Belarus – eine res publica
Read the English version of this text
Hunderttausende Menschen sind in Belarus im ganzen Land auf die Straße gegangen. Sie fordern Präsident Lukašenka auf, seine Wahlniederlage anzuerkennen. Das Regime hat die Taktik gewechselt. Statt auf Gewalt setzt es nun auf Aussitzen. Die Philosophin Ol’ga Šparaga und der Direktor des European College of Liberal Arts Aljaksandr Adamjanc über den Charakter der Revolution, die Strukturen der Bewegung und die Risse im Regime.
Osteuropa: Einer der Wahlsprüche der Bewegung gegen das Lukašenka-Regime lautet „Žyve Belarus!“ (Es lebe Belarus!). Handelt es sich um eine nationale Revolution?
Ol’ga Šparaga: In Belarus findet eine Revolution statt. Es geht um die Ablösung eines diktatorischen Regimes. Um eine nationale Revolution handelt es sich allerdings nicht. Es ist eine postnationale Revolution. Die Schlüsselbegriffe der Proteste sind „Verfassung“ und „Recht“, nicht aber „Nation“. Die Menschen kämpfen für die Einhaltung der Gesetze, das Prinzip freier Wahlen und die grundsätzliche Möglichkeit eines Machtwechsels. Es geht darum, dass Belarus nicht nur dem Namen nach eine Republik ist, sondern eine res publica in der Tradition der Französischen Revolution wird. Es ist eine demokratische Revolution, bei der aus Untertanen Bürger werden.
Der Vereinigte Stab der Bewegung hat erklärt, dass diese Revolution „von uns gemeinsam“ gemacht wird, also von einer horizontal vernetzten Gesellschaft. Auf die Vergangenheit wird kaum Bezug genommen. Genau dies aber ist es, wie Benedict Anderson herausgearbeitet hat, was eine nationale Gemeinschaft ausmacht: der ständige Bezug auf die Vergangenheit, ihren Helden und Mythen. Auch die Tatsache, dass Frauen, genauer: ein Kollektiv von Frauen, an der Spitze der Revolution steht, passt nicht in den nationalen Diskurs. Dies haben Nira Yuval-Davis und viele andere Vertreterinnen der feministischen politischen Theorie gezeigt. In diesem Diskurs kommt Frauen die Aufgabe zu, für die Reproduktion der Nation zu sorgen, indem sie Kinder gebären und sie erziehen. Einen Platz im öffentlichen Raum der Politik haben Frauen in dieser Vorstellung nicht.
Schließlich ist das Gemälde „Eva“ des aus dem heutigen Belarus stammenden jüdischen Malers Chaim Soutine zu einem der Symbole der Revolution geworden. Auch das passt nicht zur nationalistischen Vorstellung von der homogenen, monoethnischen Nation.
Osteuropa: Und die weiß-rot-weiße Fahne, die überall zu sehen ist?
Šparaga: Die Fahne und die Losung „Žyve Belarus!“ sind lediglich ein Ersatz für die offiziellen Symbole. Sie vereinen die Menschen, ohne die Unterschiede zwischen ihnen zu verwischen. Dies wird schon daran deutlich, dass die einen Russisch, die anderen Belarussisch sprechen. Das Lied „Mury“ (Mauern), das zur Hymne der Revolution geworden ist, wird sowohl auf Belarussisch als auch auf Russisch gesungen. Die zweite Hymne der Revolution ist Viktor Cojs „Peremen“ (Wandel) ‑ und dieser Song aus der Perestrojka steht in keinerlei Widerspruch zu der Losung „Es lebe Belarus!“. Zudem haben die weiß-rot-weiße Fahne und der Ruf „Žyve Belarus'!“ nach dem Terror der staatlichen Behörden vom 9.-11. August eine neue Bedeutung erhalten, die allerdings schon immer in ihnen angelegt gewesen war. Sie stehen für das vergossene Blut und den Kampf gegen den Tod. Die Farbe Weiß wurde darüber hinaus für die „Armbinden der Ehrlichkeit“ verwendet, die die Menschen am Wahltag trugen. Dann kleideten sich die Frauen, die ab dem 12. August gegen die Gewalt der Staatsmacht protestierten, als Zeichen der Solidarität in Weiß. Alles war wie vom Kopf auf die Füße gestellt: Die Fahne war nicht der Ausgangspunkt für die Verwendung der weißen Farbe, sondern die Fahne passte zu der verwendeten Farbe.
Osteuropa: Herrscht über diese Interpretation Konsens?
Šparaga: Es gibt natürlich einige Gruppierungen, die der Ansicht sind, es handele sich um eine nationale Revolution, Belarus habe sich endlich als Nation formiert. Doch wenn man genauer fragt, was das für eine Nation ist, dann taucht sofort eine ganze Reihe verschiedener Definitionen auf. Auch dies zeugt davon, dass es sich um eine postnationale Konstellation handelt. Es gibt keine gemeinsame nationale Idee, sondern eine Polyphonie der Ideen ‑ und niemanden, oder zumindest die allermeisten, stört das nicht.
