Brückenköpfe und Abraumhalden

Nikolay Mitrokhin

Die 87. Kriegswoche, 24.10.2023

Die Ukraine hat im Gebiet Cherson kleinere Erfolge zu verzeichnen. Es ist ihr gelungen, die Zahl der Brückenköpfe am linken Ufer des Dnipro zu erhöhen. Von diesen aus könnte sie eine neue Gegenoffensive eröffnen. Russlands Angriff bei Avdijivka hat zu äußerst hohen Verlusten geführt und ist gescheitert.

Der Ukraine ist es in der 87. Kriegswoche gelungen, zwei neue Brückenköpfe am linken Ufer des Dnipro zu schaffen. Nördlich der gegenüber von Cherson gelegenen Stadt Olešky überquerte die Armee in der Nacht vom 16. auf den 17. Oktober nahe der Eisenbahnbrücke den Fluss, rückte auf einer Breite von zwei Kilometern um zwei Kilometer vor und nahm drei Dörfer ganz oder teilweise ein. Dies könnte der Beginn einer Herbstoffensive sein. Der Uferbereich wurde weder stark verteidigt, noch war er komplett vermint. Danach stießen die ukrainischen Truppen jedoch auf Widerstand und mussten sich, nachdem die russländische Armee Verstärkung mit Artillerie herangeführt hatte, wieder um einen Kilometer zurückziehen. Der Versuch, in die Flanken des Gegners vorzustoßen, ist vorerst nicht umgesetzt.

Allerdings ist es der ukrainischen Armee in der gleichen Nacht gelungen, einige Kilometer weiter flussaufwärts nach Kosači Laheri einen weiteren Brückenkopf am linken Ufer zu errichten. Dies hatte sie bereits im August versucht, damals ohne Erfolg. Damit hat die Ukraine nun an vier Stellen im okkupierten linksufrigen Teil des Gebiets Cherson Stellungen errichtet, die ein weiteres Vordringen ermöglichen sollen.

Ebenfalls in der Nacht zum 17. Oktober setzte die Ukraine erstmals einen neuen Waffentyp ein, den die USA zuvor ohne Bekanntgabe geliefert hatten: ballistische Kurzstreckenraketen vom Typ ATACMS (Army Tactical Missile System). Sie haben eine Reichweite von 165 Kilometern und werden von den gleichen Fahrzeugen gestartet wie die Himars-Raketen. Es handelt sich jedoch nicht um den neusten Typ dieser Rakete, der eine Reichweite von 300 Kilometern hat, sondern um Raketen, die bereits in den 1990er Jahren hergestellt wurden und von den US-Streitkräften nicht mehr verwendet werden. Bei dem unerwarteten Angriff auf einen Flugplatz bei Berdjans’k sowie ein Reparaturwerk für Flugzeuge mit anliegendem Flugfeld bei Luhans’k wurden insbesondere Hubschrauber zerstört, die Russland in den vorhergehenden Monaten eingesetzt hatte, um Panzer vorrückender ukrainischer Truppen mit Raketen des Typs „Vichr‘“ zu beschießen. Nach unterschiedlichen Angaben wurden auf den beiden Flugplätzen bis zu 18 Maschinen getroffen, alleine in Berdjans’k wurden mindestens fünf komplett zerstört. Auch Spezialtechnik, Munitionslager, Treibstoff und Teile von Luftabwehrgeschützen gingen in Flammen auf.

Der Verlust der Hubschrauber macht sich bei den Versuchen bemerkbar, die neuen Brückenköpfe der ukrainischen Armee zu zerschlagen. Die herangeführten Truppen und die Artillerie alleine reichen dazu offenbar nicht aus. Panzer und andere gepanzerte Fahrzeuge kann Russland im ufernahen Gebiet nicht einsetzen, da diese sofort entdeckt und vom anderen Ufer beschossen werden. Die Hubschrauber, die sie zuvor eingesetzt hatte, gibt es nicht mehr. Allerdings ist es der Ukraine u.a. wegen schlechter Wetterbedingungen offenbar nicht gelungen, in großer Zahl schwere Waffen über den Fluss zu bringen und die Stellungen zu befestigen. Gleichwohl sind die ukrainischen Truppen gegen Ende der Woche nach Karten des russländischen Militärkanals Rybar’ bis nahe an Olešky herangerückt. Sollte es gelingen, die Stadt einzunehmen, würde sich der Ukraine nach der gescheiterten Sommeroffensive hier doch noch eine Möglichkeit eröffnen: Dann wäre es möglich, Pontonbrücken zu errichten und am linken Ufer des Dnipro Gerät und Munition für eine neue Schlacht im Süden des Gebiets Cherson anzuhäufen.

Von Bedeutung dafür könnten auch Angriffe auf das flussabwärts von Cherson am linken Ufer gelegene Hola Prystan’ sowie auf die Kinburg-Halbinsel liegen. Sollte es der Ukraine gelingen, diese in die breite Dnipro-Mündung ragende Halbinsel zu befreien, hätte sie die Blockade der Häfen im Gebiet Mykolajiv beendet. Auch würden sich die Lage der ukrainischen Truppen auf dem rechten Ufer im Süden des Gebiets Mykolajiv entspannen und sich neue Möglichkeiten zum Angriff auf den Nordwesten der Krim ergeben. Bei einem solchen Versuch würde regnerisches Herbstwetter den ukrainischen Landungstruppen zugutekommen. Sie bewegen sich mit leichten Booten, während Russland über die durchgeweichte Steppe kein schweres Gerät heranführen kann. Mit diesen Plänen könnte der Besuch von Volodymyr Zelens’kyj in Verbindung stehen, der am 20. Oktober in Cherson mit dem Oberkommandierenden der ukrainischen Armee und dem Chef des Generalstabs zusammentraf und anschließend nach Mykolajiv weiterreiste, wo er von der Öffnung der Häfen und einer verbesserten Sicherheitslage sprach.

