Das Kernkraftwerk Zaporižžja

Kriegsschauplatz und Testfall der Reaktorsicherheit

Anna Veronika Wendland, 14.8.2023

Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine ist der erste zwischenstaatliche Krieg in der Menschheitsgeschichte, in dem zivile Atomanlagen angegriffen wurden. Das von Russland besetzte Kernkraftwerk Zaporižžja ist Kriegsschauplatz und Testfall für die Reaktorsicherheit unter Kriegsbedingungen. Es ist repräsentativ für die Sicherheit der anderen baugleichen Kernkraftwerke in der Ukraine. In Zaporižžja kam es infolge der Kriegshandlungen zu zahlreichen anormalen Betriebssituationen. Die Belegschaft muss unter dem Terror der Besatzer die Sicherheit der Anlage gewährleisten. Notsituationen verliefen bislang glimpflich. Doch die Sorge besteht, dass es in Zaporižžja zu einem großen Reaktorunfall kommt. Die Angst vor einem solchen Unfall ist auch ein Instrument der hybriden Kriegsführung.

Die Ukraine ist ein nukleares Schicksalsland. Die Kernenergie spielt eine bedeutende ökonomische Rolle: Rund 50 Prozent des ukrainischen Stroms stammen aus Kernkraftwerken (KKW). In der Ukraine befindet sich auch der Erinnerungsort der globalen Umwelt- und Katastrophengeschichte: das Kernkraftwerk Tschernobyl (Čornobyl’), in dem sich am 26. April 1986 der schwerste Unfall in der Geschichte der zivilen Kernenergienutzung ereignete.[1] Seit dem Beginn der massiven russländischen Invasion im Februar 2022 ist die Ukraine um einen nuklearen Erinnerungsort reicher: die Atomstadt Enerhodar mit dem KKW Zaporižžja, der größten zivilen Atomanlage Europas. Die Zaporiz’ka Atomna Elektryčna Stancija (ZAES) wurde am 4. März 2022 von den Angreifern gewaltsam besetzt und geriet aufgrund der Kriegshandlungen mehrmals in anormale Betriebszustände. Das Kraftwerk ist „Geisel“ in einem Nervenkrieg zwischen den Kriegsparteien, der auch internationale Auswirkungen hat. Das Schicksal der Belegschaft unter feindlicher Besatzung steht exemplarisch für das Schicksal der Ukraine unter russländischer Besatzung. Wie unter einem Brennglas konzentrieren sich hier die Dynamik der Kriegs- und Krisenereignisse, der Terror der Okkupation, Widerstand und Kollaboration. Dazu kommen die kerntechnischen Risiken.

Aus historischer Perspektive sind Angriffe auf die kritische Infrastruktur mit katastrophalen Folgen nichts Neues. Seit es Infrastruktur der Daseinsvorsorge und Energieversorgung in modernen Industriestaaten gibt, sind diese ein potenzielles Kriegsziel.[2] Im 20. Jahrhundert wurden derartige Angriffe zum Merkmal des totalen Krieges – es sei auf die traumatische Erfahrung der Zerstörung urbaner Infrastruktur durch den Luftkrieg von Guernica bis Dresden verwiesen, aber auch auf die Zerstörung der Eder- und Möhnetalsperre durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg.[3] Die systematische Bombardierung der ukrainischen Energieinfrastruktur im Herbst und Winter 2022/23 sowie die Sprengung des Kachovka-Staudamms am 6. Juni 2023 durch die russländischen Besatzer waren die ersten Ereignisse dieser Art in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs, sieht man von den an Ausmaß geringeren NATO-Luftschlägen gegen serbische Industrie- und Telekommunikations-Infrastruktur im Kosovo-Krieg im Frühjahr 1999 ab.[4] Atomanlagen waren außerhalb Europas auch schon früher Ziel staatlicher Angriffe. Es handelte sich um begrenzte Spezialoperationen, die wie die Angriffe Israels und Irans auf den Irak sowie eines mutmaßlich israelischen Angriffs auf den Iran, Anlagen galten, die entweder gesichert oder mutmaßlich militärischen Atomprogrammen dienten. Auch wurden diese Angriffe nicht nur mit konventionellen Waffen, sondern auch mit dem Mittel der Cyber-Attacke ausgeführt, und es kam nicht zu Besatzungsregimen.[5] Insofern sind die Entwicklungen um die ukrainischen zivilen Atomanlagen, die zu Kriegsschauplätzen wurden, ein Novum.

Das betrifft mehrere Ebenen. Auf der militärischen und der kerntechnischen Ebene stellt sich die Frage, was es bedeutet, wenn sich in einem Kriegsgebiet zivile Atomanlagen befinden, welche Risikoszenarien es gibt und welche Vorkehrungen existieren oder getroffen werden müssten, um kritische nukleare Infrastruktur vor Einwirkungen der Kriegshandlungen zu schützen. Nicht weniger komplex ist die soziotechnische und historisch-hermeneutische Ebene. Ein Kernkraftwerk ist nicht nur eine Industrieanlage, sondern ein soziotechnisches System, in dem Mensch und Maschine interagieren und Normen und kulturelle Faktoren eine Rolle spielen. Kriegshandlungen greifen massiv in dieses System ein. Atomanlagen haben nicht nur die infrastrukturelle Funktion, Strom zu produzieren und das Land mit Energie zu versorgen. Sie sind auch Symbole der technischen Leistungsfähigkeit des ukrainischen Staates. Insofern zielen Angriffe auf Atomkraftwerke auch auf die ukrainische Staatlichkeit. Außerdem steht auf beiden Seiten eine Droh- und Bedrohungskommunikation im Mittelpunkt der jeweiligen Aussagen über die angegriffenen Infrastrukturen, die der Erreichung von taktischen und strategischen Kriegszielen dient.

Quellenlage

Atomanlagen unterliegen strengen Überwachungsregimen, die sowohl der kerntechnischen Sicherheit (nuclear safety) als auch der Absicherung vor Terrorismus und Proliferation dienen, d.h. der Verhinderung von Diebstahl oder missbräuchlicher Abzweigung von Nuklearmaterialien (nuclear security). Das erschwert bereits in Friedenszeiten den Einblick in solche Anlagen, die Aggregation dieser Informationen und die Analyse. Die Hürden für die Forschung sind hoch, viele Daten, die in den Anlagen erhoben werden, sind nicht öffentlich zugänglich, Verschwiegenheitsbestimmungen regulieren den Informationsfluss nach außen.[6] Unter den Bedingungen von Krieg und Besatzung ist die schwierige Quellenlage noch restriktiver: Die Online-Übermittlung betrieblicher Messstellennetze an die ukrainischen Aufsichtsorgane ist unterbrochen,[7] die Belegschaft unterliegt einer Kontaktsperre, die Kommunikation der beteiligten (Militär-)Behörden folgt auf beiden Seiten den übergeordneten Kriegszielen; Mitarbeiter und sonstige Zeugen werden bedroht und können nicht offen sprechen, Informationen fließen daher meist konspirativ oder anonym und sind nicht überprüfbar. Zu den Quellen dieses Beitrags gehören die ständig aktualisierten Lageberichte der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEA, einer für die zivile Nutzung der Kernenergie zuständigen Unterorganisation der Vereinten Nationen mit Sitz in Wien, die seit Anfang September 2022 mit einem kleinen Team im Kernkraftwerk Zaporižžja dauerhaft präsent ist. Die IAEA-Inspektoren sind – obwohl in ihrer Bewegungs- und Beobachtungsfreiheit und wegen ihrer Neutralitätspflicht in ihrer Urteilsfreiheit eingeschränkt – derzeit die einzigen unabhängigen Beobachter vor Ort.[8] Die IAEA unterhält in Wien ein rund um die Uhr besetztes Krisenzentrum, das den Kontakt zur ukrainischen Atomaufsichtsbehörde SNRIU und zur Betreiberorganisation, dem staatlichen Atomkonzern Enerhoatom, hält und in dem Lageanalysen zusammenlaufen. Beide ukrainischen Organisationen publizieren auf ihren Webseiten ebenfalls ständig aktualisierte Lageberichte.[9] Analysen der Sicherheitslage werden auch in deutscher Sprache angefertigt, vor allem von der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS).[10] Viele Informationen über die Situation stammen aus anonymen Quellen, aber auch aus geleakten Dokumenten der Besatzer, die von ukrainischen Hackern an die Öffentlichkeit gebracht wurden. Aussagen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Anlage werden zumeist über die Telegram-Kanäle der evakuierten Kraftwerksleitung, des evakuierten Bürgermeisteramts von Enerhodar, der Betreiberfirma Enerhoatom und der ukrainischen Atomaufsicht veröffentlicht. Auch die Kraftwerksleitung der Besatzer unterhält einen Telegram-Kanal, dessen Verlautbarungen indirekt Schlussfolgerungen auf die Situation zulassen.[11] Außerdem fließen in die vorliegende Analyse nichtpublizierte Unterlagen aus einem eigenen Forschungsprojekt im Kernkraftwerk Rivne ein, einer Schwesteranlage von Zaporižžja.[12] Dazu gehören vor allem die Laborbücher mit Aufzeichnungen aus eigener Beobachtung in einer mit den Zaporižžja-Blöcken baugleichen Reaktoranlage, Rivne-3, und die während der Forschungsaufenthalte in den Jahren 2013 bis 2018 eingesehenen Unterlagen (Betriebshandbücher, Prüfhandbücher, Schaltpläne, Raumpläne, Systembeschreibungen, technische Zeichnungen, Schulungsunterlagen), die Auskunft über die technischen Charakteristika sowie verfahrens- und sicherheitstechnische Prozeduren der Anlagen geben. Daneben gibt es öffentlich zugängliche russische Handbücher.[13] Außerdem kann man auf die publizierten Ergebnisse des Post-Fukushima-Stresstests der ukrainischen Kernkraftwerke zurückgreifen.[14]

Chronik der Ereignisse von Tschernobyl bis Zaporižžja

Ukrainische Atomanlagen rückten fast sofort nach dem Beginn der Großinvasion Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 ins Visier der Angreifer. Das betraf das stillgelegte Kernkraftwerk (KKW) Tschernobyl und die am selben Standort befindlichen Anlagen der nuklearen Entsorgungs-Infrastruktur sowie das zum Zeitpunkt der Invasion im Leistungsbetrieb befindliche KKW Zaporižžja, das im Südosten der Ukraine direkt an der Frontlinie liegt.

Bereits in den ersten Kriegstagen besetzten russländische Truppen das Kernkraftwerk Tschernobyl im Norden der Oblast’ Kyjiv, dessen Block 4 1986 den schwersten Reaktorunfall in der Geschichte der Kernenergienutzung erlitten hatte. Die Gegend um das Kernkraftwerk ist bis heute eine Sperrzone, die unmittelbar an der belarussischen Grenze gelegen ist und von den Angreifern wegen der schwachen ukrainischen Grenzsicherung für ihren Vorstoß auf Kiew ausgewählt wurde. Auf dem Kraftwerksgelände befindet sich auch ein staatliches Zwischenlager für abgebrannte Brennelemente aus Tschernobyl sowie aus weiteren ukrainischen Kernkraftwerken. Die Anlage und das umgebende Gebiet sowie die rund 50 Kilometer östlich davon liegende Atomstadt Slavutyč wurden rasch von den russländischen Truppen eingenommen. Nationale und internationale Beobachter sorgten sich um das Schicksal der Schichtmannschaften in Tschernobyl, die ohne Möglichkeit einer Ablösung auf der Anlage festgehalten wurden, und befürchteten eine Beschädigung der Ummantelung der Reaktorruine sowie Stromausfälle. Dies betraf vor allem die Kühlung der zu großen Teilen in Lagerbecken aufbewahrten Brennelemente, die aus den drei ab 1991 sukzessive stillgelegten Tschernobyl-Blöcken stammen. Tatsächlich kam es zu einer mehrtägigen Unterbrechung der Stromversorgung. Doch da die Brennelemente in Tschernobyl kaum mehr Nachzerfallswärme entwickeln und sie einen längeren Ausfall der Beckenkühlsysteme ohne Schaden überstehen können, kam es zu keinem radiologisch bedeutsamen Verlauf. Gleichzeitig gaben die militärischen Aktivitäten der Besatzer in der Evakuierungszone und der schwer kontaminierten unmittelbaren Umgebung des Kraftwerks Anlass zur Sorge. Militärfahrzeuge wirbelten radioaktiv belasteten Staub auf. Soldaten hoben in der kontaminierten Zone des Kraftwerks Schützengräben aus und errichteten Befestigungen, offenbar ohne jede Schutzausrüstung und Wissen über die damit verbundenen Gefahren. Die russländische Besatzungsherrschaft in Tschernobyl endete mit der Zurückdrängung der Angreifer aus dem Raum Kiew und Černihiv Ende März 2022.[15]

Anders die Lage im Süden der Ukraine. Mit sechs Blöcken und 6000 Megawatt installierter Gesamtleistung ist Zaporižžja das größte Kernkraftwerk Europas und die leistungsstärkste Anlage in der Ukraine. Die Reaktoren gingen zwischen 1984 und 1995 in Betrieb.[16] Zu sowjetukrainischen Zeiten war das Kernkraftwerk, wie auch Tschernobyl, ein Vorzeigebetrieb auf dem historischen Boden der ukrainischen Kosaken-Glorie, nahe der alten Saporoger Sič, rund 50 Kilometer entfernt von der Bezirkshauptstadt Zaporižžja. Anders als die anderen ukrainischen KKW, die in den strukturschwachen, sumpfigen und waldreichen Landschaften der rechtsufrigen Ukraine errichtet wurden, ist Zaporižžja in einer alten Energielandschaft zu Hause, wo es bereits ein großes Kohlekraftwerk gab. Angesichts der wiederkehrenden Engpässe beim Kohle-Transport im Winter versprach sich die sowjetische Regierung von der Kernenergie eine unterbrechungsfreie, winterfeste Stromversorgung für das Donbass-Dnipro-Industriegebiet und die Halbinsel Krim. Für die ZAES-Belegschaft und das Personal der zahlreichen Nebenbetriebe des Kraftwerks wurde in Sichtweite des KKW die Atomstadt Enerhodar gegründet, die vor dem Krieg 80 000 Einwohner hatte. 11 500 Menschen waren beim Kraftwerk beschäftigt.[17] Bis 2022 bestritt das Kernkraftwerk Zaporižžja rund 20 Prozent der ukrainischen Stromversorgung, allerdings konnte es erst seit Januar 2021 seine volle Leistung einspeisen, nachdem eine neue Höchstspannungsleitung fertiggestellt worden war.[18]

Zaporižžja ist das Schwergewicht im Reaktorpark der staatlichen ukrainischen Atomkraftwerksbetreiberin Enerhoatom. Wegen ihrer schieren Größe und ihrer in Bezug auf die anderen Standorte, die sich alle in der rechtsufrigen Ukraine befinden, leicht exzentrischen geographischen Lage im Südosten des Landes ist die ZAES eine Art Staat im Staate. Vor dem Krieg waren die Blöcke Erprobungsort für die Diversifizierung der Kernbrennstoffe, die durch den Krieg beschleunigt wurde.[19] Die Reaktoren wurden seit Mitte der 2010er Jahre mit Kernbrennstoff vom US-Hersteller Westinghouse beschickt. Damit verlor der russländische Brennelementhersteller TVĖL einen seiner wichtigsten Kunden, was Anlass zu einem ukrainisch-russländischen Nervenkrieg um die Brennstofffrage wurde. Seit der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges 2014 versuchten russländische Quellen, um das KKW Zaporižžja Fake-News zu streuen, etwa jene, die Westinghouse-Brennelemente seien wegen ihres vom TVĖL-Original abweichenden Neutronenspektrums hochgefährlich für die Reaktoren, oder es habe einen vertuschten Reaktorunfall gegeben.[20] Solche Fehlinformationen sollten Angst verbreiten und die Unfähigkeit des ukrainischen Staates „belegen“, komplexe nukleare Anlagen zu betreiben. Sie passen nahtlos in die russländische imperiale Propaganda, wonach die Ukraine unfähig zur Staatsbildung sei.[21]

Die sechs Kernkraftwerksanlagen in Zaporižžja sind Druckwasserreaktoren des sowjetischen Typs VVER-1000-V320, des am weitesten fortgeschrittenen spätsowjetischen Reaktortyps, der in seinen Standards denen westlicher Anlagen ähnelt und der – das sei an dieser Stelle wegen der vielen in der westlichen Öffentlichkeit kursierenden Missverständnisse über ukrainische Atomkraftwerke erwähnt – nicht mit dem RBMK-Reaktor in Tschernobyl verwechselt werden darf.[22] Das Grundkonzept des VVER-1000 ähnelt deutschen Kernkraftwerken mit Druckwasserreaktor: Monoblockanlagen mit einer „nuklearen Insel“ aus Reaktor- und Hilfsanlagengebäude mit einer 4-Loop-Reaktoranlage und einem für jeden Block getrennten Maschinenhaus, in bzw. an dem die „konventionellen“ Teile der Dampferzeugungsanlage und elektrische Anlagen untergebracht sind. Es gibt aber auch Unterschiede zu deutschen KKW-Konzepten, die in unserem Zusammenhang von Bedeutung sind: die serielle Aufstellung mehrerer baugleicher Blöcke nebeneinander, was eine Vervielfältigung der Bedrohungslage bedeutet, und die Auslagerung gemeinsamer nuklearer Nebenanlagen mehrerer Blöcke in ein weiteres Gebäude, den Special’nyj korpus, was für die Absicherung vor radioaktiven Freisetzungen von Bedeutung ist.[23]

In der Nacht zum 4. März 2022 verschafften sich die Angreifer gewaltsam Zugang in die Stadt Enerhodar und auf das ZAES-Gelände. Die russländischen Truppen beschossen ein dem Betriebsgelände vorgelagertes Verwaltungs- und Schulungsgebäude, in dem sich die ukrainischen Nationalgardisten, die die Anlage bewachten, verschanzt hatten. Das Gebäude geriet in Brand, drei Nationalgardisten starben und das im Gebäude untergebrachte Simulatorzentrum, in dem die Schichtmannschaften geschult werden, wurde schwer beschädigt. Da zunächst nicht klar war, ob auch die Reaktoranlagen beschossen worden waren, erzeugte dieser Angriff weit größere Unsicherheit und Ängste als die Eroberung von Tschernobyl. Russland brach mit dem Angriff auf ein laufendes Kernkraftwerk das Kriegsvölkerrecht: Artikel 56 im Zusatzprotokoll der Genfer Konvention über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte verbietet Angriffe auf Objekte wie Deiche, Staudämme und Kernkraftwerke, wenn sie für die Zivilbevölkerung gefährliche Kräfte freisetzen können.[24]