Osteuropa: Die Proteste finden im gesamten Land statt: Sind sie überall gleich, oder kann man Unterschiede erkennen? Werden in Brest andere Losungen gerufen oder Symbole verwendet als in Mahilaŭ? Spielen in Homel’ andere lokale Themen hinein als in Hrodna?
Šparaga: Die Regionalisierung der Proteste ist ein neues Phänomen. Während der Wahlkampfveranstaltungen sprachen Svjatlana Cichanoŭskaja und ihr Team in jeder Stadt die konkreten Probleme der dortigen Bürger an. In Brest etwa den Kampf der Zivilgesellschaft gegen eine geplante Batteriefabrik. Dennoch dominierten die gemeinsamen Themen das ganzen Landes: die Perspektivlosigkeit, die Armut und die Korruption. Die Verachtung, mit der die Staatsmacht die Bürger behandelte, insbesondere nach Beginn der Covid-19-Pandemie. Der Exodus der Jugend, die Verhinderung eines Machtwechsels und die bereits zur Tradition gewordene Wahlfälschung.
Osteuropa: Sie haben in den vergangenen Jahren die These vertreten, die autoritäre Regression in Ungarn, Polen, den USA sei auf eine Wiederkehr der sozialen Frage zurückzuführen. In Belarus scheint die Lage ganz anders zu sein?
Šparaga: Die Menschen in Belarus hatten vor allem den autoritären, paternalistischen und repressiven Staat satt. Das Regime hat stets behauptet, Belarus sei das einzige Land in der Region mit einem starken Sozialstaat. Doch dieser Sozialstaat ist mit den Jahren immer mehr erodiert. Untersuchungen des belarussischen Forschungsinstituts IPM haben dies klar belegt. Die Covid-19-Pandemie hat die Situation verschärft. Sie hat offengelegt, dass die gesamte Verwaltung ineffektiv arbeitet und die Staatsführung ebenso wie ihre Beamten auf die Menschen herabschauen. Die Menschen wurden in der Pandemie alleine gelassen ‑ bis sie begannen, einander zu helfen. Freiwilligenarbeit hatte eine kolossale Bedeutung in dieser Situation, die staatlichen Medien aber verschwiegen dies und der Staat vertuschte, dass die Zahl der Erkrankten und der Toten wuchs.
Dies hat dazu geführt, dass viele Menschen in Belarus nun den Kampf gegen den Staat als wichtigste Aufgabe betrachten. Zur Kritik an der autoritären Herrschaft tritt dann nicht selten die Idee, dass man sich vom Sozialstaat als solchem befreien müsse. Diese Vorstellung vertritt etwa ein erheblicher Teil der „alten Opposition“, die in den 1990er Jahren unter dem Einfluss des neoliberalen Denkens und als Reaktion auf den sowjetischen Staatssozialismus entstanden war. Sie stellt politische Rechte und soziale Rechte einander gegenüber und sieht den Markt als einzig wahren Mechanismus zur Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit.
Osteuropa: Die „neue Opposition“ sieht das anders?
Šparaga: Für viele gesellschaftliche Organisationen, die in den vergangenen zehn Jahren entstanden sind, sind soziale Inklusion und soziale Rechte Schlüsselbegriffe. Für sie sind soziale Rechte ein Bestandteil der politischen Rechte. Dies gilt etwa für Organisationen, die sich für die Rechte der Frauen einsetzen. All diese Organisationen stehen Initiativen nahe, die die neoliberale Agenda jenseits von Belarus kritisieren. Es steht zu hoffen, dass sie bei der politischen und ökonomischen Transformation, die in Belarus jetzt beginnen muss, eine wichtige Rolle spielen, damit diese Transformation nicht nach dem neoliberalen Schema ablaufen wird.
Osteuropa: Das Regime hat die Strategie gewechselt: Statt Gewalt setzt es nun auf Aussitzen. Das Ende der Verfolgung bedeutet, dass die Protestbewegung nicht mehr alleine mit dezentral verbreiteten Protestaufrufen agieren kann, sondern sich strukturieren muss. Zeichnet sich dies bereits ab?
Aljaksandr Adamjanc: Der gemeinsame Stab wurde durch die erzwungene Ausreise von Svjatlana Cichanoŭskaja und Veronika Cepkalo geschwächt. Kolesnikova und Cepkalo hatten Cichanoŭskaja organisatorisch und psychologisch enorm unterstützt. Jetzt sind einige Unstimmigkeiten zwischen den drei Teams aufgetaucht. Marija Kolesnikova und das Team Babaryko verfügen über die größte kreative Kraft und die meisten Ressourcen. Daher ist es äußerst wichtig, dass diese Gruppe und Svjatlana Cichanoŭskaja wieder eng zusammenarbeiten.
Osteuropa: Was ist mit den streikenden Arbeitern?
Adamjanc: Die Streiks in den Betrieben setzten Lukašenka erheblich unter Druck. Wenn es gelingt, in den einzelnen Unternehmen Streikkomitees zu gründen und diese in einem gemeinsamen Komitee zu vereinen, wird dies zur Strukturierung der Proteste beitragen.
