„Das Moskauer Terrorsyndikat erfindet ‚Volksfeinde‘“
Johannes Rohr über die Einstufung von 55 Organisationen als „extremistisch“
Russlands Verfassungsgericht hat auf Antrag des Justizministeriums am 7. Juni 2024 eine „Antirussländische separatistische Bewegung“ als „extremistisch“ eingestuft. Ende Juli hat das Ministerium eine Liste von 55 Organisationen veröffentlicht, die Mitglieder dieser „Bewegung“ seien und daher nun als „extremistisch“ geführt werden. Eine davon ist die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde. Die Einstufung ist in Zusammenhang mit dem Band „Die Völker Russlands“ der Zeitschrift Osteuropa zu sehen. Sie bildet die Grundlage für strafrechtliche Verfolgung und ist ein weiterer Angriff des immer repressiver agierenden Moskauer Regimes auf die Freiheit der Wissenschaft. Eigentliches Ziel der Repression sind jedoch Organisationen der Völker Russlands.
Osteuropa: Herr Rohr, Russlands Justizministerium hat eine Liste mit 55 Organisationen veröffentlicht, die Mitglieder einer angeblichen „Antirussländischen separatistischen Bewegung“ seien und diese als „extremistisch“ eingestuft. Eine davon ist die DGO, was ist zu den übrigen Organisationen zu sagen?
Johannes Rohr: Die meisten Organisationen auf der Liste der „Mitglieder“ der fiktiven „Antirussländischen Bewegung“ wurden von Vertretern aus einem der über 100 Völker Russlands gegründet. Ihre Einstufung als „extremistisch“ ist eine drastische Eskalation. Die Kategorie „extremistisch“ liegt in der russländischen „Rechts“-Sprache sehr nahe bei „terroristisch“. Rosfinmonitoring führt ein „Register der Terroristen und Extremisten“ (perečen’ terroristov i ėkstremistov“), in dem gleichermaßen Memorial und Hamas verzeichnet sind. Anders als bei der Einstufung als „ausländischer Agent“ oder „unerwünschte Organisation“ geht es hier unmittelbar um einen Straftatbestand. Und wer aufgrund noch so absurder Anschuldigungen in die Fänge der „Justiz“ geraten ist, hat nahezu keine Chance, ihr ohne Schuldspruch wieder zu entkommen. Freisprüche sind praktisch unmöglich, sie werden als Versagen gewertet. Wagt es ein Richter, dem Untersuchungskomitee mit einem Freispruch solches zu bescheinigen, wird er, wie im Fall Jurij Dmitriev, ausgetauscht und der Prozess wird neu aufgerollt. Und „Extremisten“ verbringen die Zeit bis zum Urteil, es können bis zu zwei Jahren oder mehr sein, selbstverständlich hinter Gittern.
Osteuropa: Lässt sich ein Ordnungsprinzip auf der Liste erkennen?
Johannes Rohr: Alphabetisch ist die Liste nicht geordnet und ein anderes Ordnungsprinzip ist nicht erkennbar. Auf den Plätzen 1 und 2 stehen zwei Organisationen, die indigene kleine Völker des Nordens vertreten: Aborigen Forum und das Komitee der indigenen Völker. Dies zeigt, wie absurd die Liste ist. Beide haben eine äußerst gemäßigte Agenda. Es geht um den Erhalt der Lebensgrundlagen und der Kultur dieser Völker. Also um solche Dinge wie Fisch- und Jagdrechte, Anpassung an den im Hohen Norden besonders starken Klimawandel und andere Dinge, die die naturnahe Lebensweise der Völker des Nordens betreffen. Die kleinen indigenen Völker Russlands zählen teilweise nur noch Hunderte oder sogar nur wenige Dutzende Menschen. In ihren Heimatregionen – etwa in Jakutien oder Burjatien ‑ sind die meisten kleine Minderheiten. Die Vorstellung, sie könnten separatistische Bestrebungen haben, ist aberwitzig. Niemand träumt von einem unabhängigen Čukotka oder einer staatlichen Einheit der Sámi Russlands und Skandinaviens oder einer unabhängigen Nenzen-Republik. Es ist alles andere als unwahrscheinlich, dass die Reihenfolge wie die gesamte Liste einfach Ausdruck totaler bürokratischer Willkür ist. Andere Organisationen auf der Liste streben tatsächlich unabhängige staatliche Gemeinwesen an, etwa die Free Buryatia Foundation oder die Bewegung für die Unabhängigkeit von Sacha. Aber auch dies ist – das muss man unterstreichen – ein legitimes Ziel. Davon abgesehen sind auch diese Organisationen politisch marginal.