Konsolidierung und Terror

Auf die dramatischen und dynamischen Ereignisse folgte eine Art Konsolidierungsphase, die aber keinen Anlass zur Entwarnung gab. Der Umgang der Besatzer mit der Anlage ähnelte einer Geiselnahme: Die ukrainische Kraftwerksleitung blieb zwar auf ihrem Posten, konnte aber weder zur Firmenzentrale in Kiew noch zur Atomaufsichtsbehörde Kontakt aufnehmen. Auf dem Betriebsgelände sind seit dem 4. März 2022 russländische bewaffnete Soldaten ständig präsent. Sie bedrohen die Betriebsmannschaften und behindern sie bei der Verrichtung ihrer täglichen Kontrollgänge und Arbeiten. Es gab Geschosseinschläge auf dem Betriebsgelände, das anlageneigene Messstellennetz zur radiologischen Umgebungsüberwachung fiel zum Teil aus, seine Datenleitung nach außen wurde gekappt. Die IAEA vermerkte, dass die sieben Pfeiler, auf denen kerntechnische Sicherheit beruht, in Zaporižžja durch den Angriff bereits zerstört oder in ihrer Stabilität bedroht seien. Voraussetzung für die kerntechnische Sicherheit sind: 1. die physische Integrität der Anlagen, 2. die volle Funktionsfähigkeit der Sicherheits- und Überwachungssysteme, 3. die Betriebsmannschaften müssen unbehelligt arbeiten und entscheiden können, 4. die sichere externe Stromversorgung muss gewährleistet sein, 5. die Versorgung mit Nachschub für das Kraftwerk muss gewährleistet sein, 6. die Überwachung der Umgebung und Maßnahmen zum Notfallschutz müssen garantiert sein und 7. ist die ungehinderte Verbindung der Anlage mit der Betreiberorganisation und der Atomaufsichtsbehörde erforderlich. Der wiederholten Forderung der IAEA nach einer Demilitarisierung des Kraftwerksgeländes als der grundlegenden Voraussetzung für Sicherheit folgte Russland nicht.[25]

Nach der gewaltsamen Besetzung versuchen die Besatzer seit Oktober 2022 die Anlage auch formalrechtlich zu übernehmen. Enerhodar wurde mit weiteren Teilen der Oblast‘ Zaporižžja von Russland annektiert. Diese Annexion wird international als illegal bewertet und nicht anerkannt. Am 5. Oktober 2022 erließ der russländische Präsident Putin ein Dekret zur Überführung des Kernkraftwerks Zaporižžja in den Besitz der Russländischen Föderation, vertreten durch den Atomkraftkonzern Rosėnergoatom. Dem KKW wurde eine neue Rechtsform verliehen. Es firmiert als Unterabteilung von Rosėnergoatom, als AO ėkspluatacionnaja organizacija Zaporožskoj AĖS. Der Briefkopf der neuen Organisation nennt als „juristische“ Adresse eine Postanschrift in Moskau. Russlands Industrieaufsicht Rostechnadzor, die auch Vertreter ins Kraftwerk entsandt hat, bereitet die Lizenzierung der Anlage vor. De iure ist jede Handlung der russländischen Seite im Kraftwerk ohne Einverständnis der Behörden in Kiew ein Verstoß gegen die geltende ukrainische Betriebsgenehmigung. Unklar ist der Status der schon vorher auf der Anlage anwesenden Vertreter von Rosėnergoatom, darunter leitende Ingenieure aus den baugleichen Anlagen Rostov und Balakovo. ZAES-Mitarbeiter vermuten, sie seien entsandt worden, um Informationen über westliche Ausrüstung, Leittechnik und vor allem den Westinghouse-Brennstoff zu sammeln.[26] Im Oktober 2022 installierte Rosėnergoatom eine neue Kraftwerksleitung unter dem „Generaldirektor“ Oleg Romanenko, zuvor Chefingenieur des Kernkraftwerks Balakovo in Russland. Der eigentliche Generaldirektor, Ihor Murašov, war kurz zuvor verhaftet und in das Gebiet unter ukrainischer Kontrolle ausgewiesen worden. Als „Vertreter des Generaldirektors“ bzw. „Direktor“ wurde Ende November der Ukrainer Jurij Černičuk berufen, der in Friedenszeiten den Posten eines stellvertretenden ZAES-Chefingenieurs innehatte. Enerhoatom bezeichnete ihn als „Kollaborateur“ und entließ ihn. Versuche, russische Techniker für das Kernkraftwerk Zaporižžja anzuwerben, sind bislang nicht besonders erfolgreich. Vereinzelt wird kolportiert, dass unerfahrene Ingenieure aus russländischen Kernkraftwerken, die sich nach Enerhodar verpflichten, mit außerordentlichen Beförderungen gelockt würden.[27]

Der menschliche Faktor

Für den sicheren Betrieb des KKW Zaporižžja spielt auch die körperliche und psychische Unversehrtheit des Personals eine zentrale Rolle. Es kann seine verantwortungsvollen Aufgaben nur wahrnehmen, wenn es ohne Druck arbeiten kann. Das ist nicht mehr gewährleistet. Viele Angehörige des Betriebspersonals, die in den nicht unmittelbar für die Aufrechterhaltung des Betriebs notwendigen Arbeitsbereichen beschäftigt waren, flüchteten oder wurden in das Gebiet evakuiert, das sich unter ukrainischer Kontrolle befindet. Die Kraftwerksleitung und jene Mitarbeiter, die für die Aufrechterhaltung des laufenden Betriebs notwendig sind, blieben in Enerhodar, wohl auch aus der Verantwortung für die Anlage. Das betrifft vor allem die Arbeitsbereiche Betriebsschicht, Maschinentechnik, elektrische Energietechnik und elektrische Leittechnik, Strahlenschutz und Chemie. Dieses Personal hat, obwohl es unter ungeheurem Druck steht, seine Arbeit fortgesetzt, ob in den Kontrollräumen der Reaktoren, bei der Instandhaltung der Systeme oder draußen im Gelände, in den Freiluftschaltanlagen oder bei der Reparatur von Hochspannungsleitungen, teilweise unter Beschuss. Das ist umso erstaunlicher, als die Kraftwerksbelegschaft seit Beginn der Besatzung regelrechtem Terror ausgesetzt ist. Immer wieder werden gewaltsame Übergriffe der rund 500 auf dem Betriebsgelände anwesenden Soldaten auf die Belegschaft gemeldet. Bis zu 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Atomkraftwerks und etliche Einwohner Enerhodars wurden verhaftet. Einige namentlich bekannte sind spurlos verschwunden. Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass Verhaftete gefoltert werden. Die Folteropfer haben Schusswunden, gebrochene Gliedmaßen und Verletzungen durch Elektroschocks.[28] Ein ZAES-Mitarbeiter beschreibt die schwierige emotionale Situation:

„Da ist die Angst vor dem Tod, die Verwirrung, der Wunsch, alles hinzuwerfen und wegzufahren, aber gleichzeitig habe ich auch ein Verantwortungsgefühl. Bei uns in der Abteilung hat sich ungefähr die Hälfte der Belegschaft evakuieren lassen, vor allem die mit Familie, aber irgendjemand muss ja dableiben und arbeiten. Das ist eine Sicherheitsfrage für das Kraftwerk, man kann ja nicht einfach das Personal mit Leuten von der Straße ersetzen. Ich weine sehr oft, die Anspannung ist ungeheuer groß, die Stimmung wechselt ständig zwischen Zorn und völliger Apathie. Es ist schrecklich, jeden Tag zur Arbeit gehen zu müssen, du hast Angst, dass sie dich an der Pforte abgreifen und in den Keller schleppen. In der Stadt ist es schrecklich, nachts gibt es immer wieder Beschuss.“[29]

Seit Herbst 2022 werden die Mitarbeiter gezwungen, Arbeitsverträge mit Rosėnergoatom zu unterschreiben. Wer sich weigert, wird Repressalien unterworfen. Anfang Juli 2023 wurde ihnen – die Rede ist von 3000 Menschen – zeitweise der Zugang zum Arbeitsplatz untersagt. Seit August 2023 werden sie zunehmend gezwungen, russländische Staatsbürger zu werden. Einige entziehen sich und leisten passiven Widerstand. ZAES-Beschäftigte riskieren ihr Leben, indem sie Informationen nach draußen geben, mit versteckter Kamera auf dem Betriebsgelände Bilder aufnehmen oder anderweitig versuchen, die Besatzer an der Übernahme der Anlage zu hindern. Ein großer Teil der über Enerhoatom kommunizierten Insider-Informationen stammt aus solchen Quellen.[30]

Wer – aus welchem Motiv auch immer – mit den Besatzern kooperiert, hat wiederum die moralische Verurteilung als Kollaborateur zu fürchten. Enerhoatom und die ukrainische Regierung sagten allerdings zu, dass jede Kooperation, die durch die Notwendigkeit, die Anlagensicherheit zu gewährleisten, bedingt sei, nicht bestraft werde. Der von den Besatzern eingesetzte Kraftwerksdirektor Černičuk gab Ende 2022 an, rund die Hälfte der Belegschaft sei ausgereist, täglich seien 2500 Mitarbeiter auf dem Betriebsgelände. Von den einst 80 000 Einwohnern der Atomstadt Enerhodar sind nach der Flucht in die nicht besetzten Gebiete der Ukraine und der Zwangsevakuierung, insbesondere von Kindern und Jugendlichen auf die Krim, nach Russland und Belarus, nur noch 15 000 Menschen geblieben.[31] Schon jetzt lässt sich sagen, dass Enerhodar und sein Kernkraftwerk eine aussagekräftige Mikrostudie zur Erforschung des Alltags unter Besatzungsherrschaft darstellt: Unter dem hohem psychischen Druck sind hier wie in einem Brennglas zwischen passivem Widerstand, erzwungener Kooperation und Kollaboration alle Verhaltensformen der Menschen zu beobachten.

In den Wechselfällen des Krieges: sicherheitstechnische Achterbahnfahrten

Trotz der russländischen Versuche, die Besetzung des KKW Zaporižžja in eine in formale Rechtsformen gekleidete Normalität umzudeuten, ist ebendiese Normalität angesichts der technisch-militärischen Wechselfälle eine reine Illusion. Zum Zeitpunkt der Besetzung waren im Kraftwerk fünf Blöcke am Netz, Block 1 befand sich in der Jahresrevision. In der Angriffsnacht wurden zwei weitere Blöcke aus Sicherheitserwägungen vom Netz genommen, der Weiterbetrieb der anderen drei aber aus Netzstabilitätsgründen fortgesetzt – eine dilemmatische Entscheidung der Kraftwerksleitung zwischen dem Risiko, bei laufenden Reaktoren einen Treffer zu erhalten oder mit der gleichzeitigen Schnellabschaltung von 5000 Megawatt Kraftwerksleistung einen totalen Netzzusammenbruch zu provozieren.

Angesichts des Kriegs im Gebiet Zaporižžja während des Sommers 2022 und der permanenten russländischen Angriffe auf die ukrainische Strominfrastruktur im Herbst und Winter 2022/23 war der geregelte Leistungsbetrieb immer stärker in Frage gestellt. Phasen relativer Ruhe wechselten sich ab mit Wellen von Artilleriebeschuss. Durch russländischen Beschuss am 11. August 2022 kam es zu Einschlägen und Schäden im Bereich des Standortzwischenlagers für radioaktive Abfälle, in einem Sprühbassin für das Nebenkühlwasser, in mehreren Nebenanlagengebäuden, Werkstätten und bei der Werksfeuerwehr.[32] Nach langen Verhandlungen zwischen Kiew, der IAEA-Zentrale Wien und Moskau über die sicheren Anreisewege stimmte Russland zu, eine Mission der IAEA über das von der Ukraine kontrollierte Gebiet in das Kraftwerk zu lassen: Die IAEA Support and Assistance Mission to Zaporizhzhya (ISAMZ) bestand aus mehreren Inspektoren, von denen zwei als ständige IAEA-Inspektion auf der Anlage blieben. Das war durchaus ein Sicherheitsgewinn für die Anlage und gab der ukrainischen Seite die Hoffnung, dass russländische Akte der Willkür auf dem Kraftwerksgelände nun von neutraler Seite beobachtet und dokumentiert werden.[33]

Die größte Sorge bei Fachleuten und der ukrainischen Regierung löste der immer wieder vorkommende Zusammenbruch der Stromversorgung des Kraftwerks aus. Eine stabile Netzanbindung des Kraftwerks war durch die kriegsbedingte Beschädigung oder Schutzabschaltung mehrerer Hochspannungsleitungen nicht mehr gewährleistet. Bis Mai 2023 kam es wegen solcher Vorfälle zu mehreren Schnellabschaltungen laufender Blöcke und insgesamt sieben Notstromfällen, außerdem zu einem Fall, in dem ein Reaktorblock das Kraftwerk im Inselbetrieb versorgen musste. Am 11. September 2022 wurde der letzte in Betrieb befindliche Block 6 abgeschaltet.[34] Nur im Block 5 wurde weiter ein „Nulllast heiß“-Betrieb gefahren[35], was der Notversorgung mit Prozessdampf für das Kraftwerk und der Versorgung von Enerhodar mit Fernwärme diente. In anderen KKW wird eine solche Aufgabe in Stillstandszeiten von einer Hilfskesselanlage übernommen, aber darauf hatte man in Zaporižžja verzichtet, da das benachbarte Kohlekraftwerk stets für genügend Hilfsdampf sorgen konnte. Das Szenario, dass beide mit mehreren Blöcken ausgestatteten Großkraftwerke komplett stillstehen könnten, hatten sich die sowjetischen Planer in den 1980er Jahren nicht vorstellen können. Am 24. Juli 2023 wurde Block 5 für überfällige Wartungszwecke in den kalten Zustand überführt und stattdessen Block 4 in den Nulllast-heiß-Zustand gebracht, am 11. August aber wegen einer Dampferzeuger-Leckage wieder in den kalten Zustand überführt, sodass Block 6 ihn ablösen musste. Die Ukraine verurteilte diesen Schritt, da der kalte Zustand sicherer für alle Blöcke sei und die Atomaufsicht für Block 4 keine Anfahrgenehmigung erteilt hatte. Auch die IAEA plädierte dafür, die Dampfversorgung mit einer provisorischen externen Kesselanlage zu gewährleisten, da der kalte, unterkritische, drucklose Zustand der Reaktoren angesichts der Kriegshandlungen der sicherste Zustand für die Anlage sei. So bleiben bei einem totalen Stromausfall mit Ausfall der Nachkühlung für die im Reaktor stehenden Brennelemente bei einer kalten Anlage mehrere Tage Zeit, um Abhilfe mit einer provisorischen Notkühlung zu schaffen, während man im Zustand „Nulllast-heiß“ wegen der hohen Temperatur im Primärkreislauf nur ungefähr einen Tag hat, bis Kernschäden zu erwarten sind.[36]

Mit dem Angriff auf das Wasserkraftwerk Kachovs’ka HES und seinen Staudamm am 6. Juni 2023 verschärfte sich die Sicherheitslage der ZAES noch einmal: Zur ständig über der Anlage schwebenden Gefahr eines Zusammenbruchs der Stromversorgung kommt nun der Verlust der geregelten Kühlwasserversorgung hinzu, weil der Kraftwerks-Kühlteich auf Ergänzungswasser aus dem Stausee angewiesen ist. Bislang konnte das Niveau des Kühlteichs stabil gehalten werden.[37] Die jüngste Episode war Anfang Juli 2023 der Nervenkrieg zwischen Russland und der Ukraine um die vermeintliche oder tatsächliche Verminung der Anlage. Beide Seiten bezichtigten sich wechselseitig, militärische Aktionen vorzubereiten. Seit längerem ist bekannt, dass russländische Truppen vor dem Zaun des Betriebsgeländes Minenfelder angelegt haben. Eine dieser Minen explodierte im April 2023 am Zaun hinter dem Block 4. Das bestätigt die IAEA Ende Juli 2023.[38] Die ukrainische Seite warf Russland vor, Sprengladungen auf den Dächern der Reaktorgebäude und Maschinenhäuser zweier Blöcke installiert zu haben, Russland bezichtigte die Ukrainer der Absicht, das Kernkraftwerk in einer False-flag-Aktion mit Raketen zu beschießen.[39] Diese Vorwürfe ließen sich bislang nicht erhärten.

Reaktorsicherheit unter Kriegsbedingungen

Die reaktorsicherheitstechnischen Herausforderungen in Zaporižžja unter Kriegsbedingungen sind vielfältig. Aussagen über die Sicherheitssysteme und bestimmte Notlagen, die während des Leistungsbetriebs eintraten oder eintreten können, gelten nicht nur für das KKW Zaporižžja, sondern auch für die baugleichen Blöcke an anderen ukrainischen Standorten: Rivne-3 und -4, Chmel’nyc’kyj-1 und -2 sowie Pivdennoukrajins’k-3; die dortigen Blöcke 1 und 2 sind frühere VVĖR-1000-Versionen, die leichte Abweichungen aufweisen können.

Von großer Bedeutung ist der Betriebszustand jedes einzelnen Blocks in Zaporižžja. Die Anforderungen sind unterschiedlich, je nachdem, ob eine Anlage – wie in Zaporižžja am Anfang des Krieges und in den anderen KKW der Ukraine bis heute – im Leistungsbetrieb ist, ob ein abgeschalteter Reaktor in heißem oder kaltem Zustand unterkritisch gehalten wird; ob die Brennelemente sich beim kalten Zustand im Reaktordruckbehälter befinden oder ins Lagerbecken umgeladen wurden. Je nach Zustand werden unterschiedliche Kühlsysteme genutzt. Auch der Handlungsspielraum im Falle einer Notsituation sowie die „Karenzzeit“, die bleibt, um bei einer Beeinträchtigung der Nachwärmeabfuhr Abhilfe zu schaffen, sind unterschiedlich. Auch wenn ein Reaktor noch nicht entladen ist, sind mehrere Zustände denkbar – vom Absenken des Füllstands im Primärkreis zur Vorbereitung des Deckelziehens bis zum geöffneten Reaktor mit gefluteter Reaktorgrube und gezogenem Beckenschütz. In diesen unterschiedlichen Zuständen steht auch unterschiedlich viel Kühlmittel zur Verfügung, folglich gibt es für jeden dieser Zustände in einem KKW gesonderte Störfallbetrachtungen. Einen Rückschluss erlauben die Anordnungen der ukrainischen Atomaufsicht, welche die Betriebserlaubnis der sechs Blöcke auf bestimmte Betriebszustände eingrenzte, um einen möglichst sicheren Zustand zu gewährleisten, und dabei den realen Zustand der Blöcke berücksichtigte. Voraussetzung für die Aussagekraft dieser Information ist, dass diesen Anweisungen Folge geleistet wurde. Unter diesem Vorbehalt kann gesagt werden, dass Block 1 entladen ist; die Blöcke 2,3, 5 und 6 sind im Zustand kalt-unterkritisch, die Brennelemente befinden sich wahrscheinlich noch im Reaktordruckbehälter, und Block 4 war zu Redaktionsschluss im Zustand „heiß-unterkritisch“ mit Brennelementen im Reaktordruckbehälter. Die Blöcke 4 und 6 wurden allerdings abwechselnd im Zustand „heiß-unterkritisch“ mit Brennelementen im Reaktordruckbehälter gehalten.[40]

300 Hektar nuklearer Kriegsschauplatz

Werfen wir einen Blick auf das Kraftwerksgelände, wo militärische Aktionen jeder Art sicherheitsrelevante Schäden anrichten können. All das ist in Zaporižžja bereits aktenkundig. Dokumentiert ist, dass Russlands Truppen Militärgerät in den Maschinenhäusern oder zwischen den Blöcken untergebracht haben. Das erhöht die Gefahr von Explosionen und Bränden.[41] Daher ist von großem Interesse, wie robust die Bauwerke und gebauten Strukturen sind. Die VVĖR-1000-V320 verfügen über vorgespannte zylindrische Stahlbeton-Containments, die mit jenen der französischen und der meisten US-Anlagen vergleichbar sind.[42] Unter diesem 1,2 m starken, rund 66 Meter hohen Containment mit 8-Millimeter-Stahlliner befinden sich alle Anlagenräume des Primärkreislaufs und das Lagerbecken für die verbrauchten Brennelemente. Das Containment steht in der Mitte eines 41 Meter hohen quadratischen Hilfsanlagengebäudes; beide zusammen bilden die charakteristische Silhouette des Reaktorgebäudes. Die Sicherheitshülle des VVER-1000 ist dafür ausgelegt, einem Druckaufbau von bis zu 5 bar Überdruck infolge eines Kernschmelzunfalls, dem am Standort erwartbaren maximalen Erdbeben, dem Aufprall eines kleinen Flugzeugs (10 Tonnen mit 720 km/h) und Explosionsdruckwellen von 2 bar standzuhalten. Fachleute erwarten, dass Zufallstreffer aus schweren Waffen ein VVĖR-1000-Containment nicht aus dem Gleichgewicht bringen, wohl aber gezielter Dauerbeschuss.[43]

