Das Volk hat die Bühne betreten

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Artur Klinaŭ über den Aufbruch der Gesellschaft in Belarus

In Belarus sind nach den Präsidentschaftswahlen die Menschen im ganzen Land auf die Straßen gegangen, um gegen die dreiste Fälschung zu protestieren. Das Regime reagierte mit äußerster Gewalt. Doch je mehr Menschen verhaftet und verprügelt wurden, desto schneller schwoll die Protestwelle an. Es zeigen sich immer mehr Risse im Staatsapparat. Der Schriftsteller Artur Klinaŭ über Ursachen, Verlauf und Folgen der Revolution.

Osteuropa: Herr Klinaŭ, Ihre Tochter gehört zu den mehreren Tausenden Menschen, die das Lukašenka-Regime in den vergangenen Tagen verhaften ließ.

Artur Klinau: Ja, sie wurde bereits vier Tage vor dem eigentlichen Wahltag verhaftet. Sie war Wahlbeobachterin in einem Wahllokal in Minsk. Die Stimmabgabe war ja bereits mehrere Tage vor dem Wahlsonntag möglich. Die Wahlkommissionen hatten Vorgaben, wie hoch die Wahlbeteiligung auszufallen hat. Die Zahl der tatsächlich vorzeitig abgegebenen Stimmen betrug nur einen Bruchteil davon. Da waren unabhängige Beobachter natürlich extrem unerwünscht. Meine Tochter wurde unter einem frei erfundenen Vorwand verhaftetet. Sie habe mit Schimpfwörtern um sich geschmissen, die Arbeit der Wahlkommission behindert, Anordnungen nicht ausgeführt und sich der Miliz widersetzt. Kurzum: das übliche Paket. Drei Tage wussten wir nicht, wo sie ist, erst am Samstag vor der Wahl wurde uns mitgeteilt, dass sie verhaftet wurde. Am gleichen Tag fand der Prozess statt: 14 Tage Haft. Danach dauerte es wieder zwei Tage, bis uns mitgeteilt wurde, wohin sie gebracht worden ist. Sie befindet sich in einem Gefängnis in Žodzina östlich von Minsk.'
Dass es keine Informationen gibt, hat auch damit zu tun, dass in den letzten Tagen so viele Menschen willkürlich verhaftet wurden, dass die Organe selbst nicht mehr damit zu Rande kommen und oft nicht wissen, wen sie wohin gebracht haben.

Osteuropa: Wer geht auf die Straßen?

Klinau: In früheren Jahren protestierte eine aktive Minderheit, heute ist es das ganze Volk. Die Menschen kommen aus allen Schichten der Gesellschaft. „Drei Prozent für Sascha“ [Aljaksandr Lukašenka] das war natürlich ein Wahlkampfspruch. Unabhängige Umfragen, die trotz der Schließung des letzten unabhängigen soziologischen Instituts im Jahr 2016 durchgeführt wurden, gaben ihm ungefähr 30 Prozent. Aber jetzt, nachdem er die friedlichen Demonstrationen mit Gewalt hat auflösen lassen, steht wirklich kaum noch jemand hinter ihm, vielleicht tatsächlich jene drei Prozent… Das sind nur noch jene, die viel zu verlieren haben. Beamte und Geschäftsleute, die in seinem System aufgestiegen und zu viel Geld gekommen sind, dazu die Mitglieder der Gewaltapparate, Richter und andere Leute, die sich an den Unterdrückung der Gesellschaft und der Manipulation beteiligt haben.

Osteuropa: Wer sind die Männer in Schwarz, mit Helmen, Schildern und Knüppeln, die in den vergangenen Tagen auf die friedlichen Demonstranten eingeschlagen haben?