Osteuropa: Wenn man von den konkreten Organisationen absieht, in welchem größeren Zusammenhang ist die Liste zu sehen?
Johannes Rohr: Möglicherweise spielt es eine Rolle, dass Russland der Arktis eine strategische und ökonomische Bedeutung beimisst. Oder dass die kleinen Völker des Nordens international als indigene Völker und somit als Träger von Kollektivrechten, insbesondere des Rechts auf Selbstbestimmung, in Erscheinung getreten sind. In jedem Fall ist der Vorgang ein Grund zu großer Sorge. Zustandegekommen ist die Liste vermutlich auf die übliche Art und Weise: Von oben kommt der Auftrag, eine bestimmte Anzahl von „Volksfeinden“ zu identifizieren. Vermutlich waren es hier 50, und da in Russland eine Übererfüllung der Quote so selbstverständlich erwartet wird, wie in den USA das Trinkgeld, wurden zehn Prozent draufgeschlagen. Leider hat dieser Wahnsinn reale Opfer, sonst könnte man einfach darüber lachen.
Das Adjektiv „orwellianisch“ gehört zu den am stärksten übernutzten Worten nicht nur der deutschen Sprache, doch selten war es so passend wie hier. Wenn das Terrorsyndikat „russländische Regierung“ zivilgesellschaftliche Organisationen, die für elementare Freiheiten und Menschenrechte eintreten, zu „Extremisten“ und „Terroristen“ erklärt, zeigt es damit, dass es die Macht hat, die Bedeutung von Sprache auf den Kopf zu stellen. Jeder weiß, dass sie lügen, sie selbst wissen, dass es alle wissen, aber gleichzeitig wissen sie, dass fast niemand es wagen wird, öffentlich auszusprechen, was doch für alle schon offenbar ist. Die Frage ist – wie lange kann ein solches Regime stabil bleiben?
Osteuropa: Was ist zu der Klassifikation als „Bewegung“ im allgemeinen und als „antirussländische separatistische Bewegung“ zu sagen?
Johannes Rohr: Von einer „Bewegung“ mit gemeinsamen Zielen, die große wie kleine Ethnien vereint, kann nicht die Rede sein. Die indigenen kleinen Völker haben in den vergangenen 30 Jahren fast immer Distanz zu den „großen“ Ethnien wie den Jakuten oder Burjaten gehalten. Das ändert sich, wenn überhaupt, erst sehr langsam.
Antirussländisch? Russland bringt es fertig, gleichzeitig Genozid am Nachbarvolk zu begehen und sich selbst als Opfer zu präsentieren. Ich glaube, es war Hannah Arendt, die festgestellt hat, dass die schlimmsten Verbrechen dann geschehen, wenn der Täter sich selbst für das Opfer hält. Mit Begriffen wie „antirussländisch“ oder „Russophobie“ soll suggeriert werden, dass diese Gruppen von einem rassistischen Hass auf alles Russische getrieben würden, analog zum Antisemitismus. Auf diese Weise soll die Frage nach einer Kollektivverantwortung der Menschen in Russland für vergangene und gegenwärtige Verbrechen verdrängt und tabuisiert werden.