Erhielte das Reaktorgebäude einen oder mehrere Treffer, wäre das jedoch keinesfalls eine Lage wie in Tschernobyl, wo der Reaktor infolge einer nuklearen Leistungsexkursion binnen Sekundenbruchteilen zerlegt wurde und große Teile seines radioaktiven Inventars schlagartig freisetzte. Bei den Druckwasserreaktoren der V320-Baureihe müsste ein Beschuss vitale Systeme treffen, um die Anlage zu gefährden, d.h. den Primärkreislauf, die Dampferzeuger oder überlebensnotwendige Sicherheitssysteme. Erstere liegen gut geschützt hinter einer zweifachen Barriere aus den Mauern des Hilfsanlagengebäudes und des Reaktorcontainments. Ein direkter Treffer, es sei denn, es würde eine Bombe über dem Gebäude abgeworfen, ist damit sehr schwierig auszuführen. Auch die Notkühlsysteme befinden sich tief im Inneren des Hilfsanlagengebäudes, gut geschützt vor Beschuss.[44]

Die sechs Reaktorblöcke sind auf einer Landzunge am linken Ufer des (ehemaligen) Dnipro-Stausees längs einer Süd-Nord-Achse nebeneinander aufgereiht. An der zum Stausee gelegenen Westseite der 66 mal 66 Meter Seitenlänge messenden Blöcke schließen jeweils die Maschinenhäuser an. Zwischen den Blöcken stehen die Notstromgebäude. Jeder Block ist mit Rohrleitungsbrücken und aufgeständerten Korridoren miteinander und mit den beiden Spezialgebäuden (Spec-Korpusy) verbunden, die die Kontrollbereichseingänge für je drei Blöcke, die Strahlenschutz-Einsatzleitung, die Speisewasser- und Kühlmittelaufbereitung, die Wäschereien, Dekontaminationsdienste und die heißen (d.h. mit kontaminierten Komponenten hantierenden) Werkstätten beherbergen, außerdem die Lager für frischen Kernbrennstoff. Jeder Block hat einen Gleisanschluss, über den Großkomponenten auf Pritschenwagen zu den Werkstätten oder Brennelement-Behälter zum Standortzwischenlager befördert werden. Im Standortzwischenlager an der Nordostecke des Betriebsgeländes stehen diese Behälter, die Castor-Behältern ähneln, geschützt durch Betoneinhausungen, unter freiem Himmel. Neben den sechs Reaktoranlagen und den zwei großen Spezialgebäuden, in denen ebenfalls mit radioaktiven Stoffen hantiert wird, sind auch die Behälter mit dem abgebrannten Kernbrennstoff im Zwischenlager unter der Einwirkung von Kriegshandlungen in Risikoanalysen zu berücksichtigen. Das gilt auch für die Rohrleitungsbrücken, die wegen der räumlichen Aufteilung der Kontrollbereiche auf Reaktorgebäude und Spezialgebäude Leitungen enthalten, in denen radioaktiv belastetes Medium hin- und hergefahren wird. Außer den Reaktorgebäuden ist keines dieser Bauwerke, auch nicht die Spec-Korpusy, baulich so verstärkt, dass radioaktive Freisetzungen bei Beschuss ausgeschlossen werden können. Außerdem befinden sich auf dem Betriebsgelände des äußeren Sicherheitsbereichs,[45] der über 300 Hektar umfasst, unter freiem Himmel Anlagen, die für die Nachkühlkette der Reaktoranlagen und der Brennelementbecken bedeutsam sind, z.B. die Sprühteiche, in denen das Nebenkühlwasser abgekühlt wird, und weitere Gebäude, Pumpstationen und Behälter für die Kühlwasseraufbereitung, die Versorgung mit demineralisiertem Wasser und Stickstoff sowie andere Nebenanlagen.[46]

Dieser Überblick lässt eine Abschätzung der Ausdehnung und Komplexität des zu kontrollierenden Geländes zu. Dies ist wichtig, um Fragen zu klären wie etwa danach, welchen Schaden ein Artillerietreffer in welcher Sektion des Kraftwerks anrichten kann, wie viel Übersicht die auf der Anlage anwesenden, nicht ortskundigen und maximal zwei bis vier Personen umfassenden ständigen Inspektorenteams der Internationalen Atomenergie-Agentur IAEA überhaupt haben können, wie lange Inspektionsbegehungen dauern, um aussagekräftig zu sein, oder welche Aufgaben sich den ukrainischen Spezialeinheiten bei der Rückeroberung der Anlage stellen dürften.

Kriegsgefahren und das Sicherheitskonzept von Zaporižžja

Die Sicherheitsauslegung von Kernkraftwerken ist auf drei übergeordnete Schutzziele ausgerichtet: Unterkritikalität des Reaktors im Störfall – d.h. die selbsterhaltende Kettenreaktion im Reaktorkern muss zuverlässig unterbunden werden und darf nicht selbsttätig wiederaufleben; Wärmetransport aus dem Reaktor, d.h. die in den Brennelementen erzeugte (Nachzerfalls-)Wärme muss ungehindert abgeführt werden können; und Aktivitätsrückhaltung, d.h. es muss mehrere Barrieren geben, die einer Freisetzung von radioaktiven Spaltprodukten aus den Brennelementen entgegenstehen.

Diesen Schutzzielen dienen die Sicherheitseinrichtungen einer Reaktoranlage: unterschiedliche Abschaltsysteme für die Unterkritikalität; betriebliche und für den Notfall vorgesehene Kühlsysteme für den Wärmetransport; Notstromsysteme zur Aufrechterhaltung der Sicherheitsfunktionen auch bei Netzzusammenbruch; außerdem besonders abgedichtete Anlagenräume, Unterdruckhaltung und Containments für die Aktivitätsrückhaltung. Die meisten Sicherheitssysteme folgen bestimmten Konstruktionsprinzipien, um sie ausfallsicher zu machen: Das bekannteste ist die Redundanz, d.h. Vervielfachung der Systeme zur Vorhaltung von Reserven. In Zaporižžja gibt es eine dreifache Redundanz, d.h. ein Strang (kanal) des dreifach vorhandenen Notkühlsystems oder einer von drei Notstromdieseln reicht zur Beherrschung des Auslegungsstörfalls aus. Jede Redundanz hat ihre eigene Notstromversorgung, folglich gibt es drei Notstromschienen.[47] Daneben sind weitere Prinzipien von Bedeutung: Diversität, d.h. es werden unterschiedliche Konstruktionsprinzipien und Wirkmechanismen genutzt, um Ausfälle aus einer gemeinsamen Ursache zu verhindern; schließlich räumliche Trennung, d.h. Sicherheitssysteme mehrerer Redundanzen oder funktional gleiche Systeme sind nie in ein und demselben Raum untergebracht, um gleichzeitige Ausfälle aus derselben Ursache, in diesem Falle bei Beschuss und Brand, zu verhindern.

Neben diesen Auslegungsprinzipien gibt es noch ein weiteres Sicherheitskonzept, die Tiefenstaffelung von sicherheitsgerichteten Aktionen (defense in depth): Versagen Regelungssysteme im Normalbetrieb, greifen Begrenzungs- und Reaktorschutzsysteme ein, versagen diese, gibt es als Rückfallposition noch Notfallprozeduren.[48] All diese Sicherheitsvorkehrungen sind prinzipiell auch dann von Bedeutung, wenn Kriegshandlungen, eine sogenannte „Einwirkung von außen“ (EVA) das Kraftwerk betreffen – auch wenn in diesem Falle der Angreifer sich bereits im Inneren der Anlage befindet, was als erschwerender Faktor zu bewerten ist. Einerseits wirkt die Sicherheitskonzeption den Folgen militärischer Handlungen gegen das Kraftwerk entgegen – andererseits können feindliche Handlungen Sicherheitssysteme beschädigen oder ihre Wirksamkeit aushebeln.

Der Auslegungsstörfall in den Zaporižžja-Blöcken – d.h. ein unterstellter schwerster Störfall, den die Anlage mit ihren Sicherheitssystemen beherrschen muss – ist der vollständige Abriss einer 850-Millimeter-Hauptkühlmittelleitung des Primärkreislaufs, der im Leistungsbetrieb unter 160 bar Druck und bis zu 330 Grad Celsius Temperatur steht. Die dabei auf Ausrüstung und Gebäude wirkenden Kräfte werden von den Wänden der Anlagenräume, den Beton-Einhausungen der Komponenten, speziellen Absicherungen der Rohrleitungen gegen Ausschlagen bei Abriss und letztlich vom Containment aufgefangen. Das bedeutet: Zumindest die Reaktorgebäude sind wesentlich besser auf gewaltsame Einwirkungen vorbereitet als konventionelle Industriebauwerke in der Ukraine.[49]

Die Not- und Nachkühlsysteme, die auch zur betrieblichen Nachkühlung der abgeschalteten Reaktoren genutzt werden, befinden sich im VVĖR-1000 tief im Inneren des Hilfsanlagen- und Reaktorgebäudes, sind also gut geschützt vor Beschuss. Das Containment ist besonders gesichert, wenn auch nicht gegen gezielten und dauerhaften Beschuss. Doch wenn ein Zufallstreffer im Hilfsanlagengebäude einschlüge, wäre das nicht gleichbedeutend mit dem totalen Verlust von Sicherheitssystemen, die für einen sicheren Betrieb von zentraler Bedeutung sind. Es gibt etliche Anlagenräume in den Randbereichen des Hilfsanlagengebäudes, die bei Beschuss das höchste Risiko hätten, getroffen zu werden, aber nur der kleinere Teil beherbergt Sicherheitssysteme. Auch ist eine gleichzeitige Zerstörung aller drei Stränge bei einem Zufallstreffer unwahrscheinlich.[50]

Wenn ein laufender Reaktor wegen Kriegshandlungen mit Schnellabschaltung vom Netz geht, läuft das Abfahren und Nachkühlen der Anlage nach den normalen betrieblichen Prozeduren, solange es keine unmittelbaren Zerstörungen gibt und die reguläre Stromversorgung über die Blockschienen gewährleistet ist. Genau dies geschah in Zaporižžja in der Nacht des Angriffs am 4. März 2022 in zwei von damals fünf in Betrieb befindlichen Blöcken, außerdem mehrmals im August 2022 in den Blöcken 5 und 6 sowie in weiteren ukrainischen Anlagen aufgrund kriegsbedingter Netzstörungen. Seit Mitte September 2022 haben wir es in Zaporižžja nur noch mit abgeschalteten Reaktoren bzw. in einem Fall mit einem entladenen Reaktor zu tun. Daher ist die Problematik der Nachkühlung aus vollem Leistungsbetrieb, die während der ersten Besatzungsmonate im Fokus der Aufmerksamkeit stand, nun an den Rand der Überlegungen gerückt. Die hier und im Folgenden gemachten Aussagen gelten auch für Kriegseinwirkungen auf die VVĖR-1000-Reaktoren in den ukrainischen KKW Chmel’nyc’kyj, Rivne und Pivdennoukrajins’k, die nach wie vor im Leistungsbetrieb sind.

Kriegsrisiko Stromversorgung

Anlass zu höchster Sorge ist die Leitungsinfrastruktur der Übertragungs- und Verteilnetze. Treffer auf Freiluft-Schaltanlagen oder wichtige Übertragungsleitungen könnten im schlimmsten Falle das Landes- und Reservenetz der Ukraine oder zumindest weiter Landesteile zusammenbrechen lassen. Ins Landesnetz, die höchste Spannungsebene (in der Ukraine 750 Kilovolt (kV) und 330 kV), speisen die Kernkraftwerke ein, vom Reservenetz (330 kV und 110 kV) beziehen sie Strom für ihren Eigenbedarf, falls sie vom Landesnetz getrennt werden. Das passiert regulär immer dann, wenn ein Block im Revisionsstillstand ist und Arbeiten an den betroffenen Transformatoren stattfinden. Das KKW Zaporižžja verfügt über insgesamt sieben Netzanbindungen, außerdem Reserve-Verbindungen zu den Wasserkraftwerken DniproHES und Kachovka, das im Juni 2023 zerstört wurde. Auf der Anlage gibt es pro Block drei Notstrom-Dieselaggregate sowie zusätzlich zwei mobile „blockübergreifende“ Aggregate, die zwei beliebige Blöcke versorgen können.[51] Bereits Mitte März 2022 war es erstmals zum Abriss von drei der vier 750 kV- und einer von drei 330 kV-Netzanbindungen gekommen, wochenlang hing das Kraftwerk nur noch an einer 750 kV-Leitung.[52]

Doch was passiert in einem Kernkraftwerk, wenn die Stromversorgung zusammenbricht? Schauen wir uns zunächst das Szenario einer Anlage im Leistungsbetrieb an. Das betraf Zaporižžja in der Vergangenheit und betrifft aktuell die neun laufenden Blöcke in den KKW Rivne, Chmel’nyc’kyj und Pivdennoukrajinsk. Bei Verlust der äußeren Stromversorgung (loss of offside power, LOOP), während eine Anlage im Leistungsbetrieb ist, ist technisch ein Lastabwurf auf Eigenbedarf möglich, d.h. der Reaktor wird bis auf den Mindestlastpunkt (rund 30 Prozent der Nennleistung) abgefahren und überschüssiger Dampf über eine Frischdampf-Umleitstation direkt in den Kondensator abgeführt, sodass der Turbosatz nur noch die rund 60 Megawatt produziert, die der Block braucht, um die eigenen Aggregate am Laufen zu halten, bis man sich wieder aufs Netz schalten kann. Dieser Fall trat in Zaporižžja-6 vom 9. bis 11. September 2022 ein. Block 6 versorgte mit einer Leistung zwischen 114 und 140 Megawatt, also etwas über einem Zehntel des normalen Outputs, das gesamte Kernkraftwerk im Inselbetrieb 72 Stunden lang mit Eigenbedarfsstrom.[53] Damit wurde der Block weit länger in diesem Regime betrieben, als unter normalen Bedingungen üblich ist. Bei dieser Betriebsweise weit unterhalb des Arbeitspunktes besteht die Gefahr, dass die Turbine wegen Vibrationen und anderer instabiler Parameter „aussteigt“. Auch wirkt sich ein Dauerbetrieb der Umleitstation wegen der hohen Dampftemperatur schädigend auf die Turbinenkondensatoren aus. Dass der Block Zaporižžja-6 über einen solch langen Zeitraum stabil blieb, darf als Indiz für seine Robustheit gelten.

Gelingt aber eine solche Selbstversorgung nicht, tritt der sogenannte Notstromfall ein. Das bedeutet, dass eine Anlage schnellabgeschaltet wird und die Stromversorgung für die vitalen Funktionen, vor allem die Nachkühlung des Reaktors, mit Notstromaggregaten bestritten wird.[54] In der 15-sekündigen Hochlaufzeit der Notstromdiesel werden Instrumente der Leittechnik und bestimmte sicherheitswichtige Armaturenantriebe mit Batterien unterbrechungsfrei versorgt. Dann werden Druck und Temperatur im Reaktorkreislauf rasch gesenkt, um eine Übernahme durch das mit niedrigem Druck arbeitende, notstromgesicherte Nachkühlsystem zu ermöglichen.[55] Zu den dann aktiven Notstromverbrauchern gehören vor allem jene Systeme, die für die Aufrechterhaltung der betrieblichen Kühlkette benötigt werden: Nachkühlpumpen, Nebenkühlpumpen und das Brennelementbecken-Kühlsystem. Weiterhin sind sämtliche Systeme, die für die Störfallbeherrschung nötig sind, ebenfalls notstromgesichert. Großaggregate, die man für den Leistungsbetrieb braucht, etwa Hauptkühlmittelpumpen, verbrauchen zu viel Strom, um notstromgesichert zu werden. Das bedeutet, dass bei anhaltendem Notstromfall kein Wiederanfahren der Anlage möglich ist. Dafür müsste erst die Stromversorgung von außen wiederhergestellt werden.[56] In Zaporižžja ist der Notstromfall bislang siebenmal eingetreten, der längste dauerte über 40 Stunden. Auch im Kernkraftwerk Chmel’nyc’kyj mit zwei VVĖR-1000-Blöcken gab es am 15. November 2022 einen Notstromfall.[57]

Ein VVĖR-1000 hat drei Notstromschienen mit je einem Dieselgenerator mit je 5,6 Megawatt Leistung, von denen einer ausreicht, um den Eigenbedarf eines Blocks im Notstromfall zu bestreiten. Jeweils zwei Dieselaggregate eines Blocks sind mit je einem Aggregat des Nachbarblocks in einem Notstromgebäude zusammengefasst. Innerhalb dieses Gebäudes sind die Räume der drei Diesel voneinander isoliert. Diese Verteilung folgt dem oben beschriebenen Prinzip der räumlichen Trennung. Zudem gibt es zwei blockübergreifende mobile Notstromdiesel, und es lassen sich überdies provisorische Notversorgungen aus den Notstromgebäuden der Blöcke untereinander verlegen. Diese Aktionen werden in den ukrainischen Anlagen, die sämtlich über mehrere Blöcke verfügen, regelmäßig im Simulatortraining geübt.[58]

Erst wenn alle diese Maßnahmen nicht gelängen, d.h. wenn in Zaporižžja die Netzverbindung abrisse und alle 20 Notstromdiesel versagten, läge ein sogenannter Station Blackout (SBO) vor, eine dem Unfall von Fukushima vergleichbare Lage. Zwar haben die VVĖR-1000-Anlagen mit ihren horizontal verbauten Dampferzeugern im Verhältnis zu westlichen Anlagen relativ große Reserven beim Wärmetransport,[59] aber im SBO-Fall ließe sich eine Kernschmelze mit Notmaßnahmen maximal um 16,5 Stunden verzögern, was allerdings gut dreimal mehr Zeit ist, als in Fukushima zur Verfügung stand. Diese Maßnahmen, vor allem die primär- und sekundärseitige Druckentlastung und Bespeisung[60] funktionieren passiv, d.h. unter Ausnutzung von Naturgesetzen, nicht mit Systemen, die auf elektrische Antriebe angewiesen sind. In dieser Zeit müssten dieselben Maßnahmen organisiert werden, wie man sie nach Fukushima in allen europäischen, auch den ukrainischen Kernkraftwerken eingeführt hat, nämlich die Inbetriebnahme mobiler Pumpen und Reservegeneratoren, die provisorisch mit der Nachkühlung verbunden werden. Die Karenzzeit von 16,5 Stunden im Station Blackout betrifft aktuell vor allem die laufenden Anlagen in der rechtsufrigen Ukraine.[61] Seit Abschaltung der Blöcke 5 und 6 im September 2022 hat sich die Karenzzeit für Zaporižžja auf mehrere Tage (bzw. 24 Stunden für den jeweiligen Block im heiß-unterkritischen Betrieb) verlängert, da die Anlagen nicht mehr im Leistungsbetrieb sind. Das bedeutet, dass auch wesentlich weniger Nachzerfallswärme aus den Brennelementen abgeführt werden muss.[62]

Die bislang in Zaporižžja geschehenen Notstromfälle dauerten zwischen wenigen Stunden und mehreren Tagen, ehe die Netzanbindungen wieder repariert waren, und es kam zu keinen Ausfällen der Notstromversorgung für die Nachkühlkette. Bei einem länger andauernden Notstromfall muss die Anlage nach spätestens neun Tagen Nachschub an Dieseltreibstoff erhalten. Sowohl die Treibstoffversorgung als auch die Restituierung des Landesnetzes könnten im Kriegsfall auch länger behindert werden. Bislang wurde das KKW Zaporižžja durch Konvois der Betreiberfirma Enerhoatom und auch durch Russland mit Treibstoff versorgt.[63]

Kriegsrisiko Wasserversorgung

Ein Kernkraftwerk hat sowohl im Leistungsbetrieb als auch im Nichtleistungsbetrieb einen mannigfaltigen Kühlbedarf, vor allem bei der Wärmeabfuhr für die Brennelemente in den Reaktoren und Brennelement-Lagerbecken, aber auch für die Versorgung sicherheitsrelevanter Kühlstellen.[64] Die Nachzerfallswärme aus abgeschalteten Reaktoren und den Brennelementbecken wird in einem Kernkraftwerk über mehrere Zwischenstufen zur „primären Wärmesenke“, d.h. einem Kühlteich, Fluss oder Meer transportiert.[65] Im VVĖR-100 führt der Transportweg vom geschlossenen Reaktor-Nachkühlsystem zum Nachwärmekühler, der wiederum mit Nebenkühlwasser (techvoda) versorgt wird, das unter freiem Himmel in Sprühbassins versprüht, abgekühlt und zurück ins Reaktorgebäude gepumpt wird. Ist der Reaktor entladen, läuft die Nachkühlkette über den Weg Beckenkühlsystem bzw. Beckenreinigungssystem zum Nachwärmekühler bzw. Beckenkühler und übers Nebenkühlsystem zum Sprühbassin. Die Verdunstungsrate der Sprühbassins wird aus dem Kühlteich ersetzt.