Scheitern der russländischen Offensive bei Avdijivka

Russland hat am 10. Oktober einen erneuten Versuch gestartet, die im Gebiet Donec’k leicht nördlich der besetzten Gebietshauptstadt gelegene Industriestadt Avdijivka einzunehmen. Dies ist im Grunde ein einfaches Ziel. Die Stadt ist seit 2014 von drei Seiten eingekreist. Um sie zu erobern, müssen die russländischen Truppen nicht einmal den Ring schließen. Es genügt, von Norden und Süden zwischen drei und fünf Kilometer vorzurücken, so dass die beiden von Westen in die Stadt führenden Straßen unter Feuer genommen werden können. Dazu unternahmen die russländischen Truppen vor allem im Norden erhebliche Anstrengungen, stießen jedoch auf massive ukrainische Befestigungsanlagen.

Nach kurzer Einstellung der Angriffe nahmen die russländischen Einheiten diese in der 87. Kriegswoche erneut auf und konnten unter schweren Verlusten einige Hundert Meter vorrücken. Nach ukrainischen Angaben nehmen mindestens drei reguläre Brigaden an der Offensive teil. Verstärkt werden sie von „Štorm-Z“-Truppen, für die Strafgefangene rekrutiert wurden. Die Einheiten waren seit Beginn des Jahres für diese Offensive vorbereitet worden. Das Ergebnis ist verheerend. Offenbar gelang es, eine wichtige Abraumhalde nördlich der Stadt einzunehmen und im Nordosten an einer Stelle zum Stadtrand vorzudringen. Doch ein echter Vorstoß im Westen der Stadt ist nicht gelungen. Vor allem aber sind die Verluste riesig. Westliche Quellen haben 110 verlorene Fahrzeuge gezählt, davon 90 Prozent gepanzerte. Die ukrainischen Zahlen sind noch höher. Alleine am 19. Oktober seien bei einem erfolglosen Sturmangriff mehr als 50 Fahrzeuge zerstört worden. Die großen russländischen Militärkanäle verschweigen die Verluste, einige kleinere Kanäle erwähnen sie jedoch.

Die Geschehnisse erinnern an die Kämpfe um Vuhledar im Winter 2022–2023, wo die Bodentruppen der Pazifikflotte riesige Verluste bei dem Versuch erlitten, zwei Dörfer im Umland einzunehmen und anschließend die Stadt zu stürmen. Auch der Angriff auf Avdijivka ist praktisch gescheitert. Die Ukraine hat Reserven herangeführt, die anscheinende auch über Leopard-Panzer verfügen, die zuvor nur im Gebiet Zaporižžja eingesetzt worden waren.

Hat die Ukraine Avdijivka erfolgreich verteidigt, so sind ihr jedoch bei den eigenen Versuchen, die Besatzungstruppen zurückzudrängen, auch in der 84. Kriegswoche keine großen Erfolge gelungen. Bei Verbove im Gebiet Zaporižžja greifen ukrainische Marineinfanterieeinheiten an und hindern so Russland an der Verlegung von Soldaten, die gegen im Gebiet Cherson an das linke Dniproufer übergesetzte ukrainische Trupps eingesetzt werden könnten. Ende der Woche wurden die Kämpfe bei Velyka Novosilka heftig geführt. Ergebnisse brachten diese in beiden Fällen nicht. Im Norden der Front ist die Schlacht um Kupjans’k ergebnislos eingestellt. Bei Kreminna ist die Ukraine zur Gegenoffensive übergegangen – ebenfalls bislang ohne Resultat.

Diskussion über Kriegsziele in der Ukraine

Im Vorfeld einer möglichen Präsidentschaftswahl gibt es in der Ukraine Anzeichen einer öffentlichen Debatte über die Kriegsziele. Der ehemalige Berater Zelens’kyjs, Oleksij Arestovyč, warf in einer auf Russisch gehaltenen Rede seinem früheren Chef vor, dass dieser das Scheitern der Sommeroffensive nicht zugebe. Er verhindere so eine notwendige Debatte über die Frage, ob das Ziel einer Rückeroberung des gesamten Staatsgebiets in den Grenzen von 1991 noch realistisch sei. Der Vorsitzende des Rats für Nationale Sicherheit und Verteidigung Oleksij Danilov drohte Arestovyč mit einem Strafprozess wegen der Verbreitung defaitistischer Stimmung. Arestovyč griff Danilov daraufhin in harschen Worten an und erklärte, dass dieser in den 1990er Jahren kriminellen Gruppen aus Luhans’k nahegestanden hätte – worüber es zahlreiche Gerüchte und sogar angebliche Fotobeweise gibt.

Ein weiterer potentieller Kandidat bei Präsidentschaftswahlen, über deren Abhaltung noch entschieden werden muss, ist Andrij Bilec’kyj, der Kommandeur der Dritten Sturmbrigade (3-tja okrema šturmova brigada, 3ošbr) und einstige Gründer des „Regiments Azov“. Er brachte öffentlich zur Sprache, dass die von Russland eingesetzte Drohne „Orlan“ der Ukraine große Probleme bereite, da diese in großer Zahl hergestellt werde und mit den zur Verfügung stehenden radioelektronischen Mitteln nicht abgefangen werden könne.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.