Klinau: Die meisten kommen aus der Provinz. Wenn sie zu den Sondereinheiten der Miliz oder den Spezialtruppen des Innenministeriums gehen, dann ermöglicht dies ihnen einen sozialen Aufstieg. Überzeugungen spielen keine Rolle. Das System Lukašenka hatte keine Ideologie, von der man überzeugt sein konnte. Es ging ausschließlich um materielle Interessen: Hohe Löhne, Vergünstigungen, staatliche Wohnungen in Minsk, früh in die Rente. Die Repressionsapparate sind eine private Söldnertruppe Lukašenkas.

Osteuropa: Hat die Protestbewegung noch Repräsentanten?

Klinau: Bislang gibt es niemanden. Svjatlana Tichanoŭskaja hätte das Gesicht der Proteste werden können, aber sie hatte Angst, die Verantwortung für die Menschen zu übernehmen, die auf die Straßen gehen. Rein menschlich gesehen kann man das verstehen. Wer sich an die Spitze einer Revolution stellt, wird für ihre Folgen verantwortlich gemacht. Für eine Politikerin war ihre Flucht nach Litauen jedoch ein schwacher Zug. Er hat bestätigt, dass sie nur eine Übergangskandidatin war, die nicht zum Regieren angetreten ist, sondern nur um Neuwahlen zu ermöglichen, bei denen dann jene antreten können, deren Kandidatur das Regime verhindert hat.

Osteuropa: Aber sie wurde offensichtlich gezwungen…

Klinau: Natürlich wurde massiver Druck auf sie ausgeübt. Sie haben sie einfach gebrochen. Gleichwohl hat sich bestätigt, dass sie nur eine Übergangskandidatin war. Nachdem die Behörden sie beseitigt hatten und auch die Teams ihrer beiden Unterstützerinnen sich praktisch aufgelöst hatten, gingen die Proteste trotzdem weiter und schwollen immer mehr an. Die Leute hatten nicht so sehr für Tichanoŭskaja als viel mehr gegen Lukašenka gestimmt. Das Bild der Jeanne d'Arc von Minsk und der Mutter Heimat hat jedoch starke Kratzer bekommen. Ganz unabhängig davon: Siegt die Revolution des Volks auf den Straßen, muss es ohnehin Neuwahlen geben, die nach demokratischen Prinzipien ablaufen. Es wird nicht mehr möglich sein, den Beweis zu erbringen, dass Tichanoŭskaja gewonnen hat.

Osteuropa: Was unterscheidet die Situation heute von jener im Jahr 2010 und was ist unverändert?

Klinau: Eine Sache ist genau gleich, und eine komplett anders. Die Gemeinsamkeit: Bei den Wahlen damals war der wichtigste Akteur er Kreml, und das ist heute genauso. 2010 haben die Minsker Holzsoldaten die Inszenierung, die sich der schlaue Urfin im Kreml für sie zurechtgelegt hat, so perfekt umgesetzt, dass Lukašenka einige Jahre mit dem Rücken zur Wand stand. Die EU hat Sanktionen verhängt, die vorsichtigen Schritte in Richtung Demokratie wurden zurückgenommen und so weiter. Der nächste Schritt wäre die Aufgabe der Eigenstaatlichkeit gewesen. Doch mit dem Krieg in der Ukraine veränderte sich die Lage und Lukašenka konnte sich dem Würgegriff des Kreml etwas entziehen.
Bei diesen Wahlen wollte der Kreml Lukašenka endgültig unter seine volle Kontrolle bringen. Sehr vieles spricht dafür, dass der Kreml genauer: mit dem Kreml verbundene Strukturen den Wahlkampf der Gegner Lukašenkas verdeckt finanziert haben. Der Westen hat sich von der Opposition eher fern gehalten und ihren Wahlkampf nicht unterstützt.
Und doch war es der professionellste Wahlkampf, der jemals in Belarus geführt wurde. Es war zu spüren, dass viel Geld dahinter steht und dass professionelle Polittechnologen ihn organisiert haben. Dies deutet neben vielen anderen Hinweisen darauf hin, dass derjenige, der von diesem Wahlkampf profitieren sollte, der Kreml war. Es ging nicht darum, Lukašenka zu stürzen, sondern darum, das Szenario von 2010 zu wiederholen: den Staat zu Gewalt zu provozieren, damit die EU den Dialog mit Belarus abbricht und Sanktionen verhängt, kurzum: Lukašenka erneut in die Ecke zu treiben. Das ist es, was Putin braucht: einen schwachen, nachgiebigen Lukašenka, der bereit ist, Belarus mehr oder weniger offenkundig dem Kreml in die Hand zu legen.
Was jedoch dann passiert ist, macht den zentralen Unterschied zu 2010 aus. Eigentlich lief alles nach Plan. Die Marionetten aus Belarus haben den Plan sogar übererfüllt. Doch plötzlich nehmen die Ereignisse einen Verlauf, der nicht im Drehbuch vorgesehen war. Eine dritte Person betritt die Bühne: das belarussische Volk. Ein Volk, das wegen der Ereignisse der vergangenen sechs Monate wütend ist: Erst Lukašenkas Umgang mit der Pandemie und der wirtschaftliche Niedergang. Dann die fatalen Fehler des Regimes bei den Wahlen. Die Behauptung, 41 Prozent der Wahlberechtigten hätten ihre Stimme vorzeitig abgegeben und Lukašenka habe 80 Prozent erhalten das war einfach zu dreist. Und dann die nie dagewesene Gewalt gegen die Demonstranten in den Tagen danach. All dies löste eine Explosion aus. Die Dinge entwickelten sich anders, als der Kreml es geplant hatte. Jetzt hängt alles davon ab, ob die belarussische Gesellschaft genug Mut und Kraft hat, ihre Interessen durchzusetzen.