Die Kriegshandlungen rund um das Kernkraftwerk Zaporižžja haben dafür gesorgt, dass diese Funktionen beeinträchtigt wurden. Zwar besitzt das KKW einen autonomen Kühlteich mit Reserven, die bei dem aktuell geringeren Kühlbedarf für Monate reichen, aber die Ergänzung des Kühlteichs ist wiederum von einer Zuspeisung aus dem Stausee Kachovka abhängig, dessen Wasserspiegel seit der Sprengung des Kachovka-Damms unter das Niveau abgesunken ist, auf dem die Entnahmepumpen des Kernkraftwerks noch fördern können. Eine Alternative wäre die Wasserentnahme aus dem in sein Bett zurückgekehrten Dnipro, was man aber nur mit provisorischen Schlauchverbindungen über große Distanz und mit Feuerlöschpumpen gewährleisten könnte. Auch gibt es die Befürchtung, dass die Erddämme des künstlichen Kühlteichs zur Seite des Stausees hin undicht werden oder gar kollabieren könnten, wenn der Gegendruck aus dem Stausee fehlt; auch könnten sie infolge von Artilleriebeschuss oder Minenexplosionen brechen.

Der geringe Kühlwasserbedarf begründet sich aus der Tatsache, dass in Zaporižžja kein Leistungsbetrieb mehr stattfindet, sodass der Löwenanteil des Kühlwassers, der gigantische Durchsatz der Hauptkühlwasserpumpen für den Turbinenkondensator, entfällt. Die Brennelemente der seit Monaten abgeschalteten Anlage geben nur noch einen Bruchteil der Nachzerfallswärme ab, die kurz nach Beendung des Leistungsbetriebs anfällt, so dass weniger Wärme transportiert wird, weniger Kühlwasser verdunstet und ergänzt werden muss. Positiv ist zu vermerken, dass das Kraftwerkspersonal bei der Suche nach einer Lösung für die Kühlwasserversorgung auf eingeübte Routinen zurückgreifen konnte, nämlich die Notfallpläne für den Fall eines Erdbebens, bei dem der Bruch des Staudamms Kachovka unterstellt wurde. Das Kraftwerk kann daher auch auf für diesen Fall vorgesehene alternative Wasserversorgungen zurückgreifen, so aus Tiefbrunnen und aus den nahebei verlaufenden Kühlwasserkanälen des benachbarten Kohlekraftwerks, die mit Schiebern vom Stausee abgetrennt wurden. Bis Anfang August 2023 meldete das KKW einen stabilen Wasserstand in Kühlteich wie Kanälen.[66] Doch eine weitere Befürchtung betrifft die Verschmutzung des Kühlwasserreservoirs, seit auf dem Gelände des benachbarten Kohlekraftwerks durch Beschuss ein Heizöltank beschädigt wurde.[67]

Szenarien

In der Öffentlichkeit gibt es eine Diskussion darüber, was in Zaporižžja passieren könnte, wenn die Kriegshandlungen anhalten, sich verschärfen oder die Besatzer gar die Anlage mutwillig beschädigen. Mögliche Szenarien zu entwickeln und ihre Wahrscheinlichkeit zu gewichten, ist mit methodischen Schwierigkeiten verbunden. Die technische Bewertung kann man mit den Instrumentarien der Reaktorsicherheitsforschung bearbeiten, die allerdings an ihre Grenzen stoßen. So kann man die in nuklearen Sicherheitsanalysen üblichen probabilistischen Methoden und Ereignisbäume – abgesehen von der prinzipiellen Schwäche bei der Vorhersagegenauigkeit[68] – nur schwer anwenden, da der konkrete Fall und der Verlauf der Ereignissequenzen stark vom Willen und spontanen Entscheidungen des Aggressors und der Reaktion seiner Opfer abhängen, nicht nur von der (sehr geringen) Versagenswahrscheinlichkeit kerntechnischer Komponenten. Es gibt zwar in den Naturwissenschaften Methoden der Quantifizierung von Ungewissheit (uncertainty), aber es ist auch mit den dort üblichen Verfahren fast unmöglich, im Falle Zaporižžja Aussagen über den Grad der Wahrscheinlichkeit (probability) und Vertrauenswürdigkeit (confidentiality) eines Szenarios zu machen, zumal es über diese auch in anderen Forschungsbereichen wie der Klimaforschung rege Diskussionen gibt. Wahrscheinlichkeitsgrade werden in Prozent der Eintrittswahrscheinlichkeit angegeben, Vertrauenswürdigkeitsgrade anhand der Qualität und Zahl der Belege und der Einhelligkeit der Forschungsmeinung.[69] Leider ist die Datenlage über Zaporižžja dürftig. Viele der kursierenden Informationen sind nicht verifizierbar oder stammen nur aus einer einzigen Quelle, etwa anonymen Aussagen von Belegschaftsmitgliedern. Wir haben z.B. abgesehen von der täglichen Meldung des Füllstands keine belastbare Evidenz über den technischen Zustand des Kühlteichs. Ungewissheit besteht auch über den Zustand der Reaktoranlagen, deren reguläre Wartungsintervalle durch Kriegshandlungen und Flucht des Personals verschleppt wurden.[70] Die Inspekteure der IAEA, die als fachkundige unabhängige Datenquelle gelten können, haben keine Bewegungsfreiheit auf der Anlage, was die zahlreichen Aufrufe der IAEA an die Besatzer, diese Zugangsfreiheit zu gewährleisten, belegen.[71] Daher sind Aussagen mit hohem Vertrauenswürdigkeitsgrad eigentlich nur im Bereich der Implikationen möglich („wenn Komponente a/b/c versagt/beschädigt wird, dann folgt daraus Zustand x/y/z“). Ferner gibt es viele Erkenntnisse über den willkürlichen Bruch kerntechnischer Sicherheitsvorkehrungen und über Kriegsverbrechen durch die Besatzungsmacht, die Aussagen rechtfertigen wie „Wenn Russlands Militär den Staudamm Kachovka gesprengt hat, um seine Ziele zu erreichen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es auch im Kernkraftwerk Zaporižžja Sprengungen vornimmt.“

Wollen wir also Szenarien für mögliche Ereignisverläufe für das KKW Zaporižžja bilden, müssen wir uns zuerst die Randbedingungen für diese Szenarien anschauen. Eine wichtige Randbedingung sind die Kriegsziele und das taktische Verhalten der beiden Kriegsparteien im Frontgebiet nahe des Kraftwerks. Auf russländischer Seite sind zwei Interessen im Widerstreit, der sich auf die Lage im Kernkraftwerk auswirkt: Während in den ersten Monaten der Invasion das Interesse überwog, besetzte Gebiete zu halten, sich anzueignen und die dortige Energieinfrastruktur für eigene Zwecke zu nutzen – so wurde die Stromversorgung der annektierten Halbinsel Krim durch das Kraftwerk wieder aufgenommen, die von der Ukraine 2015 gekappt worden war –, ist dieses Ziel seit dem Scheitern des ursprünglich geplanten Blitzkrieges gegen die Ukraine in Frage gestellt. Seit dem Herbst 2022 dominiert auf russländischer Seite das Interesse, die Energie-Infrastruktur des Gegners zu schädigen, zu der bei einer erfolgreichen Rückeroberung des vollständigen Gebietes Zaporižžja durch die Ukraine auch das KKW wieder gehören würde. Die Besatzer sehen die Anlage also unter zwei Vorzeichen – mal als eigene Anlage, mal als Anlage des Feindes. Einerseits versuchen sie, Zaporižžja als eigene Anlage darzustellen. Sie bemühen sich, das Kraftwerk in ihrer Öffentlichkeitsarbeit in die Strukturen von Rosėnergoatom einzupassen. Berichte gesteuerter Medien über das Kraftwerk und das Leben in Enerhodar zeichnen ein Bild, als handele es sich um ein Kernkraftwerk im Frieden, eine Stadt mit regulär ablaufenden (russländischen) Kommunalwahlen, Sportveranstaltungen, Ferienlagern und der Wahl des Teams des Jahres.[72] Andererseits binden russländische Truppen das Kraftwerk unmittelbar in Kriegshandlungen ein, etwa indem sie die Anlage verminen. Sie verfolgen gleichzeitig das Interesse, ein Maximum an „verbrannter Erde“ zu hinterlassen. Anders sind die Verheerungen durch die Zerstörung des Kachovka-Staudamms und die Kriegsführung gegen ukrainische Städte und Dörfer nicht zu interpretieren. Dieses russländische Kriegsziel muss in die Szenarien eingehen.

Die ukrainischen Verteidiger hingegen haben ein genuines Interesse an der Wiedererlangung der geraubten Gebiete und Infrastruktur, nicht aber an ihrer Zerstörung. Das stellt sie vor das Dilemma, mutmaßlich effiziente militärische Mittel, etwa den Beschuss des Gegners mit schwerer Artillerie, aus Rücksicht auf die Sicherheit der kerntechnischen Anlagen nicht anwenden zu können. Das bedeutet, dass der militärische Druck, den sie zur Rückgewinnung der Anlage ausüben können, sehr gering ist. Aktenkundig ist nur eine Aktion: Am 19. Oktober 2022 versuchten Spezialkräfte vergeblich, das Kernkraftwerk vom (damals noch gefüllten) Stausee her zu erobern.[73]

Vor diesem Hintergrund sind vier Szenarien zu unterscheiden, in denen die übergeordneten sicherheitstechnischen Schutzziele (Unterkritikalität des Reaktors bzw. des Brennstoffs in den Lagerbecken; Aufrechterhaltung des Wärmetransports; Rückhaltung von Radioaktivität im Falle einer Freisetzung) gebrochen werden könnten.

Szenario 1: Station Blackout

Bereits erfolgte, aber glimpflich verlaufene Ereignisse könnten sich wiederholen, zum totalen Spannungsverlust (Station Blackout) führen und sich zu einem Ereignis mit der Freisetzung von radioaktiven Stoffen entwickeln. Das wäre der Fall, wenn ein kriegsbedingter Netzzusammenbruch einen Notstromfall auslöst und sich dann ein Totalversagen der Notstromdiesel anschließt – etwa durch Kriegszerstörungen oder fehlenden Treibstoffnachschub. Im Fall des Station Blackout wäre der Schadenspfad ein Versagen der Nach- und Beckenkühlung, ein Ausdampfen des Reaktordruckbehälters (wenn der Reaktor noch beladen ist) bzw. des Brennelement-Lagerbeckens mit nachfolgenden Brennelementschäden und Freisetzungen ins Reaktorgebäude. Würde zusätzlich das Containment durch Überdruckversagen oder Beschuss undicht, könnte es zu einer Freisetzung in die Umgebung kommen.

Befinden sich die Brennelemente im Reaktor, so greifen für eine Vorhersage zunächst die bekannten Modellierungen von Unfallverläufen mit Station Blackout, wie sie im ukrainischen Stresstest durchgeführt werden. Die dort berechneten Zeitreserven bis zur Abdeckung des Reaktorkerns und schwerem Kernschaden beziehen sich auf einen Station Blackout im Leistungsbetrieb; inzwischen hat sich die Zeitreserve von 16,5 Stunden auf 7 bis 14 Tage ausgedehnt,[74] da die Nachzerfallswärme des Reaktorkerns nur noch wenige Prozentbruchteile der ursprünglichen Wärmeleistung beträgt. Bei einem Reaktor im heiß-unterkritischen Zustand beträgt sie rund 24 Stunden.[75]

Betrachten wir die Brennelementbecken, ist der Verlauf abhängig vom Zeitpunkt des letzten Betriebs der Brennelemente im Reaktor, von ihrem Abbrand, von der Anzahl der im Becken gelagerten Brennelemente, der Strömungs- und Temperaturverhältnisse im Becken und Reaktorgebäude. Berechnungen des Brennelementverhaltens sind sehr komplex, aber Empirie liegt seit dem Unfall von Fukushima vor.[76] Bei den in Zaporižžja vorliegenden niedrigen Nachwärmeleistungen ist die Karenzzeit bis zum Ausdampfen länger als bei einem frisch entladenen Reaktorinventar, was einen größeren Handlungsspielraum verschafft als beim konservativsten Beispiel in Fukushima, um eine alternative Beckenkühlung mit provisorischen Schlauchverbindungen und mobilen Pumpen in Gang zu bringen – mindestens zehn Tage.[77] Für den zusätzlich angenommenen Fall eines Verlusts des Kühlteichs wegen Beschädigungen besteht die Möglichkeit, mit ebensolchen mobilen Verbindungen dem Fluss Dnipro Kühlwasser zu entnehmen, darüber hinaus gibt es alternative Wasserentnahmestellen.

In jedem der Verläufe, ob Brennelemente im Reaktor oder im Becken sind, hinge die Wahrscheinlichkeit einer radioaktiven Freisetzung in die Umgebung des Kraftwerks davon ab, ob das Containment versagt, etwa weil es durch kriegerische Einwirkung beschädigt oder zerstört ist. In einem solchen Falle wäre eine Freisetzung über das Kraftwerksgelände hinaus zu erwarten, die in der Internationalen Störfallskala INES ab der Stufe 4 aufwärts bewertet werden würde. Die Freisetzung ähnlich jener in Fukushima, wo nach einem Tsunami drei Blöcke von einem Station Blackout und einer Kernschmelze aus vollem Leistungsbetrieb betroffen waren, kann als Orientierungsmarke für einen schweren Verlauf dienen. Damals wurde der Umkreis von 20 Kilometern um das KKW evakuiert. Anders als in Tschernobyl kam es aber weder auf der Anlage noch in der Bevölkerung zu Todesopfern durch Strahlungseinwirkung. Das UN-Strahlenforschungskomitee ermittelte „keine erkennbare“ Zunahme von akuten oder Langzeit-Erkrankungen infolge des Unfalls.[78] Die Freisetzung radioaktiver Stoffe belief sich auf rund ein Zehntel der in Tschernobyl gemessenen Freisetzung.[79]

Ist der Fukushima-Fall wegen der abweichenden Ausgangsbedingungen (sehr viel längere Karenzzeit für Gegenmaßnahmen) bereits wenig wahrscheinlich, so kann man eine Freisetzung wie in Tschernobyl, wo die Reaktorexplosion spontan einen sehr großen Teil des Reaktorinventars freisetzte, mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschließen. In Tschernobyl gab es keinerlei Reaktionszeit. Explosionen und ein Graphitbrand erzeugten Druckwellen und Thermik, die die Radionuklide, die sich bei einer langsamen Kernschmelze zu großen Teilen im Inneren des Reaktorgebäudes niederschlagen würden, nach draußen beförderten, darunter auch normalerweise schwer flüchtige Radionuklide und Kernbrennstoff-Partikel. Vor allem fallen bestimmte Radionuklide mit kurzen Halbwertszeiten wie Iod-131, die in Tschernobyl eine bedeutende Rolle für die Strahlenbelastung der Zivilbevölkerung spielten, wegen des lang zurückliegenden Reaktorbetriebs nicht mehr ins Gewicht. Aus diesem Grund ist in Zaporižžja auch im Falle einer Unfallentwicklung keine Iodprophylaxe vonnöten. Überlegungen zu einer möglichen Freisetzung in Zaporižžja orientieren sich daher an Belastungen mit dem flüchtigen Caesium-137, das eine Halbwertszeit von 30 Jahren hat. Die meisten Fachleute gehen derzeit von einer Freisetzung aus, die regionale, aber keine nationale oder gar internationale Bedeutung hätte.[80] Gleichwohl ist zu bedenken, dass dieses Szenario aufgrund militärischer Umstände oder mutwilliger Einwirkungen der Besatzer zu jedem Zeitpunkt in einen durch Zerstörungswirkungen an Gebäuden oder technischen Systemen verschärften Verlauf umschlagen kann.

Szenario 2: Aktive Beschädigungsabsicht der Besatzer, nukleares Basisszenario

Die Besatzer sind zum Abzug gezwungen und entscheiden sich, das KKW zur Waffe gegen die Ukrainer umzufunktionieren, indem sie die Anlage beschädigen. Die Besatzer könnten einen ähnlichen Fall wie im Szenario 1 auslösen, der aber in wesentlich kürzerer Zeit verläuft. Das würde bedeuten, dass die Besatzer vorsätzlich die Nach- und Beckenkühlung schädigen oder zur Zerstörung der primären Wärmesenke beitragen, etwa durch mutwillige Brennelementbecken-Entleerung, Beschädigung oder Sprengung von vitalen Systemen im Reaktorgebäude oder durch Sprengung der Dämme des Kühlteichs. Auch eine mutwillige Beschädigung der Barrieren für die Aktivitätsrückhaltung durch gezielte Sprengung oder Beschuss des Containments ist in diesem Szenario zu berücksichtigen. In diesem Falle wäre der Eintritt einer radioaktiven Freisetzung mit hoher Wahrscheinlichkeit schneller und die Freisetzung größer als bei einem langsamen Verlauf wie in Szenario 1. Allerdings sind die Hindernisse vergleichsweise hoch: Es bedarf erheblicher Mengen an Sprengstoff; es bedarf anlagenkundiger Assistenz, die aber von den auf der Anlage anwesenden russischen Spezialisten oder von durch Druck auf Familie oder Androhung von Gewalt erpressten ukrainischen Technikern kommen könnte. Bislang scheinen sich die Besatzer von den Kontrollbereichen des KKW fernzuhalten; bislang wurde nur ein gegenteiliger Fall bekannt.[81] Schließlich bedarf es erheblicher krimineller Energie und Planung, um einen solchen Plan in die Tat umzusetzen, überdies ein Außerachtlassen des Schutzes eigener Soldaten oder anderweitigen Besatzungspersonals, wenn nicht eine Evakuierung vorgenommen wird. Leider hat die Erfahrung erwiesen, dass die russländischen Besatzer in anderen Fällen zu planvoller Grausamkeit willens und in der Lage waren – und dass auch das Leben und die Gesundheit der eigenen Soldaten bei den Entscheidungen der Kommandeure und der Führung wenig zählten.

