Belgorod und Nižnij Novgorod

Nikolay Mitrokhin, 18.3.2024

Ukrainische Attacken bei schwerer Lage an der Front. Die 107. Kriegswoche

Einheiten der ukrainischen Fremdenlegion haben russländisches Staatsgebiet angegriffen. Die Aktion war militärisch wie propagandistisch ein Misserfolg. Vielversprechender sind die Drohnenangriffe auf Raffinerien. An der Front ist die Lage unverändert schwierig für die Ukraine. Insbesondere der Mangel an Luftabwehrraketen macht der Armee schwer zu schaffen.

Mit Angriffen auf die russländischen Gebiete Belgorod und Kursk hat die Ukraine in der 107. Kriegswoche versucht, für Unruhe in Russland zu sorgen. Das Unterfangen ist gescheitert. Offiziell gehen die Attacken auf das Konto dreier Organisationen russländischer Staatsbürger im Exil: das Russische Freiwilligenkorps (Russkij dobrovol’českij korpus, RDK), die Legion „Freies Russland“ (Legion „Svobodna Rossija“, LSR) und das Bataillon „Sibirien“ (Sibir‘). Gelegentlich werden auch die Namen anderer Einheiten erwähnt, etwa das belarussische Kalinoŭskij-Regiment oder die „Freiwilligen der tschetschenischen Republik Ičkerija“. Bei dem RDK handelt es sich um einen Zusammenschluss rechtsradikaler Russen, die schon lange im Exil sind und Verbindungen zu Ukrainern aus dem „Azov“-Milieu halten. In der LSR haben sich Russen rechter Gesinnung zusammengeschlossen, die erst nach 2022 das Land verlassen haben. Im Bataillon „Sibir‘“ haben sich Vertreter verschiedener Völker Russlands sowie linksradikale Russen zusammengetan. Real sind all diese Gruppierungen – ebenso wie weitere „nationale“ Einheiten – Teil der Fremdenlegion der Hauptverwaltung Aufklärung des ukrainischen Verteidigungsministeriums. Sie sind vor allem für die „politische Kommunikation“ da.

An den Attacken in der zweiten Märzwoche waren neben den kleinen Einheiten ausländischer Soldaten deutlich stärkere ukrainische Kräfte beteiligt, die über einige Dutzend gepanzerte Fahrzeuge, erhebliche Artillerieunterstützung und selbst über Hubschrauber verfügten. Gleichwohl konnten sie keinerlei nennenswerte Erfolge erzielen. Dies hat u.a. damit zu tun, dass Russland anders als bei ähnlichen Ausfällen im Jahr 2023 erkennbar auf einen bevorstehenden Angriff vorbereitet war. Einiges spricht dafür, dass die Pläne verraten wurden, denn das Milieu der russischen Rechtsradikalen war stets stark von den Moskauer Geheimdiensten unterwandert. Die Einheiten gerieten bereits unter Beschuss, als sie sich am 12. März noch auf der ukrainischen Seite zum Angriff sammelten. Am 13. März versuchten sie vom Gebiet Sumy auf ukrainischer Seite aus in einem Streifen zwischen Tetkino im Gebiet Kursk und Grajvoron im Gebiet Belgorod an verschiedenen Stellen die Grenze zu überschreiten. Ihre Hauptstoßrichtung lag in einem etwa 50 Kilometer breiten Streifen westlich von Belgorod. Dies ist ein äußerst dicht besiedeltes Gebiet mit zahlreichen Dörfern direkt an der Grenze oder in deren unmittelbarer Nähe. Entsprechend leicht ist es zu verteidigen. Um wirklich vorzustoßen, hätten die Truppen eine andere Stelle aussuchen müssen, doch das Ziel war offensichtlich einzig und alleine, Panik im Gebiet Belgorod zu verbreiten. Zwischen dem 14. und 15. März verbreitete das RDK ein Dutzend Nachrichten über die Einrichtung humanitärer Korridore für die Bevölkerung im russländischen Grenzgebiet oder sogar für die 350 000 Einwohner der Stadt Belgorod, konnte jedoch offenbar nicht eine einzige Siedlung einnehmen. Am 15. März setzte die Ukraine Truppen per Hubschrauber in einer Siedlung nahe Grajvoron ab, diese nahmen einige Häuser ein, danach war von ihr nichts mehr zu hören.

Verschiedene, teils mit Videodokumentation versehene Berichte von russländischer Seite deuten auf nicht unerhebliche Verluste der angreifenden Truppen hin. Erfolg hatte die Aktion nicht. Die als „Wahl“ bezeichnete Akklamation für den Machthabe im Kreml wurde nicht ernsthaft gestört. Auch die Luftangriffe auf Belgorod mit Drohnen sowie mit Raketen vom Typ Vampir, bei denen Autos und Gebäude beschädigt wurden, haben lediglich zur vorübergehenden Schließung von Einkaufszentren geführt. Auch die politische Wirkung wurde vollkommen verfehlt. Wie in der Ukraine haben auch in Russland Luftangriffe zur Folge, dass die Bevölkerung sich hinter den Staat stellt, statt sich von dem herrschenden Regime abzuwenden. Wenn der für die Aktion verantwortliche Leiter des militärischen ukrainischen Militärgeheimdienstes Kirill Budanov dann noch erklärt, Russland sei eben ein „Land der Sklaven“, verbessert dies die Lage auch nicht. Vor allem stellt sich die Frage, wozu hier sinnlos Kräfte vergeudet wurden, die an anderer Stelle dringend gebraucht werden.