Anders als andere (ehemalige) Kolonialreiche, die sich mittlerweile zumindest verbal zu ihrer historischen Schuld bekennen, wird diese in Russland immer noch brüsk zurückgewiesen. Dieser Faktor trägt dazu bei, dass Russland derzeit Kriegsverbrechen begeht, wie sie Europa seit dem 2. Weltkrieg nur in den jugoslawischen Zerfallskriegen gesehen hat. Die meisten anderen Kolonialreiche sind mittlerweile zerfallen, und niemand käme mehr auf die Idee, dass etwa Algerien unveräußerlicher Bestandteil des französischen Mutterlandes sei, was einst französische Staatsdoktrin war. Andere postkoloniale Gebilde wie Kanada und Brasilien existieren weiter und die Situation indigener Gemeinschaften in diesen Ländern ist alles andere als optimal, trotzdem erkennen die jeweiligen Staaten deren Rechte zumindest formal an, statt die Forderung nach Selbstbestimmung mit Extremismus gleichzusetzen.
Osteuropa: Was bedeutet die Einstufung für die Tätigkeit der Organisationen – und für die Personen, die sich noch in Russland befinden?
Johannes Rohr: Über einzelne Personen kann ich natürlich nichts sagen. Jeder muss das eigene Risiko selbst einschätzen. Für Angehörige indigener Völker ist die Auswanderung ohne die Aussicht, jemals wieder zurückzukehren, ein noch viel einschneidenderer Schritt als für Menschen, deren Leben sich vollständig in den Bahnen der weltweit vergleichsweise einförmigen urbanen Zivilisation abspielt. Es bedeutet, das Land zu verlassen, in dem die Vorfahren begraben sind, wo sich eine ureigene Welterfahrung und Lebensweise entwickelt hat. Es bedeutet, die eigene marginalisierte Gemeinschaft arktischer Fischer, Jäger oder Rentierzüchter im Stich zu lassen, ganz konkret: Menschen zurückzulassen, die weiter in Russland leben werden und weiter den Angriffen durch Rohstoffkonzerne und einen kriminellen Regierungsapparat ausgesetzt sind. Wenn die wenigen Verteidiger, die diese Gemeinschaften haben, die Region und das Land verlassen, dann stellt dies eine existenzielle Bedrohung für sie dar. Daher fällt die Entscheidung zur Emigration selbst dann schwer, wenn man sich in größter Gefahr befindet.
Osteuropa: Was sollen die westlichen Staaten zur Unterstützung dieser gefährdeten Personen tun?
Johannes Rohr: Diese Personen müssen rechtzeitig mit humanitären Visa ausgestattet werden, so dass sie, wenn sie die Entscheidung zur Flucht treffen, das Land auch schnell und mit einem sicheren Ziel verlassen können. Nicht immer ist die Ausstellung solcher Visa noch in Russland möglich, manchmal vielleicht auch zu gefährlich. Gerade weil es sich um Menschen handelt, die in entfernten Landesteilen leben. Daher müssen verfolgte Personen humanitäre Visa auch in den Nachbarländern Russlands, die als erste Anlaufstation nach einer Flucht dienen, ausgestellt werden. Also etwa in Kasachstan. Deutschland steht hier in einer besonderen Pflicht.
Osteuropa: Gibt es bereits Reaktionen von einigen der Organisationen?
Johannes Rohr: Ja, natürlich. Das internationale Komitee der Indigenen Völker Russlands, das sich ‑ wie der Name andeutet ‑, im Exil befindet, sammelt bereits Unterschriften für einen offenen Brief an UN-Generalsekretär Guterres. Auch die Batani Foundation von Pavel Sulyandziga, einem der Veteranen der Indigenen-Bewegung in Russland, hat scharf reagiert. Ich fürchte aber, dass diese Stellungnahmen kein weites Gehör finden.
Osteuropa: Wie fügt sich diese Entscheidung in den allgemeinen Umgang des russländischen Staats mit den indigenen Völkern?