Szenario 3: Aktive Beschädigungsabsicht der Besatzer, extremes nukleares Szenario

Die Besatzer sind zum Abzug gezwungen und entscheiden sich, das KKW zur Waffe gegen die Ukrainer umzufunktionieren, indem sie es massiv und gezielt beschießen oder indem sie die Anlage aktiv in einen gefahrenträchtigeren Zustand versetzen, um in einem oder mehreren Blöcken einen großen Reaktorunfall zu provozieren. Dieses Szenario erscheint sehr unwahrscheinlich, wird aber in Fachkreisen durchaus in Augenschein genommen: Theoretisch könnten die Besatzer die Betriebsmannschaften zwingen, einen Reaktor kritisch zu fahren, einige Tage lang zu betreiben – was bedeutet, dass die Brennelemente erhebliche Nachzerfallswärme entwickeln und sich auch frisches Spaltproduktinventar wie Iod-131 in ihnen bildet – und die Anlage dann in eine Kernschmelze und eine Freisetzung zu treiben, indem sie Sprengsätze an den Hauptkühlmittelleitungen, Notkühlsystemen und am Containment zur Detonation bringen. Dieses Szenario kann nur durchgeführt werden, wenn die Besatzer bereit wären, eigene Verluste und Langzeitwirkungen auch auf das russländische Territorium in Kauf zu nehmen. Überdies müsste es mit einer großen Anzahl an fachkundigem Personal durchgeführt werden, das man zum Anfahren der Anlage und zum Anbringen des Sprengstoffs an den geeigneten Stellen benötigt. Wie im Szenario 2 hängt viel davon ab, ob sich dieses Personal finden oder zwingen lässt – oder ob die Fachkundigen nicht ihrerseits die Durchführung der Aktion sabotieren oder die Täterabsicht offenlegen.

Szenario 4: Aktive Beschädigungsabsicht der Besatzer, konventionelles Szenario

Die Besatzer sind zum Abzug gezwungen und beschädigen betriebliche, nicht aber sicherheitsrelevante Komponenten, um das Kernkraftwerk auf Jahre für die Ukrainer unbrauchbar zu machen. In diesem Falle stünden wohl die Maschinenhäuser und die konventionellen Systeme im Fokus der Täter. Sprengsätze könnten am Turbosatz, am Speisewasserbehälter, an Blocktrafos, Schaltanlagen und Kühlwasser-Entnahmebauwerken angebracht werden. Das hätte keine direkten radiologischen Folgen – es sei denn, es werden Außenanlagen der nuklearen Nachkühlkette zerstört, was zum Szenario 1 überleiten könnte –, würde aber hohen ökonomischen Schaden anrichten. Auch die psychologische Wirkung realer Explosionen auf dem Anlagengelände auf die Ukrainer und die Weltöffentlichkeit ist nicht zu unterschätzen. Ein solches Szenario hätte für die Besatzer den Vorteil, dass sie sich selbst nicht, aber den Gegner erheblich schädigen würden. Eine Schädigung eigener Soldaten oder eine wetterbedingte Verfrachtung flüchtiger radioaktiver Stoffe in Richtung der eigenen Besatzungszone oder Russlands wären ausgeschlossen. Aus diesem Grund halte ich dieses Szenario für höher wahrscheinlich als die Szenarien 2 und 3.[82]

Angst ist das Ziel: Zaporižžja als Unsicherheitsraum

Aus den Szenarien klingt an, dass sehr viele Verläufe denkbar sind, ihre Wahrscheinlichkeit aber unterschiedlich bewertbar ist. Doch das Mögliche zu denken und das Denkbare dann auszusprechen, ist Teil der nuklearen Angstkommunikation, die in Russlands Krieg gegen die Ukraine von Anfang an präsent war. Das betrifft die Anspielungen russländischer Politiker und Propagandisten auf Russlands Nuklearoptionen ebenso wie die direkten Drohungen Putins oder seines Adlatus Medvedev, Atomwaffen einzusetzen,[83] die Behauptung, die Ukrainer betrieben ein militärisches Atomprogramm oder bauten in ihren kerntechnischen Anlagen „schmutzige Atombomben“.[84] Das betrifft aber auch konkrete Aktivitäten, etwa die Stationierung taktischer Nuklearwaffen auf dem Territorium von Belarus.[85] Das KKW Zaporižžja steht gewissermaßen für beides – die Androhung und einen konkreten Eingriff. Einerseits sind bereits konkrete materielle Handlungen Russlands in Zaporižžja nachweisbar, andererseits hat sich rund um die Anlage eine auf künftige Ereignisse ausgerichtete Bedrohungs- und Drohkommunikation aufgebaut.

Russland behandelt die besetzte Atomanlage und ihre Belegschaft als technische und menschliche Geiseln, hält den Gegner in ständiger Ungewissheit, was es mit ihnen anzufangen gedenkt, und schafft so einen Raum der Ungewissheit, der sowohl von der russländischen als auch der ukrainischen Seite mit Informationen, Fehlinformationen, Drohgebärden und Bedrohungsszenarien angefüllt wird. Russland zielt darauf, die ukrainische Seite zu verunsichern, zu lähmen und ihre Kräfte zu binden.

Die unsichere Quellenlage, die Analysen Dritter so schwierig gestaltet, ist Teil dieses Unsicherheitsraums. Die ukrainischen Verteidiger wiederum füllen diesen Raum mit Bedrohungskommunikation über Katastrophenszenarien und nutzen sie, um an Verbündete und die internationale Gemeinschaft zu appellieren und um Waffenlieferungen und robusteres Auftreten gegenüber dem Aggressor auf internationaler Ebene zu werben. Dazu gehörten Volodymyr Zelens’kyjs Äußerungen über „das Ende Europas“ im Falle eines Unfalls in Zaporižžja gleich zu Beginn der Besatzung[86] oder die Warnungen im August 2022 und im Juli 2023, es könne jederzeit zu einer nuklearen Katastrophe europäischen Ausmaßes kommen. Derartige Behauptungen entbehren einer sachlichen Grundlage. Auch die im Sinne einer guten Notfallvorsorge gebotenen Katastrophenschutzübungen der Ukrainer in der Region Zaporižžja wurden nolens volens zum Element der Bedrohungskommunikation. Die Ukrainer demonstrierten damit Wachsamkeit und Bereitschaft, Russland nahm diese Übungen wiederum zum Anlass, zu behaupten, die Ukraine plane im KKW eine „false flag“-Operation.[87]

Aus dieser Gemengelage entsteht eine sich gegenseitig aufschaukelnde Angstkommunikation, die, auch wenn das Schlimmste gar nicht passiert, in den Köpfen und Herzen der Betroffenen wirkt. Die russländische Angstkommunikation hat Adressaten weit über die Ukraine hinaus. Der Kreml zielt mit seinen Anspielungen, es könnten auch die westeuropäischen Kernkraftwerke vom Krieg in Mitleidenschaft gezogen werden, auf die nuklearsensible oder atomkritische Öffentlichkeit in den mit der Ukraine verbündeten Staaten.[88] Dass diese Angstkommunikation verfängt, zeigt auch die Position von deutschen Kritikern der Waffenlieferungen an die Ukraine, die Zaporižžja zum Anlass nehmen, False-Balance-Aussagen über die Schuld beider Kriegsparteien an der Situation zu machen. So sagte die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht:

„Wenn die Bundesregierung nicht weiß, wer für den Beschuss des Kernkraftwerks Saporischschja verantwortlich ist, warum richtet sie dann nicht an beide Seiten einen eindringlichen Appell, den Beschuss sofort einzustellen, um eine drohende Freisetzung von Radioaktivität mit all ihren ernsthaften und langfristigen Folgen für die Zivilbevölkerung zu verhindern?“[89]

Auch in der Debatte um die krisenbedingte Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke – d.h. einer Maßnahme, welche die heimische Stromversorgung nach dem Wegbrechen der Gaslieferungen aus Russland stabiler machen sollte – führten die Gegner dieser Maßnahme Zaporižžja an und suggerierten, es könne auch in deutschen Kernkraftwerken zu einer ähnlichen Situation kommen.[90] Das alles dürfte im Interesse der russländischen Regierung gewesen sein. Gerade vor diesem Hintergrund ist es so wichtig, gesichertes Wissen über die Lage in Zaporižžja nicht nur in der Ukraine, sondern in Europa zur Verfügung zu stellen und zu betonen, dass die Auswirkungen auch eines durch Kriegshandlungen ausgelösten Reaktorunfalls in Deutschland gering wären.

Das KKW als technische Geisel und Exekutionsort des Angriffs auf die ukrainische Moderne

Mit dem Angriff auf das Kernkraftwerk Zaporižžja wird nicht nur eine Industrieanlage bedroht und besetzt. Die Annexion des Gebietes und die Aneignung des größten Kraftwerkskomplexes der ukrainischen Energiewirtschaft ist eine gezielte und massive materielle Schädigung der Ukraine. Sie wird der Möglichkeit beraubt, Strom aus ukrainischen KKW zu exportieren und Devisen zu verdienen. Russlands Angriff zielt auch ins Herz des ukrainischen Selbstverständnisses als moderne, technologiebasierte Industriegesellschaft, die auch eine high reliability technology wie die Kernenergietechnik beherrscht. Die Atomwirtschaft hat eine häufig ambivalente Rolle bei der Modernisierung und sozialen Mobilisierung der Sowjetukraine gespielt. Die Ukrainer hatten an der Entwicklung der sowjetischen Kerntechnik erheblichen Anteil.[91] Die Kernenergie war, als ehemals imperiale Technologie, ein Faktor der (Selbst-)kolonisierung der Ukrainer, und ihr punktuelles Scheitern im Unfallgeschehen von Tschernobyl ist ein tragischer Erinnerungsort der ukrainischen Geschichte. Sie war aber auch eine Bildungs- und Modernisierungsmaschine, die den ukrainischen Eliten hoch willkommen war und die auf dem Boden des Landes mächtige Konzernstrukturen des Kernkraftwerkbaus und bedeutende Unternehmen des kerntechnischen und elektrotechnischen Maschinenbaus hervorbrachte, ergänzt um beträchtliche eigene Uranvorkommen.[92] Wenn auch in der Krise der 1990er Jahre die nukleartechnische Eigenentwicklung der Ukraine weitgehend stagnierte, beförderte die Unabhängigkeit des Landes die schrittweise Aneignung der nuklearen Anlagen als etwas, das zur Ukraine im Guten wie Schlechten dazugehört.

Noch in den späten 1980er Jahren hatten Umweltschützer und Vordenker der ukrainischen Nationalbewegung Atomkraftwerke als Fremdkörper und Agenturen der Russifizierung beschrieben. [93] Heute stellen diese Kraftwerke nationale ukrainische Identitätsanker dar. Auch das trägt dazu bei, dass der Energiesektor immer wieder Ziel russländischer Angriffe ist. Denn selbstbewusste Ukrainer, die Atomkraftwerke betreiben, sind ein rotes Tuch für nationalimperiale Russen, die der Vorstellung anhängen, den unterentwickelten Ukrainern die Zivilisation – auch die nukleare – gebracht zu haben. Die Attacken auf die ukrainische Energie- und Atominfrastruktur – so auch die Zerstörung des Kachovka-Staudamms – lassen sich nicht nur als Angriff auf verhasste Symbole der ukrainischen Industriemoderne interpretieren. Im russländischen Selbstbild geht es um mehr: Wenn alle Gegenstände von kultureller und technischer Bedeutung in der Ukraine von Russen gemacht wurden, so besagt diese Vorstellung in Verkennung des enormen ukrainischen Faktors in der sowjetischen Industrie- und Technikgeschichte, können die Russen ihre eigenen Schöpfungen auch strafend zerstören, wenn die frechen Indigenen undankbar sind. Vladimir Putin hat in seinen historisch-politischen Einlassungen über die Ukraine den Ton gesetzt.[94]

Und so werden die Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur zur Strafe, Staudämme und Kernkraftwerke zur Waffe, die ukrainische Kulturlandschaften bedrohen.[95] Das KKW Zaporižžja mag zwar vor allem deswegen ein leichtes und rasches Opfer der Angreifer geworden sein, weil es so exponiert im Südosten der Ukraine liegt, aber es ist auch ein symbolisches Opfer, denn es liegt in einer Landschaft, die den Ukrainern historisch sehr viel bedeutet, im Kernland der Kosakenukraine. So wurde das Kraftwerk, in dem vorwiegend russischsprachige Ukrainer arbeiteten, zu einem Symbol ukrainischen Leidens, Widerstands und Befreiungswillens, aber auch der Fragilität und Vulnerabilität der Infrastruktur aus Friedenszeiten. Daher richten sich auch so viele Sehnsüchte und Wünsche der Ukrainer auf die deokupacija von Zaporižžja und die Befreiung der Atomstadt Enerhodar. Doch ähnelt der Entsatz des Kernkraftwerks der Aufgabenstellung einer Geiselbefreiung, und genau wie bei einer Geiselbefreiung geht es hier nicht primär um brachiale Rückeroberung und Bestrafung des Geiselnehmers, sondern um das Überleben der Geisel. Dieses Vorhaben wird womöglich die Ukrainer auch zu Verhandlungen zwingen – sonst könnte es eine der riskantesten Operationen dieses Krieges werden.

Fazit und Handlungsempfehlungen

Die Bedrohungslage rund um Zaporižžja hat die Ukrainer zwar wesentlich beeinträchtigt, aber ihren Verteidigungswillen nicht gebrochen. Auch hatte sie keinen Einfluss auf ukrainische Entscheidungen hinsichtlich der restlichen Kernkraftwerke, abgesehen von der in der Öffentlichkeit nicht diskutierten militärischen Absicherung der Anlagen. Trotz aller Wechselfälle hat das ukrainische Stromnetz den Kriegshandlungen standgehalten, womöglich auch dank der Integration in den europäischen Stromverbund ENTSO-E seit Februar 2022.[96] Gut die Hälfte der AKW-Blöcke sind in Betrieb, um das Netz stabil zu halten. Die aktuelle Versorgungssicherheit der Ukraine hängt also ganz wesentlich an der Kernenergie. Für das KKW Zaporižžja hingegen gibt es keine Entwarnung. Auch eine Eskalation ist möglich. Im Kraftwerk ist es zu Vorfällen gekommen, die man sich vor dem 24. Februar 2022 nicht hätte träumen lassen – aber viele Verläufe, die man befürchtete, sind auch nicht eingetreten. Die Anlage hat mehrere krisenhafte, zum Teil gleichzeitig eintretende Transienten ohne Gefährdung der kerntechnischen Komponenten oder der Integrität des Brennstoffes überstanden: mehrmaligen Artilleriebeschuss der Anlage, Notstromfälle, Lastabwurf auf Eigenbedarf, Gefährdung der Kühlwasserversorgung. Ungeachtet des aus sicherheitstechnischer Sicht unhaltbaren Zustandes der Anlage ist dies weit mehr, als man im März 2022 zu hoffen wagte. Sowohl die betrieblichen als auch die Notsysteme des Kraftwerks haben sich bislang durch große Robustheit und Stabilität ausgezeichnet. Die Anlage wurde trotz Terrors und Kriegseinwirkungen von ihren Mitarbeitern nicht im Stich gelassen. Die Notstromversorgung war so gefordert wie in keinem Kernkraftwerk der Welt zuvor. Sie hat die Anforderungen erfüllt. Würden die Ukrainer altsowjetische Floskeln und Ehrentitel inzwischen nicht ablehnen, käme sicher die Idee auf, von Zaporižžja als stancija-heroj („Heldenkraftwerk“) zu sprechen.

Die Erfahrung von Zaporižžja hat schlimmste Befürchtungen über das Schicksal kerntechnischer Anlagen im Krieg genährt – aber bislang nicht bestätigt. Dieser Befund dürfte in die zukünftige sicherheitstechnische Fachliteratur eingehen. Man könnte also versucht sein, Zaporižžja als einen erfolgreichen Testfall der Reaktorsicherheit darzustellen. Doch diese Schlussfolgerung verbietet sich angesichts der Volatilität der Situation in der Ukraine. Scheinbare Stabilität kann hier jeden Tag in eine neue Bedrohungslage umschlagen. Zaporižžja hat allen vor Augen geführt, wie voraussetzungsvoll der sichere Betrieb einer Atomanlage ist. Die Hauptvoraussetzung dafür sind Frieden und politische Stabilität. Und es zeigt sich, wie stark die Interdependenz zwischen Kernkraftwerken und den sie umgebenden soziotechnischen Systemen ist. Das reicht von der Bedeutung der externen Stromversorgung und der Abhängigkeit von einer genügenden Kühlwasserzufuhr bis zur bislang kaum beachteten wechselseitigen Abhängigkeit zwischen dem Kernkraftwerk und der Daseinsvorsorge für eine Stadt mit Fernwärme oder die zwischen dem Kernkraftwerk und einem konventionellen Kraftwerk, das man für einen selbstverständlichen Hilfsdampferzeuger hielt. Im Frieden sind diese Interdependenzen abgesichert, mit mehrfachen Redundanzen und Reserven. Im Kriege jedoch kann unter Umständen eine Redundanz und Sicherheitsvorkehrung nach der anderen in sich zusammenbrechen: die Netzanbindungen mehrfach vorhanden, aber zusammengeschossen; das Kohlekraftwerk nebenan, aber ohne Brennstoff; der Stausee vor dem Werkstor, aber der Staudamm zerstört. Mit Blick auf den menschlichen Faktor ist zu ergänzen: Der Reaktorfahrer ist zur Schichtübergabe vorschriftsgemäß am Pult, aber nervös, verängstigt und übermüdet. Solche Randbedingungen können einer disruptiven Veränderung des Anlagenzustandes den Weg bahnen, die zur Nichtbeherrschbarkeit eines Schadensereignisses führen kann.

Was der Schrecken der Reaktorsicherheitsforschung ist, sollte der Politik Ansporn sein – nämlich nicht zu vergessen, dass die ursprüngliche Gefahr in diesem Geschehen nicht vom Kernkraftwerk ausgeht, sondern von den Besatzern; dass nicht die Abschaffung kritischer Infrastruktur uns sicherer leben lässt, sondern die – auch militärische – Einhegung von Kriegsherren, die sie bedrohen. Was für die Blöcke von Zaporižžja gut ist, hilft derzeit auch im Verhältnis zu Russland: ein stabiles Containment.

Einige Maßnahmen auf der kommunikativen und der politisch-militärischen Ebene könnten helfen, die Situation um Zaporižžja zu entschärfen. Auf der kommunikativen Ebene wäre der ukrainischen Regierung – aber auch der deutschen Politik – zu empfehlen, ihre Strategie zu ändern und statt Alarmismus, der dem Aggressor in die Hände spielt, indem er im eigenen Land das Gefühl der Ohnmacht und des Kontrollverlusts erzeugt, eine Strategie der ruhigen Hand zu wählen. Das bedeutet, auf dramatisierende Sprache und drastische Prophezeiungen zu verzichten, die, wenn sie nicht eintreten, die eigene Glaubwürdigkeit untergraben. Alle Verantwortungsträger sollten sich streng daran halten, nur gesichertes Wissen zu verbreiten. Das bedeutet nicht, die Gefahren kleinzureden. Im Gegenteil, sie müssen nüchtern benannt werden, um erkennen zu können, wie Abhilfe möglich ist.