Die Lage an der Front

Denn an den besonders umkämpften Abschnitten der Front ist die Ukraine weiter in schwieriger Lage. Westlich von Avdijivka haben die russländischen Okkupationstruppen die zuvor bereits von zwei Seiten eingekreisten befestigten ukrainischen Stellungen in den Feldern bei den Dörfern Orlivka und Tonen’ke weitgehend eingenommen. Die ukrainische Armee versucht, weiter westlich neue Stellungen zu errichten und greift bei Berdyči an. Die Kämpfe in diesem Abschnitt sind weiter sehr intensiv.

150 Kilometer westlich davon haben die russländischen Truppen nahe Huljajpolje im Gebiet Zaporižžja erstmals seit anderthalb Jahren die dortige Frontlinie durchbrochen und ein neues Dorf eingenommen. Eine neue Angriffswelle Russlands läuft auch am östlichsten Punkt der Front südwestlich und westlich von Lysyčans’k.

Ukrainische Angriffe auf Raffinerien in Russland

Viel mehr Wirkung als mit Ausfällen wie jenen ins Gebiet Belgorod kann die Ukraine mit Angriffen auf kritische Infrastruktur des Gegners erzielen. In der 107. Kriegswoche hat sie mit Erfolg Raffinerien an sechs verschiedenen Orten weit hinter der Front angegriffen. An mindestens einem Standort haben die ukrainischen Drohnen erhebliche Schäden angerichtet. Anders als bei früheren Angriffen zielten die Drohnen nicht mehr auf Öltanks, sondern auf die zentralen Anlagen, in denen Rohöl zu Treibstoff verarbeitet wird. Gelingt es, diese zu beschädigen, kann die Versorgung der Kriegsmaschine viel nachhaltiger gestört werden. Zudem galten die Angriffe der zweiten Märzwoche nicht mehr den vergleichsweise kleinen Anlagen im Süden Russlands, sondern den großen Raffinerien, von denen viele an der Wolga stehen. Vom Nordosten der Ukraine bis nach Kstovo im Gebiet Nižnij Novgorod oder Syzran’ im Gebiet Samara sind es etwas mehr als 1000 Kilometer in direkter Linie – und noch mehr, wenn man bedenkt, dass große Städte und Militäreinrichtungen weiträumig umflogen werden müssen, weil dort mit Luftabwehreinrichtungen zu rechnen ist. Da keine der bekannten ukrainischen oder westlichen Drohnen solche Entfernungen erreicht, stellt sich wie schon bei dem Angriff auf das Stahlwerk in Čerepovec Anfang März die Frage, ob die Drohnen tatsächlich von ukrainischem Gebiet oder nicht doch aus Russland selbst gestartet wurden.

Eine weitere Frage ist, ob versucht wurde, die Drohnen mit Mitteln der elektronischen Kampfführung von ihrem Kurs abzubringen und wenn ja, warum dies gescheitert ist. In russländischen Technikerkreisen wird darüber diskutiert, ob die Ukraine bereits in der Lage sein könnte, Drohnen einzusetzen, die gar nicht mehr mit einem externen Signal gesteuert werden müssen, das gestört werden kann. Sollte dies der Fall sein, steht das Regime im Kreml vor der Frage, ob die privaten Wachdienste, die für die Sicherheit von Raffinerien zuständig sind, mit Flugabwehrgeschützen ausgerüstet werden sollen oder wie die Objekte geschützt werden können, ohne schwere Kriegswaffen an solche Organisationen auszugeben.

Russländische Luftangriffe auf die Ukraine

Auch Russland setzt den Beschuss der Ukraine mit Drohnen und Iskander-Raketen fort. Ziel ist vor allem Odessa. Unter den mehr als 20 Toten, die bei den Angriffen in der zweiten Märzwoche zu beklagen waren, befanden sich der ehemalige stellvertretende Bürgermeister der Stadt Serhij Tetuchin, der Kommandeur des Bataillons Tsunami, Oleksandr Hostiščev, und der stellvertretende Polizeichef des Gebiets Odessa, Dmytro Abramenko. Eine zweite Rakete traf die Rettungskräfte, die zum Ort des Geschehens geeilt waren. Solche gezielten „Zweitschläge“ auf Helfer setzt Russlands Armee bereits seit zwei Monaten ein.

Ein großes Problem für die Ukraine bleiben Aufklärungsdrohnen, die weit hinter die Front vordringen können und wertvolle Objekte ausfindig machen, die Russland anschließend beschießt. Bei Pokrovs’k etwa beschoss die russländische Armee rund 40 Kilometer hinter der Front zwei ukrainische Hubschrauber mit Streumunition, einer wurde zerstört. US-amerikanischen Angaben zufolge fehlt es der ukrainischen Armee mittlerweile derart an Flugabwehrraketen, dass ausgewählt werden muss, welches von mehreren anfliegenden Objekten ins Visier genommen werden soll. Wenig Erleichterung verschafft die Nachricht, dass Griechenland beschlossen hat, seine Luftabwehrsysteme im Zuge der Beschaffung neuer US-amerikanischer Systeme der Ukraine zu übergeben. Denn bis dieser Plan umgesetzt ist, wird es mindestens ein Jahr dauern.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.