Johannes Rohr: In den letzten Jahren ist zu beobachten, dass der Staat mehr und mehr von dem aus der Nationalitätenpolitik der frühen Sowjetunion herrührenden Gesellschaftsvertrag abrückt, in dem Russland als polyethnisches Gebilde verstanden wurde. Die nichtrussischen Ethnien hatten zwar in diesem Gebilde weniger Rechte und keine Selbstbestimmung. Aber ihre Existenz war immerhin anerkannt und stand nicht wirklich zur Debatte. Nun wird der auf den polyethnischen Staat bezogene Begriff „rossijskij“ (russländisch) zunehmend durch den ethnischen Begriff „russkij“ (russisch) ersetzt. Es spricht vieles dafür, dass Russland mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht zuletzt auch das Ziel verfolgt, den slawischen Bevölkerungsanteil zu heben. Für Putin sind die Ukrainer und Ukrainerinnen bekanntlich „Russen“… Der Krieg beschleunigt die Transformation Russlands in eine Art offenen Apartheidsstaat. Diese Formulierung ist zwar noch hyperbolisch, aber nicht sehr.
Osteuropa: Das Thema hat eine internationale Dimension. Russland präsentiert sich als Schutzmacht unterdrückter Völker, als Vorreiter der postkolonialen Bewegung. Der Eroberungskrieg gegen die Ukraine offenbart natürlich, dass dies ein Hohn ist. Aber die fortschreitende Zerstörung der Lebensgrundlage indigener Völker und die zunehmenden politischen Repressionen, die jetzt in der Einstufung der entsprechenden Organisationen als „extremistisch“ gipfeln – das muss doch zum Beispiel in den mit den Rechten der indigenen Völker beschäftigten Gremien der Vereinten Nationen gesehen werden und zu einer Reaktion führen?
Johannes Rohr: Der Apparat der Vereinten Nationen steht leider in einem erheblichen Maße unter dem Einfluss Russlands . Es gibt einen sogenannten Expertenmechanismus der Vereinten Nationen für Rechte indigener Völker (EMRIP). Einmal im Jahr findet in Genf ein Treffen dieser Experten statt, das jüngste im Juli 2024. Es ist kaum zu fassen, aber Russland wird in diesem Gremium nicht nur nach wie vor wie ein normaler Staat behandelt. Moskau übt dort sogar einen über das reale Gewicht des Landes weit hinausgehenden Einfluss aus. Nicht wenige indigene Mandatsträger lassen sich das einfach gefallen. Es ist einfach nur grotesk und surreal, wie Russland sich dort aufführt. Moskau verlangt offen, dass nur in Russland registrierte Organisationen Vertreter der indigenen Völker Russlands zu den Vereinten Nationen entsenden dürfen, sprich, Organisationen, die aufgrund der Unterdrückung und Verfolgung ins Ausland fliehen mussten, sollen dort nicht auftreten dürfen. Vertretern des Volks der Schoren, die im schwedischen Exil leben, warf der Vertreter Russlands ohne Ironie vor, zu einer „Kolonialmacht“ geflohen zu sein.
Besorgniserregend ist, dass internationale indigene Organisation dieses Verhalten kaum noch kritisieren. Bis heute gibt es keine Stellungnahme des Sámi Council oder der Inuit Circumpolar Conference, in dem diese den Angriffskrieg gegen die Ukraine verurteilen. Beide Organisationen haben ihr Bedauern über das Einfrieren der Tätigkeit des Arktischen Rates ausgedrückt, aber mit keinem Wort die Ursache erwähnt. Russland bezahlt regelmäßig regierungshörigen Indigenen ‑ sogenannten GoNGOs – government organized NGOs – Flüge nach Genf und New York, wo diese dann der Welt erklären, in welchem Paradies die indigenen Völker in Russland leben. Obwohl Russland die Mitgliedschaft im UN-Menschenrechtsrat eingebüßt hat, schafft es Moskau immer noch, regierungshörige Indigene auf UN-Posten zu hieven, etwa das derzeitige EMRIP-Mitglied Antonina Gorbunova. Diese steht glaubwürdigen Indizien zufolge auf der Gehaltsliste des Bergbaukonzerns Norilsk Nickel.
Osteuropa: Bis auf welche Ebene geht das?