Auf der politisch-militärischen Ebene wäre es empfehlenswert, trotz der verständlichen Verärgerung der Ukrainer über die neutrale Haltung der IAEA, die für die Regierung in Kiew zu unkritisch gegenüber Russland auftritt, dieses Instrument zu nutzen, um die Geisel ZAES buchstäblich aus der Schusslinie zu nehmen. Die IAEA fordert die Demilitarisierung der Anlage, was ein prinzipielles Aufenthaltsverbot für Truppen beider Seiten impliziert, außerdem die Räumung des Kraftwerks von Militärgerät und Minen. Diese Forderung unterstützt die Ukraine prinzipiell, wenn sie auch die Frage der eigenen Truppenanwesenheit auf dem Gelände nicht thematisiert. Hier könnte man ansetzen. Denkbar wäre eine Aufstockung der rotierenden IAEA-Missionen auf eine Teamstärke, die die Inspekteure tatsächlich in die Lage versetzen würde, das riesige Kraftwerksgelände zu überwachen. Zu denken wäre auch an ein Abkommen, demzufolge bei einem Abzug der russländischen Truppen die Ukrainer nicht direkt die Anlage übernehmen, sondern diese der IAEA, d.h. den Vereinten Nationen unterstellt wird, die das Kraftwerk sichern und mit Hilfe internationaler Spezialisten Waffen, Minen und Militärausrüstung vom Anlagengelände entfernen. Da auf absehbare Zeit an einen Leistungsbetrieb nicht zu denken ist, d.h. ein ökonomisches Interesse an einer schnellen Normalisierung der Verhältnisse nicht besteht, erscheint diese Maßnahme als realistisch.

Gleichwohl sollte auch eine Empfehlung an die IAEA gegeben werden: Sie sollte – falls sie es hinter verschlossenen Moskauer Türen nicht getan hat – die Mittäterrolle des russländischen Atomkonzerns Rosėnergoatom bei der Zaporižžja-Geiselnahme klarer als bislang thematisieren und auch die Implikationen benennen. Eine lautet, dass Rosėnergoatom nach internationalen Standards der kerntechnischen Sicherheitskultur mit diesem Sündenfall eine zentrale Voraussetzung für das Betreiben von Kernkraftwerken nicht mehr erfüllt, nämlich die Zuverlässigkeit der Betreiberorganisation, die in jedem Land mit einem atomaufsichtlichen Prüfverfahren bestätigt wird. Ämter und Funktionen von Vertretern der russländischen Atomindustrie bei der IAEA sollten zumindest bis zum Abzug der russländischen Besatzer aus Zaporižžja suspendiert werden.

Gelingt es der Ukraine, das Kernkraftwerk wieder der eigenen Verfügungsgewalt zu unterstellen, wird dessen technische und ökonomische Zukunft mit Sicherheit an Bedeutung gewinnen. Die Ukraine hat ein vitales Interesse, es wieder in Betrieb zu nehmen, weil sie sich in Europa als Netto-Stromexporteur etablieren möchte. Selbst wenn Zaporižžja den Krieg ohne größere Schäden überstehen sollte, wird es vermutlich auf viele Monate nach Kriegsende, wenn nicht Jahre außer Betrieb sein, bis geklärt ist, ob der Stausee von Kachovka wiederhergestellt wird oder ob das KKW seine Kühlwasserversorgung für den Leistungsbetrieb künftig direkt aus dem Dnipro bestreiten kann. Doch es wird dann nicht nur um die geplante Modernisierung der ukrainischen Kernenergiewirtschaft gehen, zu der sich die Ukraine bekennt, sondern um die Entwicklung einer Energiestrategie, die das Land auch für nichtmilitärische Krisen wie den Klimawandel resilient macht und auf die Herausforderungen einer dekarbonisierten Industriegesellschaft antwortet. Es deutet viel darauf hin, dass diese Strategie anders aussehen wird als in Deutschland und dass sowohl die Kernenergie als auch die Erneuerbaren Energien – die übrigens ebenfalls massiv von Kriegseinwirkungen beeinträchtigt wurden und einen großen Wiederaufbaubedarf haben – in ihr eine Rolle spielen werden. Eines aber steht schon jetzt fest: Zaporižžja wird als zentraler Erinnerungsort in die Geschichte des ukrainischen Befreiungskriegs eingehen.


[1] Tschernobyl. Vermächtnis und Verpflichtung. Berlin 2006 [ = Osteuropa 4/2006].

[2] Stephen J. Collier, Andrew Lakoff, The Government of Emergency. Vital Systems, Expertise, and the Politics of Security. Princeton 2021.

[3] Jonathan Falconer: The dam busters: breaking the great dams of Western Germany 16-17 May 1943. Stroud 2003. – David Blackbourn: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft. München 2007, S. 304–306

[4] Ihor Pylypenko, Daria Malchykova: Der Kachovka-Stausee. Wirtschaftsmotor und Kriegsschauplatz, in: Osteuropa, 1–2/2023, S. 53–60.

[5] 1980 und 1981 wurde der in Bau befindliche irakische Forschungsreaktor Osirak vom Iran, dann von Israel angegriffen. 2009/10 wurde die iranische Urananreicherungsanlage Natanz mit dem Schadprogramm Stuxnet angegriffen, das die Drehzahlregelung in der SCADA-Maschinensteuerung der Uranzentrifugen manipulierte und sie durch Überdrehzahl zur Zerstörung brachte. Bennett Ramberg: Nuclear Power Plants as Weapons for the Enemy: An Unrecognized Military Peril. Berkeley 1985. – Avner Cohen, Marvin Miller: Iraq and the rules of the nuclear game. Bulletin of the Atomic Scientists, 6/1991, <https://web.archive.org/web/20110720065734/http://www.iraqwatch.org/perspectives/bas-iraq-rules-nuke-8-91.htm>. – Mischa Hansel: Stuxnet und die Sabotage des iranischen Atomprogramms: Ein neuer Kriegsschauplatz im Cyberspace? In: Thomas Jäger, Rasmus Beckmann (Hg.): Handbuch Kriegstheorien. Wiesbaden 2011, S.564–576.

[6] Anna Veronika Wendland: Kerntechnische Moderne. Atomstädte, nukleare Arbeit und Reaktorsicherheit in Ost- und Westeuropa 1966–2020, Habilitationsschrift, Philipps-Universität Marburg 2021, hier das Kapitel Industrial Anthropology im Kernkraftwerk: Möglichkeiten, Grenzen, Beobachtungsdesigns, S. 359–394.

[7] International Atomic Energy Agency (IAEA): Nuclear Safety, Security, and Safeguards in Ukraine, February 2022–February 2023. Vienna 2023, <www.iaea.org/sites/default/ files/23/02/nuclear-safety-security-and-safeguards-in-ukraine-feb-2023.pdf>; S. 5.

[8] IAEA: Nuclear Safety, Security, and Safeguards; IAEA: Nuclear safety and security in Ukraine, <www.iaea.org/nuclear-safety-and-security-in-ukraine>. – Nuclear safety, security and safeguards in Ukraine, 2nd Summary Report by the Director General, 28 April – 5 September 2022, Vienna 2022, <www.iaea.org/sites/default/files/22/09/ukraine-2ndsummaryreport_sept2022.pdf>.

[9] Deržavna inspekcija jadernoho rehuljuvannja Ukrajiny (DIJaRU), <www.snriu.gov.ua> oder auf Englisch: State Nuclear Regulatory Inspectorate of Ukraine (SNRIU). – Enerhoatom, <www.energoatom.ua>. Die Telegram-Kanäle sind häufig aktueller als die Webseiten.

[10] Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS): Aktuelle Entwicklungen zum Zustand der kerntechnischen Anlagen in der Ukraine. <www.grs.de/de/aktuelles/infobereich-ukraine/aktuelle-entwicklungen>. – Enerhoatom: Rosijs’ki vijs’kovi zajavyly pro hotovnist’ pidirvaty zaminovanu ZAES. Radio Svoboda, 8.4.2022, <www.radiosvoboda.org/amp/news-enerhoatom-zaes-rosiyski-viyska/31978617.html>.

[11] Stadt Enerhodar: <https://t.me/energodar_ukr/>. Ukrainische Atomaufsichtsbehörde: <https://t.me/snriugovua/>, Kraftwerksleitung: <https://t.me/znppatom/>, Enerhoatom: <https://t.me/energoatom_ua/>, Besatzungs-Kraftwerksleitung <https://t.me/znppofficial/>.

[12] Wendland, Kerntechnische Moderne [Fn. 6].

[13] Rivnens’ka AES: Plan pomeščenij Reaktornogo Otdelenija VVĖR-1000 bl. 3, Kuznecovsk o.D.; Balakovskaja Atomnaja Stancija / Centr podgotovki personala: Osnovnoe oborudovanie reaktornogo otdelenija VVĖR-1000. Balakovo 2000 (im Folgenden: BAĖS CPP).

[14] SNRIU: National Report of Ukraine. Stress Test Results. Kyjiv 2011. – European Nuclear Safety Regulators Group (ENSREG): Stress Test Peer Review Board: Ukraine. Peer review country report. Stress tests performed on European nuclear power plants. Brussels 2012, <www.ensreg.eu/sites/default/files/Country%20Report%20UA%20Final.pdf>.

[15] Alison Williams: Unprotected Russian soldiers disturbed radioactive dust in Chernobyl’s „Red Forest“, workers say. Reuters, 28.03.2022, <www.reuters.com/world/europe/unprotected-russian-soldiers-disturbed-radioactive-dust-chernobyls-red-forest-2022-03-28/>. – Russian troops have withdrawn from Chernobyl, Ukraine agency says. Washington Post, 1.4.2022, <www.washingtonpost.com/world/2022/04/01/ukraine-chernobyl-russia-troops-withdraw/>.

[16] Block 1 bis Block 5 (erste Netzeinspeisung 1984, 1985, 1986, 1987, 1989) wurden über ihre ursprünglich vorgesehene 30-jährige Betriebszeit hinaus laufzeitverlängert, Block 6 (1995) ist noch in seiner regulären Laufzeit. SNRIU, Stress Test [Fn. 14], Results, 6.

[17] Anna Veronika Wendland: Nuclearizing Ukraine – Ukrainizing the Atom. Soviet nuclear technopolitics, crisis, and resilience at the imperial periphery, in: Cahiers du Monde Russe, 2–3/2019, S. 335–367.

[18] 750 kV-Höchstspannungsleitung ZAES-Kachovka: Najbil’ša v Evropi Zaporiz’ka AES vperše u svojij istoriji vyjšla n povnu potužnist’. LB.ua, 15.1.2021, <https://lb.ua/economics/2021/01/15/475267_naybilsha_ievropi_zaporizka_aes.html>. – Pričiny stroitel’stva vysokovol’tnoj LĖP ZAĖS-Kachovskaja. Energy Solutions, 2010, <http://belenergetics.ru/vl-750-1150/zachem-nuzhno-stroitelstvo-vysokovoltnoj-linii-elektroperedach-750kv-zaporozhskaya-aes-kaxovskaya/>.

[19] Hryhorij Lysyčenko, Mykola Štejnberg et al.: Atomna industrija Ukrajiny. Ekspertnyj. Ohljad. Oslo 2017, S. 26–27.

[20] Andrej Kurpskij: Stalker 3.0: Pravda o situacii na Zaporožskoj AĖS, 8.12.2014, <https://andrei-kurpskiy.livejournal.com/47843.html>. Die in diesem Blog als „Belege“ gezeigten Screenshots gefälschter Accounts geben einen Einblick in die Fake-News-Produktion russischer Trolle über das Kernkraftwerk Zaporižžja im Herbst und Winter 2014.

[21] Anna Veronika Wendland: Zaporižžja als Symbol. Russland attackiert die ukrainische Sowjetmoderne, in: Osteuropa, 6–8/2022, S. 135–150.

[22] Der in Tschernobyl eingesetzte RBMK-1000 (reaktor bol’šoj moščnosti kanal’nyj) war ein graphitmoderierter, leichtwassergekühlter Druckröhren-Siedewasserreaktor, dessen konstruktive Besonderheiten die Anlage in bestimmten Betriebszuständen physikalisch, d.h. die Neutronenökonomie betreffend, instabil werden ließen. Dieser Faktor sowie ein fehlerhaft konstruiertes Abschaltsystem gehörten zu den Ursachen des Unfalls vom 26.4.1986. Gesellschaft für Reaktorsicherheit: Tschernobyl – 10 Jahre danach. Der Unfall und die Sicherheit der RBMK-Anlagen. Köln 1996.

[23] Druckwasserreaktoren gelten im Vergleich zum Tschernobyl-Reaktor RBMK als wesentlich stabiler und besser regelbar. In einem Druckwasserreaktor befindet sich der Reaktorkern mit den (im VVĖR-1000: 163) Brennelementen in einem Druckbehälter. Das Kühlmittel steht unter hohem Druck (im VVĖR: 160 bar) und siedet daher auch bei einer Temperatur von bis zu 330 Grad Celsius nicht. Es wird von großen Hauptkühlmittelpumpen umgewälzt und in vier Kühlschleifen zu den Dampferzeugern geführt. Im VVĖR-1000 sind das liegend montierte, ca. 12 Meter lange Behälter, in deren Inneren Tausende von dünnen Heizrohren vom erhitzten Reaktorkühlmittel durchflossen werden. Diese Heizrohre übergeben die im Reaktorkern erzeugte Wärme an das Speisewasser des Sekundärkreislaufs und lassen es verdampfen. Der nicht radioaktive Frischdampf treibt die Turbine an. Technische Details zum VVĖR-1000 in BAĖS CPP [Fn. 13 ], S. 33–41 und S. 49–90. – V.V. Semenov: Fiziko-techničeskie charakteristiki reaktornych ustanovok VVĖR. Moskva 1979, Tab. 1.

[24] Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I), 8. Juni 1977. Teil IV Zivilbevölkerung, Kapitel III Zivile Objekte, Artikel 56 „Schutz von Anlagen und Einrichtungen, die gefährliche Kräfte enthalten“. Zum Interpretationsspielraum Christoph Hasselbach: Atomkraftwerke im Krieg: Was das Völkerrecht sagt. Deutsche Welle, 8.9.2022, <https://p.dw.com/p/4GWjj>.

[25] IAEA Director General Grossi’s Initiative to Travel to Ukraine, 4.3.2022, <www.iaea.org/ newscenter/pressreleases/iaea-director-general-grossis-initiative-to-travel-to-ukraine>. Im Mai 2023 ergänzte die IAEA diese Aussage mit akuten „Fünf Sicherheitsprinzipien“, die eingehalten werden müssten, um einen nuklearen Unfall zu verhindern: 1) Keine Angriffe auf Reaktoren, Lagerstätten von verbrauchtem Kernbrennstoff und Kraftwerkspersonal, 2) Kein Missbrauch der Anlage als Lagerplatz oder Operationsbasis für Militärgerät und Militärpersonal, 3) Integrität der externen Stromversorgung, 4) Integrität der Sicherheitssysteme und ihr Schutz vor Beschädigung durch Kampfhandlungen und Sabotage, 5) Unterlassung aller Handlungen, die diese Prinzipien untergraben, IAEA chief outlines five principles to avert nuclear „catastrophe“ in Ukraine. UN News, 30.5.2023, <https://news.un.org/en/story/2023/05/1137172>.

[26] Ukaz „Ob osobennostjach pravovogo regulirovanija oblasti ispol’zovanija atomnoj ėnergii na territorii Zaporožskoj oblasti“, 5.10.2022, <http://kremlin.ru/acts/news/69522>. – Oleksij Pavlyš: Okkupanty zajavljajut’ pro pryznačennja novoho „dyrektora“ na Zaporiz’kij AES. Ėkonomična Pravda, 30.11.2022, <www.epravda.com.ua/news/2022/11/30/694439/>. – Von Hackern veröffentlichte Dokumente aus dem KKW zeigen den neuen Briefkopf der Okkupations-Kraftwerksleitung: Vasyl’ Vološko: Kolaboracionizm i teroryzm: insajdy vid „upravlinciv“ okupovanoho Enerhodaru. Kiborg, 18.7.2023, <https://kiborg.news/2023/07/18/ energodar-pid-okupacziyeyu-kolaboraczionizm-i-teroryzm/>.

[27] V „Enerhoatomi“ rozpovily, de zaraz perebuvaje dyrektor ZAES. Slovo i Dilo. Analityčnyj portal, 3.10.2022, <www.slovoidilo.ua/2022/10/03/novyna/suspilstvo/enerhoatomi-rozpovily-zaraz-perebuvaye-dyrektor-zaes>. – Zastupnyka holovnoho inženera ZAES zvil’nyly za kolaboracionizm. Ukrinform, 1.12.2022, <www.ukrinform.ua/amp/rubric-economy/3625534-zastupnika-golovnogo-inzenera-zaes-zvilnili-za-kolaboracionizm-energoatom.html>. – Atomaufsicht SNRIU via Telegram, 29.7.2023, <https://t.me/snriugovua/830>. – Enerhoatom via Telegram, 6.7.2023, <https://t.me/energoatom_ua/13852>. – Womöglich ist die Personalpolitik der Besatzer ein Echo der sowjetischen Kontrollpolitik in nichtrussischen Gebieten. Einheimische Führungskader wichtiger Parteiorganisatoren und Betriebe wurden immer von ethnisch russischen Vorgesetzten oder Stellvertretern überwacht.

[28] Nazmia Leite: Ukrainian union works throughout the war. Global Worker, 20.12.2022, <www.industriall-union.org/profile-ukrainian-union-works-throughout-the-war>. – Novi vykradennja, zachoplennja jidal’ni ta pidvalu UTC, vtorhnennja v radiacijnu zonu – „Enerhoatom“. Infoatom News, 19.7.2022, <https://infoatom.news/2022/07/19/190720221841>. – Voennye RF pochitili do 100 sotrudnikov Zaporožskoj AĖS – „Ėnergoatom“. Vesti.ua, 25.7.2022, <https://vesti.ua/strana/voennye-rf-pohitili-do-100-sotrudnikov-zaporozhskoj-aes-energoatom>. – Enerhoatom via Telegram über die verschleppten ZAES-Mitarbeiter Serhij Pychtin, Olena Rjabceva und Ihor Kvašnin, 19.7.2022, <https://t.me/energoatom_ua/8261>. – Stadt Enerhodar via Telegram über das Schicksal des verhafteten ZAES-Ingenieurs Serhij Potinh, 28.7.2023, <https://t.me/energodar_ukr/5612>. Hintergrundbericht mit vielen Zeugenaussagen anonymer Informanten: Nina Avdeenko: Iz bol’nicy vozvraščajutsja s prostrelennymi ladonjami. Sotrudniki ZAĖS rasskazali ob ubijstvach, pytkach i pochiščenijach. The Insider, 1.9.2022, <https://theins.info/politika/254597>.

[29] Avdeenko, „Iz bol’nicy“ [Fn. 28].

[30] Zum Zwang, russländische Arbeitsverträge und Pässe anzunehmen: Enerhoatom via Telegram, 4.8.2023, <https://t.me/energoatom_ua/14239>. – Zum passiven Widerstand (Weigerung des Lizenzpersonals, Anweisungen der Besatzer zu folgen; Ausreise von Personal auf Gebiet unter ukrainischer Kontrolle) Enerhoatom via Telegram, 20.7.2023, <https://t.me/energoatom_ua/14036>. – Heimlich aufgenommenes Video aus dem Maschinenhaus von Block 6 mit Aussage eines Mitarbeiters: „Ich bin auf der Anlage und kann bestätigen, dass wirklich viele Mitarbeiter die Arbeit der Russen sabotieren. Die kritischen Systeme werden gewartet“. Enerhoatom via Telegram, 8.7.2023, <https://t.me/energodar_ukr/5442>.

