturmtrupps an der Kampflinie so grausam, dass er zu riesigen Verlusten führt. Die bekannte russische Militärbloggerin Anastasia Kashevarova schrieb am 29. Oktober einen Beitrag, in dem sie moniert, dass die Evakuierungsstellen für die Verwundeten zwei, drei und mehr Kilometer von den Kampflinie entfernt sind. Es sei für einen Verwundeten unmöglich, eine solche Entfernung allein zu überwinden. Er werde schlicht unterwegs sterben. Zudem sei die Anzahl der Evakuierungsteams, die die Verwundeten retten und Leichen bergen sollen, auf ein Minimum reduziert worden, da ihre Mitglieder selbst in die Sturmtrupps geschickt worden seien. So sterben die Soldaten nicht nur in jenem Todesstreifen, auch ihre Leichen verbleiben dort.

Neue russländische Drohnengefahr

Am 31. Oktober publizierte die BBC einen Beitrag über die neue russische First-Person-View-Kampfdrohne „Knjas' Vandal Novgorodskij“, die seit August gegen militärische Technik und Infrastruktur der Ukraine eingesetzt wird, zunächst in der Region Kursk und dann in anderen Teilen der Front. Ihre Besonderheit besteht darin, dass sie mit dem Bediener über ein Glasfaserkabel kommuniziert. Dieses ist in einer Entfernung von bis zu zehn Kilometern hinter der Drohne aufgerollt. Dadurch ist die Drohne unempfindlich für die gängigen Arten der elektronischen Kampfführung und sie kann dem Drohnenpiloten ein klares Bild übermitteln. Das erhöht die Effektivität der Angriffe, obwohl die Drohne aufgrund der schweren Spule weniger Sprengstoff mit sich führen kann. Die ukrainische Armee verfügt derzeit nicht über Mittel zur wirksamen Bekämpfung dieses Drohnentyps. Vor zwei Jahren erhielt sie von einem ukrainischen Hersteller ein Angebot zur Herstellung solcher Drohnen. Die Armee lehnte das Angebot ab, weil die Drahtspule damals etwa 10 000 US-Dollar kostete. Jetzt kostet sie etwa hundert US-Dollar.

Aus dem Russischen von Felix Eick, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.