Johannes Rohr: Leider sind auch führende internationale UN-Mandatsträger für Rechte indigener Völker erschreckend distanzlos gegenüber dem Moskauer Terrorregime. Russland ist nicht der einzige Staat, der regierungshörige Indigene zu diesen Gremien einfliegt, wenn auch der krasseste Fall. Bolivien etwa, das mittlerweile wohl auch zum Moskauer Lager gehört, tut Ähnliches. Dass dies aber von anderen Anwesenden unkommentiert hingenommen wird, ist äußerst desillusionierend. Die eigentlichen Strippenzieher sind jedoch nicht die Indigenen, die an diesen Gremien teilnehmen, sondern der UN-Apparat im Hintergrund, der den Willen der Großmächte erfüllt und z.B. in diesem Jahr mehreren Vertreterinnen aus Sacha (Jakutien) und Burjatien ohne Begründung die Teilnahme verweigert hat. Dieser Apparat ist es, der dafür sorgt, dass in offiziellen Dokumenten das Wort „Krieg“ durch das Wort „Konflikt“ ersetzt wird. Solange Russland ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats bleibt, wird sich wohl kaum etwas grundlegend ändern. Daher verstehe ich mehr und mehr die Menschen in Kyjiw, die dort die Aufschrift „United Nations“ auf Fahrzeugen der Organisation mit „Useless Nations“ übermalt haben.
Osteuropa: Wie schätzen Sie die Gefahr ein, die für Sie persönlich von dieser Einstufung ausgeht? Sie arbeiten mit einigen der aufgeführten indigenen Organisationen zusammen – und haben ja auch mehrfach zum Thema in Osteuropa geschrieben?
Johannes Rohr: Russlands Geheimpolizei hat im Jahr 2018 gegen mich ein Einreiseverbot bis zu meinem 100. Geburtstag verhängt. Aus dem Dokument, das mir der FSB in die Hand gedrückt hat, geht hervor, dass ich eine Gefahr für die nationale Sicherheit Russlands darstelle.
Seitdem ist es ein wiederkehrendes Traummotiv, dass ich mich in Moskau befinde und mir Gedanken darüber mache, wie ich unbeschadet aus dem Land komme. Zum Glück ist das nur ein Traum. Ein Gefängnis in Russland von innen zu sehen ist nicht Teil meiner Zukunftspläne. Seit ich Anfang des Jahres für einige Monate mit kriegstraumatisierten Kindern in der Ukraine arbeitete, ertappe ich mich immer wieder bei dem Gedanken, was passieren würde, wenn ich in von Russland okkupiertes Gebiet geraten würde, das vom Moskauer Verbrecherregime kurzerhand zu russländischem Staatsgebiet erklärt worden ist. Diese Gedanken steigern meine tiefe Hochachtung vor Menschen wie Vladimir Kara-Murza, Il'ja Jašin oder Oleg Orlov, die das Opfer langer Freiheitsstrafen auf sich genommen haben – im Wissen um die Gefahr für ihre Gesundheit und ihr Leben.
Dennoch mache ich mir im Wachzustand keine ernsthaften Sorgen. Das Regime hat mir faktisch ein Arbeitsverbot erteilt, ich kann die Arbeit, die ich 30 Jahre lang verfolgt habe, nicht fortsetzen. Aber das ist keine existenzielle Bedrohung. Ich hoffe, dass ich eines Tages mit meinen Freunden und Kollegen aus Sibirien am Strand der befreiten Krim auf ein neues Zeitalter anstoßen kann, in dem Menschenwürde etwas gilt. Vielleicht ist diese Freude erst der nächsten oder übernächsten Generation vergönnt, so wie Brecht, als er sich „an die Nachgeborenen“ richtete, nicht davon ausgehen konnte, dass er selbst noch erleben würde, wofür er kämpfte. Dass wir einen langen Atem brauchen, ist zwar eine Binsenweisheit, aber deshalb nicht weniger wahr.
Das Gespräch führte Volker Weichsel am 5.8.2024.
Johannes Rohr (1969), Osteuropahistoriker, Slawist, Politikwissenschaftler, Langjähriger Koordinator von Kooperationsprojekten mit indigenen Organisationen in Russland, u.a. unter dem Dach der International Work Group for Indigenous Affairs (IWGIA).