[31] Direktor ZAĖS zajavil ob uchode so stancii primerno poloviny personala. RIA Novosti, 12.12.2022, <https://ria.ru/20221212/zaes-1838057781.html>. – Leite, Ukrainian union [Fn. 28]. – Stadt Enerhodar via Telegram, 3.7.2023, <https://t.me/energodar_ukr/5369>. – 4.7.2023, <https://t.me/energodar_ukr/5378>. – Zu den als „Erholungsaufenthalt“ getarnten Zwangsevakuierungen von Kindern aus Enerhodar: Vološko, Kolaboracionizm [Fn. 26].

[32] Enerhoatom via Telegram, 11.8.2022, <https://t.me/energoatom_ua/8842>. – <https://t.me/energoatom_ua/8849. – <https://t.me/energoatom_ua/8857>. – Zaporiz’ka AES via Telegram, 11.8.2022, <https://t.me/znppatom/1048>.

[33] IAEA: Nuclear Safety and Security in Ukraine, Update 97, IAEA Director General Statement on Situation in Ukraine, 3.9.2022, <www.iaea.org/newscenter/pressreleases/update-97-iaea-director-general-statement-on-situation-in-ukraine>.

[34] Am 26.8.2022 waren erstmals alle sechs Blöcke abgeschaltet, Enerhoatom via Telegram, 26.8.2022, <www.energoatom.com.ua/o-2608221.html>. – Eine Chronik der technischen Lage bieten die IAEA: Nuclear Safety and Security in Ukraine, <www.iaea.org/ nuclear-safety-and-security-in-ukraine> und die GRS <www.grs.de/de/aktuelles/infobereich-ukraine/aktuelle-entwicklungen>.

[35] In diesem Betriebszustand ist der Reaktor abgeschaltet und „heiß-unterkritisch“, d.h. Reaktorleistung ist Null, eine selbsterhaltende Kettenreaktion findet nicht statt, aber der Primärkreislauf wird mit der Abwärme der laufenden Hauptkühlmittelpumpen und der Druckhalterheizung, d.h. de facto elektrisch, auf Nenntemperatur und -Druck gehalten. Normalerweise ist das ein wenige Stunden anhaltender Übergangszustand vor dem nuklearen Anfahren der Anlage oder bei einer kurzzeitigen Netztrennung. Im vorliegenden Falle wird die Anlage aber wochenlang so gefahren, um Dampf zu produzieren.

[36] Im Kraftwerk wird Prozessdampf z.B. für die Verdampfer der Kühlmittel- und der Radioaktiv-Abwasser-Aufbereitung benötigt. IAEA, Update 173 – IAEA Director General Statement on Situation in Ukraine, <www.iaea.org/newscenter/pressreleases/update-173-iaea-director-general-statement-on-situation-in-ukraine>. – Zum Zustand von Block 4 und 6: Enerhoatom via Telegram, 11.8.2023, <https://t.me/energoatom_ua/14343>. – GRS, FAQ zum KKW Saporischschja (Stand: 11.8.2023), https://www.grs.de/de/aktuelles/Infobereich-Ukraine/faq-zum-kkw-saporischschja-stand-11082023.

[37] Enerhoatom via Telegram, 8.8.2023, Riven’ vody u stavku-ocholodžuvači ZAES – stabil’nyj, <https://t.me/energoatom_ua/14279>.

[38] Holovne Upravlinnja Rozvidky MO Ukrajiny via Telegram, 8.7.2023, <https://t.me/DIUkraine/2557>. – Voroh prodovžuje minuvannja ZAES, mit Veröffentlichung einer russischen Karte des ZAES-Betriebsgeländes mit Kartierung der Minenfelder. – Enerhoatom via Telegram, 13.4.2023, Bilja mašzaly 4-ho enerhobloku na ZAES vybuchnula rosijs’ka mina, <https://t.me/energoatom_ua/12713>. – IAEA, Nuclear safety and Security in Ukraine, Update 175, 24.7.2023, <www.iaea.org/newscenter/pressreleases/update-175-iaea-director-general-statement-on-situation-in-ukraine>.

[39] IAEA, Update 173 [Fn. 36].

[40] Das geht aus den Anordnungen der SNRIU zur Änderung der Betriebslizenzen vom 18.8.2022 und 10.2.2023 hervor: SNRIU via Telegram, Deržatomrehuljuvannja vneslo zminy do licenzij na ekspluataciju enerhoblokiv Nr. 1 ta 2 VP „Zaporiz’ka AES“, 19.8.2022, <https://t.me/snriugovua/472>. – SNRIU, Deržatomrehuljuvannja zaboronylo ekspluataciju enerhoblokiv Nr. 3, 4, 5, 6 VP „Zaporiz’ka AES“ DP „NAEK Enerhoatom“ na enerhetyčnych rivnjach potužnosti, 11.2.2023, <https://snriu.gov.ua/news/derzhatomrehuliuvannia-zaboronylo-ekspluatatsiiu-enerhoblokiv-3-4-5-6-vp-zaporizka-aes-dp-naek-enerhoatom-na-enerhetychnykh-rivniakh-potuzhnosti>. – SNRIU, SNRIU Order restricts operation of ZNPP Unit 5 to cold shutdown condition, 9.6.2023, <https://snriu.gov.ua/en/news/snriu-order-restricts-operation-of-znpp-unit-5-to-cold-shutdown-condition>. Demnach sind für die Blöcke folgende Betriebsweisen erlaubt: 1 – perevantažennja palyva bis cholodnyj zupyn (BE-Wechsel bis kalt-unterkritisch), 2 – cholodnyj zupyn (kalt-unterkritisch), 3 – zupyn dlja remontu (Reparaturstillstand), 4 – cholodnyj zupyn (kalt-unterkritisch), 5 – harjačyj zupyn – cholodnyj zupyn (heiß-unterkritisch bis kalt-unterkritisch), 6 – harjačyj zupyn – cholodnyj zupyn (heiß-unterkritisch bis kalt-unterkritisch). Üblicherweise werden die Brennelemente bei langem Anlagenstillstand aus dem Reaktor entladen, aber eine gesicherte Information darüber liegt nicht vor.

[41] Enerhoatom via Telegram, 21.7.2022, Rašysts’ka vijs’kova technika, <https://t.me/energoatom_ua/8306>. – Enerhoatom via Telegram, 23.8.2022. Rašysty nakopyčujut’ techniku na terytoriji Zaporiz’koji AES ta zbil’šyly kil’kist’ vijs’kovych na stanciji, <https://t.me/energoatom_ua/9114>.

[42] Vorgespannter Stahlbeton bedeutet, dass das Containment nicht nur aus einfachem Stahlbeton, also mit Stahlruten armiertem Beton besteht, sondern das Gebäude zusätzlich mit einem über den gesamten Baukörper gezogenen, in Polyäthylenrohren verlegten Netz aus stählernen Spannseilen abgesichert wird, die mit Ankern in der Containment-Bodenplatte (im VVĖR-1000V320 auf +13,20m Höhe) und in der Dachkonstruktion befestigt und vorgespannt werden: BAĖS CPP, Osnovnoe oborudovanie [Fn. 13], S. 20–23.

[43] BAĖS CPP [Fn. 13], S. 21–23. Die Auslegung gegen Flugzeugabsturz ist im VVĖR-1000 also schwächer als in deutschen KKW der Vorkonvoi- oder Konvoi-Linie, deren äußere Betonschutzhülle 1,8 m stark ist und deren innenliegender Sicherheitsbehälter aus 38 mm Stahlblech gefertigt ist. Diese Schutzhülle hält auch dem Aufprall eines großen Verkehrsflugzeugs stand. Reaktorsicherheitskommission: 524. Sitzung am 20.10.2021, Zusammenfassende Stellungnahme der RSK zu zivilisatorisch bedingten Einwirkungen, Flugzeugabsturz, <www.rskonline.de/sites/default/files/reports/EP_Anlage1_RSK524_Stgn_FLAB_hp.pdf>.

[44] Eigene Durchsicht KKW Rivne, Block 3 (baugleich mit Zaporižžja-1 bis -6), Plan pomeščenij reaktornogo Otdelenija.

[45] In einem Kernkraftwerk ist der äußere Sicherheitsbereich (perimetr) das umzäunte, gesicherte Betriebsgelände. In Zaporižžja gibt es außerhalb dieses Bereichs weitere zum Kraftwerk gehörige Büro- und Schulungsgebäude sowie Kantinen, das IAEA-Gebäude, Lagerhäuser und Nebenbetriebe. Der innere Sicherheitsbereich umfasst die gesondert bewachten Anlagengebäude. Der Kontrollbereich (zona strogogo režima) enthält jene Teile der Anlage, wo mit Strahlungseinwirkung gerechnet werden muss, und die Sperrbereiche sind alle Anlagenräume, wo eine erhöhte Ortsdosisleistung von über 3 Millisievert pro Stunde erwartet werden kann (ne poseščaemye pomeščenija). Die russischen Fachbegriffe sind in den Betriebshandbüchern, Plänen und Abkürzungen der ukrainischen KKW immer noch Norm.

[46] SNRIU, Stress Test [Fn. 14], Results, General data on the Zaporizhzhya NPP, S. 9–17. – BAĖS CPP [Fn. 13], S. 15–20. – Eigene Begehungen des Betriebsgeländes in den baugleichen Schwesteranlagen Rivnens’ka AES, Block 3 und 4, während meines Habilitationsprojekts auf der Anlage. Die beschriebene Grundkomposition des Geländes ist in allen VVĖR-1000-Kraftwerken normiert.

[47] Die Sicherheitssysteme der VVER-1000 V320-Anlagen von Zaporižžja sind ähnlich wie in deutschen KKW nach dem n+2-Prinzip ausgelegt, was bedeutet: n bezeichnet die Anzahl der zur Störfallbeherrschung notwendigen Systeme, 2 zusätzliche bilden die Reserve. Im VVER-1000 wird das mit einem 3x 100%- Prinzip erreicht, in deutschen Konvoi- und Vorkonvoi-KKW mit vier Redundanzen 4x 50%. Zum Vergleich: Die meisten französischen Anlagen haben nur eine n+1-Auslegung. Zur Notstromversorgung des VVĖR-1000 V320 vgl. BAĖS CPP [Fn. 13], S 139–141.

[48] Bernd Lederer, Dieter Wildberg: Reaktorhandbuch. Kerntechnische Grundlagen für Betriebspersonal in Kernkraftwerken. München 1992, S. 23, S. 196–250.

[49] Unterstellt wird bei einem 3x 100% System, dass der Wärmetransport aus dem Reaktor auch dann gewährleistet ist, wenn ein Strang des Notkühlsystems in Reparatur ist und ein zweiter wegen eines Einzelfehlers ausfällt. In deutschen KKW wird dieses Ziel mit einer viersträngigen, 4x50%-Auslegung erreicht. Auch die Komposition der Not-/Nachkühlsysteme und Notspeisesysteme ähnelt jener deutscher Anlagen: mit einer Hochdruck-Sicherheitseinspeisung zum Überspeisen kleinerer und mittlerer Lecks; Flutbehältern, Druckspeichern und einem Niederdruck-Notkühlsystem fürs Fluten und Wiederauffüllen des Reaktors nach einem großen Leck, einem Hochdruck-Zusatzboriersystem für das schnelle Unterkritischmachen des Reaktors. Außerdem gibt es ein Containment-Sprühsystem, das im Falle eines Leitungsabrisses mit Ausdampfung des Kühlmittels den Dampf im Reaktorgebäude kondensieren soll, und eine gefilterte Druckentlastung, die in den vergangenen Jahren nachgerüstet wurde. Ein Notspeisesystem, das aus eigenen Wasservorräten einspeist, ist für die Notversorgung der Sekundärseite der Dampferzeuger zuständig, sodass der reguläre Wärmetransport zur Hauptwärmesenke (dem Turbinenkondensator, im Notfall auch den Frischdampf-Abblaseventilen Richtung Atmosphäre) abgesichert wird. Alle Angaben nach SNRIU, Stress Test [Fn. 14], S. 15–17. – ENSREG, Ukraine Peer Review [Fn. 14], S. 28. – GRS, FAQ zum KKW Saporischschja [Fn. 36].

[50] In exponierter Randlage befinden sich Räume für das Notspeisesystem für die Dampferzeuger und ein Teil der Nachkühl-Armaturenräume: Ebenenpläne VVER-1000 V320, BAĖS CPP [Fn. 13], S. 18–20 sowie RAES-3, Plan pomeščenij Reaktornogo Otdelenija.

[51] ZAES-Anbindungen ans Landesnetz: 750 kV ZAES-Dniprovs’ka; 750 kV ZAES-Zaporižžja, 750 kV ZAES-Pivdennodonbas’ka, 750 kV ZAES-Kachovs’ka. Reservenetz: Über zwei 330-kV-Verbindungsleitungen, eine 150 kV-Leitung und ein eigenes Schaltfeld in der Freiluftschaltanlage des benachbarten Kohlekraftwerks (Zaporiz’ka teplova elektryčna stancija, ZaTES) kann das KKW außerdem die Anbindungen 330 kV ZaTES – Kachovs’ka, 330 kV ZaTES – Melitopol‘, 330 kV ZaTES-Ferosplavna nutzen; SNRIU, Stress Test [Fn. 13], 17, 67; Najbil’ša v Evropi Zaporiz’ka AES. – Pričiny stroitel’stva vysokovol’tnoj LĖP ZAĖS-Kachovskaja. Eine Karte der Netzanbindungen kann bei GRS, Was passiert bei einem Netzausfall? <www.grs.de/de/aktuelles/infobereich-ukraine/was-passiert-bei-einem-netzausfall> eingesehen werden. Die Verbindungen zu den Wasserkraftwerken dienen der Schwarzstartfähigkeit eines KKW nach einem überregionalen Netzzusammenbruch. Nur Wasserkraftwerke können bei einem landesweiten Blackout selbstständig wieder anfahren („Schwarzstart“). Sie versorgen dann einen Block des KKW mit Eigenbedarfsstrom zum Starten seiner großen Aggregate, die nicht notstromgesichert sind. Sobald der Block den Eigenbedarf des Kraftwerks liefern kann, wird der Inselbetrieb stufenweise auf größere Netzregionen ausgeweitet, bis am Schluss die Netzabschnitte wieder zusammengeschaltet werden.

[52] IAEA, Update 153 – IAEA Director General Statement on Situation in Ukraine, 13.4.2023, <www.iaea.org/newscenter/pressreleases/update-153-iaea-director-general-statement-on-situation-in-ukraine>. – Western European Nuclear Regulators Association (WENRA), WENRA position on the safety situation of Zaporizhzhya NPP with regards to the partial loss of external power supply, 23.3.2022, <www.wenra.eu/sites/default/files/publications/WENRA_ZNPP_LOOP_220323.PDF>.

[53] Enerhoatom, Zaporiz’ka AES povnistju zupynena, 11.9.2022, <www.energoatom.com.ua/o-1109221.html>. – GRS, Was passiert bei einem Netzausfall? [Fn. 51]

[54] Beim Notstromfall kommt es automatisch zu diesem Ablauf: Fällt die Spannung auf den Eigenbedarfsschienen auf unter 80 Prozent, laufen die großen Verbraucher wie Hauptkühlmittelpumpen, Hauptspeisewasserpumpen und Hauptkühlwasserpumpen aus. Bei sinkender Drehzahl dieser Aggregate wird eine Reaktor- und Turbinenschnellabschaltung ausgelöst, gleichzeitig sorgen Reaktorschutzsignale für eine Abschaltung der Notstromverbraucher, Hochlaufen der Notstromdiesel und ein automatisches stufenweises Wiederzuschalten der Notstromverbraucher.

[55] Das Schnellabfahren im Notstromfall funktioniert so: Der Druck im Reaktorkühlkreislauf wird mit der Druckhaltersprühung abgesenkt, sekundärseitig wird Dampf über die Frischdampf-Abblaseventile abgeführt. In dieser Zeitspanne läuft der Wärmetransport vom Reaktor zu den Dampferzeugern im Naturumlauf durch Konvektion (Zwangsumlauf mit den Hauptkühlmittelpumpen ist wegen des Stromausfalls nicht möglich, denn die Pumpenmotoren sind zu leistungsstark, um notstromversorgt zu werden). Von den Dampferzeugern wird die Wärme über die Frischdampf Abblasestation (BRU-A) in die Atmosphäre abgegeben, die als Wärmesenke dient. Der Massestrom, der über Dach abgeblasen wird, wird aus Deionattanks und gegebenenfalls aus dem Notspeisesystem ergänzt.

[56] SNRIU, Stress Test [Fn. 14], S. 15–17.

[57] Liste der Notstromfälle (NSF): 1.9.2022, NSF1 nur im Block 2 wegen Ausfall Fremdnetztrafo 330 kV/6kV, Reaktorschnellabschaltung (RESA) Block 5, Enerhoatom via Telegram 1.9.2022, <https://t.me/energoatom_ua/9334>. – 8.–9.10.2022, NSF2, 40h, Enerhoatom, 9.10.2022, <www.energoatom.com.ua/o-0910221.html>, 12.10.2022, NSF3, Enerhoatom, 12.10.2022, <www.energoatom.com.ua/o-1210222.html> – 2.11.2022, NSF4, Enerhoatom, 3.11.2022, <www.energoatom.com.ua/o-0311221.html>. – 23.11.2022, NSF5, Enerhoatom, 23.11.2022, <www.energoatom.com.ua/o-2311222.html>. – Nach russländischen Raketenangriffen gingen am selben Tag alle laufenden Blöcke der KKW Rivne, Chmel’nyc’kyj, Pivdennoukrajinsk mit Schnellabschaltung vom Netz. 9.3.2023, NSF6, Enerhoatom, 9.3.2023, <www.energoatom.com.ua/o-0903231.html> 22.5.2023, NSF7, Enerhoatom via Telegram, 22.5.2023, <https://t.me/energoatom_ua/13192>. RESA wegen Netztrennung, aber kein Notstromfall: 25.8.2022, Block 5 und 6, erstmals seit Inbetriebnahme alle Blöcke gleichzeitig abgeschaltet, Enerhoatom via Telegram, <https://t.me/energoatom_ua/9183>. – 1.9.2022, RESA Block 5, Enerhoatom via Telegram 1.9.2022, <https://t.me/energoatom_ua/9334>. – Weitere Notstromfälle: KKW Chmel’nyc’kyj, 15.11.2022 wegen Beschusses einer Schaltanlage, IAEA Update 127, 16.11.2023, <www.iaea.org/newscenter/pressreleases/update-127-iaea-director-general-statement-on-situation-in-ukraine>.

[58] Eigene Beobachtung des Simulatortrainings für den Notstromfall und den Station Blackout im KKW Rivne, E-Protokoll TB UTC Simulatortraining Rivne-1, -2, 11.–13.9.2013.

[59] ENSREG, Ukraine Peer review [Fn. 14], S. 20.

[60] Primärseitige Druckentlastung ist eine Notfallmaßnahme und bedeutet, dass bei totalem Stromausfall und Ansteigen des Drucks im Reaktorkreislauf eine Druckentlastung über Handbetätigung von Druckhalter-Sicherheitsventilen erfolgt (funktioniert mit Batteriestrom) und somit der Weg freigegeben wird, dass Druckspeicher den Reaktor kühlen können. Diese können nämlich erst einspeisen, wenn der Druck im Primärkreis unter einen bestimmten Wert fällt (im VVĖR 60 bar). Dann öffnen Rückschlagventile automatisch und entleeren die Druckspeicher. Sekundärseitige, also den Dampferzeuger betreffende, Druckentlastung erfolgt ebenfalls über Sicherheitsventile. So fällt der Sekundärkreisdruck unter den Druck des Speisewasserbehälters, und Speisewasser kann aus diesem zu den Dampferzeugern gelangen („Bespeisung“). So kann der Wärmetransport aus dem Reaktor auch bei totalem Stromausfall eine Zeit lang aufrechterhalten werden.