Auch der neue Koordinationsrat kann eine wichtige Rolle spielen. Seine Verhandlungsmacht hängt aber davon ab, ob Cichanoŭskaja sich zur gewählten Präsidentin erklären wird, denn sie hat den Anstoß zur Gründung des Rats gegeben. Wichtig ist natürlich auch, wer daran teilnimmt. Es gibt eine erste Liste mit Namen, doch daran muss noch gearbeitet werden. Bislang stehen auf ihr vor allem Personen aus der alten „Opposition“ und aus der Zivilgesellschaft, deren Einfluss jedoch begrenzt ist. Die Arbeiter der streikenden Unternehmen müssen beteiligt werden, ebenso Vertreter aller wichtigen sozialen Gruppen und Berufsgruppen.
Osteuropa: In Lukašenkas Apparat zeigen sich Risse. Der belarussische Botschafter in der Slowakei hat sich solidarisch mit den Demonstranten gezeigt. Welche wichtigen Vertreter des Staats haben Lukašenka den Rücken gekehrt?
Adamjanc: Der Botschafter in Spanien, einige Mitarbeiter des Außenministeriums, der ehemalige Kulturminister und Theaterdirektor Pavel Latuško und einige andere haben erklärt, dass sie das offiziell verkündete Wahlergebnis nicht anerkennen und die Proteste unterstützen. Hochrangige Beamte haben allerdings bislang nichts derartiges verlautbaren lassen.
Osteuropa: In der Protestbewegung ist eine Debatte ausgebrochen, wie es weitergehen soll: den Druck erhöhen oder Konfrontation vermeiden. Wer vertritt welche Linie? Was sind die Argumente? Was denken Sie, ist die richtige Taktik?
Adamjanc: Sehr wichtig ist, was Svjatlana Cichanoŭskaja tun wird. Es wird zwar nicht mehr möglich sein, die abgegebenen Stimmen erneut auszuzählen, weil das Regime die Stimmzettel vernichtet hat. Aber es gibt genügend Hinweise – nicht zuletzt die Ergebnisse in den Wahllokalen, in denen nicht manipuliert wurde –, die den eindeutigen Schluss erlauben, dass Cichanoŭskaja die rechtmäßig gewählte Präsidentin ist. Sie hat nun auch erklärt, dass sie bereit ist, die „nationale Führung“ zu übernehmen. Im nächsten Schritt, müsste sie sich zur legitimen Präsidentin erklären. Dann stehen die Mitglieder des Staatsapparats vor einem Loyalitätskonflikt, der mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Spaltung des Apparats führen wird. Zu einer solchen Spaltung wird es – und das ist äußerst wichtig! – auch in den Gewaltministerien kommen.
Damit sich ein Teil der Vertreter des Staatsapparats in einer solchen Situation der Doppelherrschaft dazu entschließt, aus Lukašenkas Machtvertikale auszubrechen, bedürfen dieser der Unterstützung der Protestbewegung.
Osteuropa: Wie sieht es in den Regionen aus?
Adamjanc: In den Regionen rufen die Demonstranten die örtlichen Verwaltungschefs zum Dialog auf. Dort ist die Aussicht auf Erfolg viel größer als in Minsk. Der Druck der Straße kann dort dazu führen, dass die Behörden die neue Präsidentin anerkennen. Dies ist enorm wichtig, denn das Regime spielt auf Zeit und es übt Druck auf die Arbeiter in den Betrieben aus. Auch mit gezielten Repressionen soll die Protestbewegung geschwächt werden.
Osteuropa: Welche weitere Entwicklung erwarten Sie?
Adamjanc: Es ist nicht ausgeschlossen, dass Lukašenkas Machtsystem erst in einem längeren Prozess zerfällt, wenn immer mehr Beamte nur noch Dienst nach Vorschrift leisten oder Anordnungen unterlaufen. Eine Rolle wird dabei spielen, dass sich die wirtschaftliche Situation rasch verschlechtert. Lukašenkas Modell hatte sich ohnehin erschöpft, nun kommt hinzu, dass der pandemiebedingte Lockdown die Weltwirtschaft in eine Krise gestürzt hat und Belarus nicht mehr von Russland unterstützt werden wird. Spätestens wenn es im Herbst zu einer schweren Wirtschaftskrise in Belarus kommt und die Arbeitslosigkeit steil ansteigt, wird eine neue Protestwelle zum endgültigen Sturz des Lukašenka-Regimes führen.
Ol’ga Šparaga, Dr. phil., Philosophin, Mitgründerin und Leiterin des Clusters „Moderne Gesellschaft, Ethik und Politik“ am European College of Liberal Arts, Minsk. Von ihr erschien zuletzt: Die Post-Holocaust-Gemeinschaft. Wege zu einer inklusiven Gesellschaft (russ., Minsk 2018). Ol’ga Šparaga ist seit 18.8.2020 Mitglied des von Svjatlana Cichanoŭskaja gegründeten Koordinationsrats.
Aljaksandr Adamjanc: Direktor und Mitgründer des European College of Liberal Arts, Minsk
Gespräch und Übersetzung: Volker Weichsel, 18.8.2020