Abnutzungskrieg

Eine Zwischenbilanz
6.9.2023

Der zweite Kriegssommer in der Ukraine geht zu Ende. Die ukrainischen Streitkräfte konnten bislang den erhofften Durchbruch der Verteidigungslinien der russländischen Okkupationsarmee auf breiter Front nicht erreichen. Die Zeichen stehen eher auf Fortsetzung des Abnutzungskriegs denn auf baldige Rückeroberung des gesamten besetzten Staatsgebiets. Unter vielen Beobachtern ist die Annahme oder die Befürchtung verbreitet, dass Russland in einem solchen Abnutzungskrieg überlegen sein wird, weil die für die Ukraine essentielle Bereitschaft des Westens zur Unterstützung des angegriffenen Landes nachlassen werde.

Das Kiewer Razumkov-Zentrum hält dem in einer Ende August 2023 veröffentlichten Studie entgegen, dass die Entwicklung der ersten 16 Kriegsmonate in eine andere Richtung weist. Russland hatte den Autoren zufolge zu Beginn des Überfalls 330 000 Mann für den Angriffskrieg zusammengezogen: 150 000 im Heer, 70 000 Soldaten der Marine und der Luftstreitkräfte, 17 000 aus den Reihen der Nationalgarde und des FSB, 8000 Söldner sowie 80 000 mobilisierte Reservisten. Bis zum Winter 2022 wurden weitere 300 000 Zivilisten und 50 000 Strafgefangene mobilisiert. Insgesamt also 680 000 Mann. Davon seien nach vorsichtigen Schätzungen mindestens 200 000 verwundet oder getötet worden.

In der ukrainischen Armee dienten den Autoren zufolge Ende 2022 700 000 Personen, zählt man andere Einheiten sowie die Ordnungskräfte hinzu, standen über eine Million Menschen unter Waffen. Angaben zu ukrainischen Verlusten macht der Bericht nicht. Es heißt lediglich: „Es kann angenommen werden, dass der Gesamtumfang der Streitkräfte sich nicht wesentlich verändert hat. Zweck der Mobilisierung neuer Kräfte ist die Ersetzung von Verlusten und die Schaffung kleiner Reserven“.

Auch bei schweren Waffen hätte sich die Lage zugunsten der Ukraine entwickelt. Nach einer klaren Übermacht Russlands zu Beginn des Krieges habe im April 2023 ungefähr Parität geherrscht. Hierzu liefert das Razumkov-Zentrum Infografiken, die Forbes Ukraine auf der Basis „offener Quellen und „eigener Schätzungen“ erstellt hat. Auffällig ist, dass Forbes für die ukrainischen Verluste Zahlen der von zwei ehemaligen Bellingcat-Mitarbeitern geschaffenen Open-Source-Intelligence-Plattform Oryx verwendet, die nur Gerät zählt, dessen Zerstörung mit geolokalisiertem Fotobeweis dokumentiert ist, so dass die Zahlen nach Aussage der Gründer niedriger als die tatsächlichen Verluste sind. Für das zerstörte Gerät der russländischen Armee verwendet Forbes hingegen Zahlen des Generalstabs der Ukraine.

Trotz der für die Ukraine günstigen Entwicklung habe Russland bei Artillerie und Flugzeugen jedoch noch ein Übergewicht, was ein substantielles Hindernis für die ukrainische Gegenoffensive sei. Die Studie endet mit dem Fazit:

„Die Ziele der ukrainischen Offensive sind: alle besetzten Gebiete zu befreien; Russland solche Verluste zuzufügen, dass dem Land auf lange Zeit kein erneuter Angriff mehr möglich sein wird; im Idealfall einen Zerfall Russlands einzuleiten.

Russland hat noch für längere Zeit ein recht großes Mobilisierungs- und militärtechnisches Potential. Die fortschreitende Erschöpfung von Nachschubquellen wird in gewissem Ausmaß durch die Konzentrierung von Kräften in den wichtigsten Kampfzonen erreicht. Wenn die laufende ukrainische Offensive keine strategische Wende herbeiführen kann, wird Russland in der Lage sein, erneut Kräfte zu sammeln, die Verteidigungsstellungen in den besetzten Gebieten auszubauen und die Auseinandersetzung in einen Dauerkrieg verwandeln.

Die politischen Kreise mancher westlicher Partner hegen Hoffnungen auf einen durchschlagenden und raschen Erfolg der ukrainischen Offensive. Entsprechend kommen Fragen und sogar Beschwerden über die geringe Geschwindigkeit der laufenden Offensive auf. Angesichts des aktuellen Kräfteverhältnisses würde eine einzige Offensive, selbst wenn sie sehr erfolgreich ist, mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht das gewünschte Ergebnis bringen: ein vollständiger Sieg über Russland. Und sie würde mit riesigen ukrainischen Verlusten einhergehen.

Die Offensive der ukrainischen Armee wird eine Mischung aus Offensiv- und Defensivoperationen umfassen, die in Bezug auf ihre Ziele, die Ressourcen und den Zeitpunkt aufeinander abgestimmt sind. Die Geschwindigkeit und die Ergebnisse werden in großem Maß von der militärischen und technischen Unterstützung abhängen, die die Ukraine von ihren westlichen Partnern erhält. Es geht vor allem um Langstreckenraketen und Kampfflugzeuge zur Unterstützung und Deckung der vorrückenden Kräfte mit Luftschlägen. Die Verzögerung bei der Bereitstellung solcher Ausrüstung ist zurückzuführen auf Differenzen zwischen der Ukraine und einigen ihrer westliche Partner über die Frage wie der „Sieg über Russland“ aussehen soll.

red