Osteuropa: Wie hatte sich die Lage für Schriftsteller, Künstler und Musiker in der vergangenen fünf Jahren entwickelt?

Klinau: Politisch gesehen gab es mehr Freiheit. Wirtschaftlich hat die unabhängige belarussische Kulturszene in den letzten fünf Jahren Tag für Tag ums Überleben gekämpft. Die internationale Öffentlichkeit hatte Belarus vergessen und viele Stiftungen haben das Land verlassen. Unabhängige Kultur ist ohne finanzielle Unterstützung nicht möglich. Und in einem autoritären Land kommt diese nicht vom Staat. Daher sind sehr viele Projekte aufgegeben worden, Künstler haben aufgegeben und sich eine Brotarbeit gesucht.
Eine positive Entwicklung gab es allerdings: Erstmals haben sich private Mäzene vorgewagt. Dort, wo privates Kapital hingeflossen ist, hat sich viel entwickelt in den vergangenen Jahren. Der wichtigste Mäzen war übrigens Viktor Babaryko, der dann zu den Präsidentschaftswahlen antreten wollte und verhaftet wurde. Die Belgazprombank, der er vorstand, hat so wichtige Projekte wie das Theaterfestival Te-art, die Kulturfabrik OK-16, die Galerie Herbstsalon und die Sammlung Pariser Schule unterstützt.
Für Schriftsteller aber blieb die Lage absolut prekär. Die Auflagen von Büchern in belarussischer Sprache sind zwar etwas gestiegen, aber finanzielle Auswirkungen hatte das keine.

Osteuropa: Gibt es Hoffnung, dass Lukašenka die Unterstützung der Gewaltapparate verlieren könnte?

Klinau: Genau das passiert gerade. Das Regime zeigt überall Risse. Selbst wenn die Revolution nicht sofort siegt, wird die Gesellschaft nicht mehr in die frühere Apathie zurückkehren. Der Umbruch wird sehr bald kommen!


Artur Klinaǔ, Schriftsteller, Künstler, Herausgeber des Magazins für zeitgenössische Kunst pARTisan. Er lebt in Minsk und im Künstlerdorf Kaptaruny. Auf deutsch sind von ihm erschienen: "Minsk. Sonnenstadt der Träume" und "Schalom".

Gespräch und Übersetzung: Volker Weichsel

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