[61] Die Stundenangabe bezieht sich auf „latest possibility for operator to intervene“, um irreversiblen Kernschaden aufzuhalten. Bis zur Kernabdeckung sind es 18 Stunden, SNRIU, Stress Test, S. 71–74. – ENSREG, Ukraine Peer Review [Fn. 14], S. 17 und 19.

[62] Nikolaus Müllner, Bernd Hrdy: Consequences of a Large Release of Cesium 137 from Nuclear Power Plant Zaporizhzhia, Vorab-Präsentation einer Untersuchung für den IPPNW, 2.8.2023, <www.ippnw.de/commonFiles/ppt/Muellner_Nuclear_Plants_in_ Warzones.pdf>, Folie 21. – GRS, FAQ KKW Saporischschja [Fn. 36].

[63] <www.grs.de/de/aktuelles/infobereich-ukraine/aktuelle-entwicklungen.

[64] Dazu gehören die Kältemaschinen und Kühler der Notstromdiesel sowie der Not-/Nachkühlpumpen. Da ein Block des Kraftwerks (bis Ende Juli 2023 Block 5, seitdem Block 4) im „heiß-unterkritischen“ Betrieb gehalten wird, kommen auch noch die Sperrwasser- und Ölkühler von Hauptkühlmittelpumpen und Speisewasserpumpen zum Kühlbedarf hinzu.

[65] Zur Unterscheidung: die „Hauptwärmesenke“ eines Reaktorblocks im Leistungsbetrieb ist der Turbinenkondensator. Dieser wird in Zaporižžja mit Kühlwasser aus dem kraftwerkseigenen Kühlteich versorgt. Der Kühlteich ist die „primäre Wärmesenke“ der Anlage, wo die über mehrere Stufen organisierte Kühlkette des Kraftwerks endet. Zusätzlich gibt es noch „diversitäre“ Wärmesenken, z.B. die Kühlwasserversorgung aus Tiefbrunnen. Literatur zu Verfahren und Terminologie vgl. Sicherheitstechnische Regel des KTA, KTA 3301, Nachwärmeabfuhrsysteme von Leichtwasserreaktoren, Fassung 2015-11, <https://www.kta-gs.de/d/regeln/3300/3301_r_2015_11.pdf>.

[66] Über die technischen Daten und Zustände informiert das IAEA-Krisenzentrum täglich, <www.iaea.org/nuclear-safety-and-security-in-ukraine>. – Den Füllstand des Kühlteichs veröffentlicht Enerhoatom täglich via Telegram, z.B. 8.8.2023, Füllstand Kühlteich 16,22 m, d.h. ca. 20 cm weniger als Anfang Juni 2023; Füllstand Einlauf- und Auslaufkanal ZaTES 10,82 m bzw. 17,10 m: Riven’ vody u stavku-ocholodžuvači ZAES – stabil’nyj. Enerhoatom via Telegram, 8.8.2023, <https://t.me/energoatom_ua/14279>. – Zu den Wärmesenken (Tiefbrunnen, Feuerlöschsystem u.a.) ENSREG, Ukraine Peer Review [Fn. 14], S. 10–11 und 18 sowie Fn. 65.

[67] Vološko, Kolaboracionizm [Fn. 26].

[68] D. Sornette, T. Maillart, W. Kröger: Exploring the limits of safety analysis in complex technological systems. International Journal of Disaster Risk Reduction. December 2013, S. 59–66. – Spencer Wheatley, Benjamin Sovacool, Didier Sornette: Of Disasters and Dragon Kings: A Statistical Analysis of Nuclear Power Incidents and Accidents. Risk Analysis, 1/2017, S. 99–115.

[69] A. Kause, u.a.: Confidence levels and likelihood terms in IPCC reports: a survey of experts from different scientific disciplines. Climatic Change, 1–2/2022 <https://doi.org/10.1007/s10584-022-03382-3>. Die Wahrscheinlichkeitsskala der IPPC-Berichte ordnet Szenarien so: 99–100% virtually certain, 90–100% very likely, 66–100% likely, 33–66% about as likely as not, 0–33% very unlikely, 0–1% exceptionally unlikely.

[70] Das geht aus dem Revisionsplan für die ukrainischen KKW 2021/2022 hervor: Enerhoatom, Operatyvnyj hrafik ekspluataciji enerhoblokiv u 2021 roci, 4.10.2021, in: Jaroslav Markin: Boris Kostjukovskij o situacii v ėnergetike: My sliškom mnogo raz prochodili po grani. Kosatka Media, 5.11.2021, <https://kosatka.media/ru/category/blog/news/boris-kostyukovskiy-o-situacii-v-energetike-my-slishkom-mnogo-raz-prohodili-po-grani>.

[71] IAEA seeks wider access for Zaporizhzhia inspections. World Nuclear News, 5.7.2023, <www.world-nuclear-news.org/Articles/IAEA-seek-wider-access-for%C2%A0Zaporizhzhia-inspection>.

[72] Vološko, Kolaboracionizm [Fn. 26]. – Siehe auch die Sendungen des russischen Besatzersenders „Radio Energodar“, die über den russischen Telegram-Kanal des Kraftwerks verbreitet werden: so z.B. 6.7.2023, <https://t.me/znppofficial/388>.

[73] Ukraine’s secret attempt to retake the Zaporizhzhia nuclear plant. The Times, 7.4.2023.

[74] Müllner, Consequences [Fn. 62], Folie 21. Die Spreizung ergibt sich aus den unterschiedlichen Abschaltzeitpunkten der Blöcke zwischen März und September 2022.

[75] Die thermische Leistung eines VVĖR-1000 in Volllast beträgt 3000 MW(th). Die Nachwärmeleistung hängt von der Leistung vor der Reaktorabschaltung und von der Betriebsdauer vor der Abschaltung ab. Bei einem Reaktor, der ein Jahr in Betrieb war, sind 100 Sekunden nach Reaktorabschaltung noch 3,5 Prozent der Ausgangswärmeleistung vorhanden, nach einem Monat 0,1%, nach einem Jahr 0,05%. Da die zuletzt abgeschalteten Reaktoren in Zaporižžja zum Zeitpunkt der Abschaltung aber kürzer in Betrieb waren und andere schon länger abgeschaltet sind als 11-12 Monate, kann konservativ angenommen werden, dass pro Reaktorkern maximal 1500 kW Nachwärmeleistung abzuführen sind. Lederer, Reaktorhandbuch, [Fn. 48], S. 23. Rechnungen, die den Abbrand (die produzierte Energiemenge pro Tonne Schwermetall) berücksichtigen, geben für durchschnittlich 35 (40) GWd/t Uran eines (aus frischen und älteren Brennelementen und aus unterschiedlich angereicherten Brennelementen zusammengesetzten) Reaktorkerns 12(15) kW/t Nachwärmeleistung an: Brian C. Aide, Ian C. Gauld: Decay Heat Calculations for PWR and BWR Assemblies Fueled with Uranium and Plutonium Mixed Oxide Fuel Using Scale. Oak Ridge National Laboratory ORNL/TM-2011/290, September 2011, S. 11–12, Fig. 5, 6. Das ergibt für einen VVĖR-Reaktorkern 800 (990) kW, zugrunde gelegt werden 66 Tonnen Uran im VVĖR-1000-Kern nach Semenov, Fiziko-techničeskie charakteristiki, [Fn. 23], Tab. 1, Zeile 22, Spalte 7. Andere Angaben liegen darunter (10,5 kW/t Uran nach einem Jahr im VVĖR mit 40 GWd/t U. A.M. Petrovskiy et al.: Investigation of 244Cm dynamics production in a WWER-1200 reactor for fuel based on 235U and MOX fuel. Eurasian journal of physics and functional materials, 1/2020, S. 6–12, Fig. 5. Die GRS gibt für einen kalt-unterkritischen Reaktor als Karenzzeit Stand 11.8.2023 mehrere Tage an, für einen heiß-unterkritischen einen Tag, vgl. GRS, FAQ KKW Saporischschja [Fn. 36].

[76] Als Orientierung für eine konservative Schätzung kann das Schicksal des Brennelementbeckens von Fukushima Daiichi-4 dienen, in dem infolge der zum Zeitpunkt des Eintritts des Station Blackout laufenden Revision ein frisch ausgeladener Reaktorkern neben älteren Brennelementen lagerte, insgesamt 1535 Brennelemente. Dort kam es binnen 61 Stunden zu einer Erhöhung der Beckentemperatur auf über 80 Grad Celsius, ab dem 10. Unfalltag wurde die Beckenkühlung mit externen Mitteln hergestellt, die Brennelemente blieben nach Literaturlage „nearly undamaged“. Der Wasserstand im Becken dürfte zur Bedeckung der Brennelemente also ausgereicht haben. In den anderen Blöcken war die Nachzerfallsleistung im Becken wegen der vier bis sechs Monate zurückliegenden Revision geringer, aber hier sorgten herabfallende Trümmer der Wasserstoffexplosionen vermutlich für Brennelementbeschädigungen. Ihr Anteil an der Freisetzung ist schwer zu beziffern. Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI): Ereignisabläufe Fukushima Daiichi und Daini infolge des Tohoku-Chihou-Taiheiyou-Oki Erdbebens, 11.3.2011. Brugg 2011, S. 23, S. 28–29 und 30–33. Einen Literaturbericht bieten Jochen Fröhlich, Frank Rüdiger, Tobias Hanisch: Schlussbericht Verbundprojekt: Sicherheit der Nasslager für abgebrannte Brennelemente: Experimentelle Analyse, Modellbildung und Validierung für System- und CFD-Codes, Teilprojekt: Simulation von Strömung und Wärmetransport in Brennelementen unter den Bedingungen eines Lagerbeckens. TU Dresden 2019, <https://edocs.tib.eu/files/e01fb20/1702961451.pdf>.

[77] Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI): Analyse Fukushima 2011. Vertiefende Analyse des Unfalls in Fukushima am 11. März 2011 unter besonderer Berücksichtigung der menschlichen und organisatorischen Faktoren. Brugg 2011. – ENSI: Fukushima Daiichi. Menschliche und organisatorische Faktoren. Teil 2: Der Ablauf aus Sicht der beteiligten Menschen vor Ort. Brugg 2018.

[78] UN Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation (UNSCEAR): Sources, Effects and Risks of Ionizing Radiation. Report 2013, Annex A: Levels and effects of radiation exposure due to the nuclear accident after the 2011 great east-Japan earthquake and tsunami. New York 2014, <www.unscear.org/docs/publications/2013/UNSCEAR _2013_Report_Vol.I.pdf>, S. 84–90. Die Schlussfolgerung lautet: „No radiation-related deaths or acute diseases have been observed among the workers and general public exposed to radiation from the accident … no discernible increased incidence of radiation-related health effects are expected among exposed members of the public or their descendants.“

[79] Zu den radiologischen Folgen von Fukushima: GRS: Fukushima Daiichi. Unfallablauf – Radiologische Folgen. Köln 52016, <www.grs.de/sites/default/files/publications/grs-s-56.pdf>, S. 39-69, INES-Skala: 30. INES 4 bedeutet „Accident with local consequences“ und Brennelementschäden an >0,1 % des Reaktorinventars, INES 5 käme einem Schaden ähnlich dem bei der Kernschmelze von Three Mile Island-2 1979 gleich, bei der es allerdings nur geringe Freisetzung gab, weil das Containment hielt.

[80] Iod-131 hat eine Halbwertszeit von acht Tagen, so dass nun in den Zaporižžja-Brennelementen nur noch ein winziger, zu vernachlässigender Bruchteil der Menge nach Reaktorabschaltung vorhanden ist. Bundesamt für Strahlenschutz: BfS verfolgt Lage in der Ukraine, <www.bfs.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/BfS/DE/2022/0225-ukraine.html>. – Die American Nuclear Society sieht wegen der langen Karenzzeiten kein hohes Freisetzungsrisiko. Statement from the American Nuclear Society on Ukraine’s occupied Zaporizhzhia nuclear power plant, 11.7.2023, <www.ans.org/news/article-5163/statement-from-the-american-nuclear-society-on-ukraines-occupied-zaporizhzhia-nuclear-power-plant/>. Müllner, Consequences [Fn. 62] legen – ohne dies zu begründen – eine sehr hohe Freisetzung von 20 Prozent des Reaktorinventars aus einer Leistungsbetriebssituation zugrunde, über die sie eine Wettersimulation legen. Sie schlussfolgern, dass im Freisetzungsfall eine Evakuierungszone ähnlich der in Tschernobyl errichtet werden müsse und die Landwirtschaft auch jenseits der Ukraine beeinträchtigt würde. Diese Schätzung dürfte schon wegen der Zugrundelegung einer nicht mehr zutreffenden Ausgangssituation zu hoch ausfallen, sie liegt für Caesium-137 bereits an der Untergrenze der Freisetzungsschätzung von Tschernobyl. In Tschernobyl wurden 20–40 Prozent des Cs-137-Inventars und 50–60 Prozent des I-131-Inventars freigesetzt. Nuclear Energy Agency: Chernobyl: Chapter II. The release, dispersion, deposition and behaviour of radionuclides, <www.oecd-nea.org/jcms/pl_28292/chernobyl-chapter-ii-the-release-dispersion-deposition-and-behaviour-of-radionuclides>. – Überdies ist der RBMK-Reaktorkern mit 165 t Uran viel größer als der VVĖR-1000 mit 66 t: Nikolaj Dolležal’, Igor’ Emel’janov: Kanal’nyj jadernyj ėnergetičeskij reaktor. Moskva 1980, S. 33. In Fukushima Daiichi wurden 1,2–6,6 Prozent des Reaktorinventars an Cs-137 und 1,1–7,9 Prozent des Inventars an I-131 freigesetzt, die Besonderheit war hier eine hohe wassergetragene Freisetzung in den Ozean von 16 Prozent des Cs-137-Inventars, weil ein Überlaufen der provisorischen Meerwasser-Kühlung zu hohen Abflüssen ins Meer führte. Yan-Hyun Koo et al.: Radioactivity release from the Fukushima accident and its consequences: A review. Progress in Nuclear Energy July 2014, S. 61–70.

[81] Zwei Besatzungssoldaten verschafften sich mit entwendeten Werksausweisen Zugang zum Kontrollbereich des Blocks 2, ohne die vorgeschriebene Kontrollbereichs-Kleidung anzulegen: Novi vykradennja, zachoplennja jidal’ni ta pidvalu UTC, vtorhnennja v radiacijnu zonu. „Enerhoatom“. Infoatom News, 19.7.2022, <https://infoatom.news/2022/07/19/ 190720221841>. Dass die Angreifer die Reaktorgebäude mieden, berichtet ein anonymer Mitarbeiter später: „[Um einen Atomunfall zu erzeugen,] dafür müssten sie im Inneren in der Nähe des Reaktors etwas sprengen und die Ausrüstung beschädigen. Ob sie wirklich so weit gehen würden? In den Reaktorgebäuden sind sie jedenfalls nicht“: Okupanty možut’ realizuvaty rizni scenariji z teraktom na ZAES. Enerhoatom via Telegram, 7.7.2023, <https://t.me/energodar_ukr/5429>.

[82] Diese Einschätzung kommt auch von dem bereits zitierten anonymen Mitarbeiter des KKW, „Okupanty možut‘ realizuvaty rizni scenariji2, Enerhoatom via Telegram, 7.7.2023, <https://t.me/energodar_ukr/5429>.

[83] Putin am 7.12.2022 vor Russlands Menschenrechtsrat, <www.president-sovet.ru/presscenter/news/ stenogramma_vstrechi_prezidenta_rf_s_chlenami_spch_obnovlyaetsya/>. – Szenarien für den nuklearen Ernstfall: FAZ online, 25.9.2022. – Medwedew droht mit der Atombombe. Spiegel-Online, 26.3.2023. – Sergej Karaganov: „Eine schwere aber unerlässliche Entscheidung. Der Einsatz von Atomwaffen kann die Menschheit vor einer globalen Katastrophe bewahren“, dokumentiert in: Osteuropa, 3–4/2023, S. 175–181.

[84] Rosijany vyhadaly fejk pro „jadernu prohramu“ Ukrajiny, ščob vypravdaty vijnu. Ukrajins’ka Pravda, 6.3.2022, <www.pravda.com.ua/news/2022/03/6/7328701/>. Als „schmutzige“ Atomwaffe wird ein konventioneller Sprengsatz bezeichnet, mit dessen Hilfe ein in der Waffe eingebautes Inventar mit hochradioaktiven Stoffen ausgebracht wird.

[85] Ukraine war: Putin confirms first nuclear weapons moved to Belarus. BBC, 17.6.2023, <www.bbc.com/news/world-europe-65932700>.

[86] Ukrainian President Volodymyr Zelensky warned in a video message that an explosion at the six-reactor, 5,700-megawatt Zaporizhzhia plant could spell the „end of Europe“. Russian forces seize Ukrainian nuclear power plant after shelling sets it on fire. Washington Post, 4.3.2022. – Selenskyj warnt vor Atomkatastrophe. Tagesschau, 9.8.2022.

[87] Veronika Melkozerova: Ukraine warns of nuclear disaster as Russia orders staff to leave power plant. Politico, 3.7.2023, <www.politico.eu/article/ukraine-warn-disaster-russia-zaporizhzhia-nuclear-power-plant/>.

[88] „Accidents can happen at European nuclear plants too“, Russian ex-president Says. Reuters, 12.8.2022, <www.reuters.com/world/europe/accidents-can-happen-european-nuclear-plants-too-russian-ex-president-says-2022-08-12/>.

[89] Angriffe auf das Atomkraftwerk Saporischschja: Schießen die Ukrainer? Berliner Zeitung, 29.8.2022

[90] Deutsche Umwelthilfe: 12 Jahre Fukushima und akute Gefahren in Saporischschja: Deutsche Umwelthilfe bekräftigt Richtigkeit des Atomausstiegs, 8.3.2023, <www.duh.de/presse/ pressemitteilungen/pressemitteilung/12-jahre-fukushima-und-akute-gefahren-in-saporischschja-deutsche-umwelthilfe-bekraeftigt-richtigkeit/>. – Anna Stender: Ein Jahr AKW im Krieg. ausgestrahlt, 9.3.2023, <www.ausgestrahlt.de/blog/2023/03/09/ein-jahr-akw-im-krieg/>. – Greenpeace: Ukraine-Krieg: Bedrohliche Lage für dortige Atomkraftwerke, 23.6.2023, <www.greenpeace.de/frieden/atomkraftwerke-ukraine-krieg>.

[91] Anna Veronika Wendland: Zaporižžja als Symbol. Russland attackiert die ukrainische Sowjetmoderne, in: Osteuropa, 6–8/2022, S. 135–150.

[92] Wendland, Nuclearizing Ukraine [Fn. 17], S. 335–367.

[93] Jane I. Dawson: Eco-nationalism. Anti-nuclear activism and national identity in Russia, Lithuania, and Ukraine. Durham 1996.

[94] Anna Veronika Wendland: Zur Gegenwart der Geschichte im russisch-ukrainischen Krieg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 28–29/2022, S. 28–34.

[95] Galyna Spodarets: Natur als Waffe: Dnipro – von der Industrialisierung zum Ökozid, in: Religion und Gesellschaft in Ost und West, 7–8/2023, S. 3–7.

[96] Jak ukrajins’ka enerhetyčna systema ostatočno vidrizalasja vid RF ta Bilorusi. Ukrajins’ka Pravda, 1.3.2022, <www.eurointegration.com.ua/news/2022/03/1/7135009/>.