Robert Fico mit der Bürgermeisterin von Handlová Silvia Gruberová kurz vor dem Attentat am 15.5.2024
Robert Fico mit der Bürgermeisterin von Handlová Silvia Gruberová kurz vor dem Attentat am 15.5.2024

Demokratie im Visier

Slowakei: Hana Antal über den Anschlag auf Ministerpräsident Robert Fico und die Lage danach, 21.5.2024

Das Attentat auf den slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico trifft das Land in einer stürmischen Zeit. Fico hat im Wahlkampf 2023 das Land mit populistischer Freund-Feind-Rhetorik gespalten und diese nach seinem Wahlsieg nicht gemildert. Die Parteien seiner Regierung bedienen antiwestliche Stereotype und biedern sich verbal an Russland an. In der Außenpolitik bleibt jedoch vieles Rhetorik. Anders in der Innenpolitik: Fico war auf dem Weg, ein illiberales Regime nach ungarischem Vorbild zu errichten. Es steht zu befürchten, dass die Politiker der Regierungskoalition den Anschlag nutzen, um diese Pläne nun erst recht voranzutreiben.

Osteuropa: Am 15. Mai wurde der slowakische Ministerpräsident Robert Fico niedergeschossen. Was ist über den Tathergang bekannt?

Hana Antal: Der Schütze gab in der Kleinstadt Handlová, wo Fico nach einer außerordentlichen Kabinettssitzung Menschen aus dem Ort begrüßte, aus nächster Nähe fünf Schüsse auf den Ministerpräsidenten ab. Er wurde schwerverletzt in ein Krankenhaus transportiert, nach einer mehrstündigen Operation hat sich sein Zustand stabilisiert, bleibt aber weiterhin ernst. Der Attentäter wurde unmittelbar nach den Schüssen festgenommen. Es handelt sich um den 71-jährigen Juraj Cintula aus der westslowakischen Stadt Levice. Dort hatte er einen Literaturklub gegründet und eigene Gedichte verfasst. Vor seiner Pensionierung arbeitete er als Wachmann in einem Einkaufszentrum. Die Untersuchungsbehörden sprechen davon, dass er in der Vergangenheit Kontakte zu der paramilitärischen Organisation Slovenskí branci (Slowakische Rekruten) gepflegt habe, die u.a. antiwestliche und migrantenfeindliche Propaganda verbreitet. Im Jahr 2016 habe der Attentäter versucht, eine politische Bewegung zu gründen, die sich angeblich gegen jede Form von Gewalt richten sollte.

Im Internet kursiert ein Bekennervideo, das mutmaßlich von einem Beamten des Verfassungsschutzes nach der Tat aufgenommen wurde. Es zeigt Cintula in Handschellen auf dem Flur einer Polizeistation. Er begründet seine Tat damit, dass er „mit der Politik der Regierung“ nicht einverstanden sei, und zählt alle jene Dinge auf, über die in der Slowakei seit Robert Ficos Rückkehr in das Amt des Ministerpräsidenten im Oktober 2023 gestritten wurde.

Osteuropa: Also eine politische Tat, aber von einem Einzeltäter?

Hana Antal: Danach sieht es aus.

Osteuropa: In welcher politischen Situation hat das Attentat die Slowakei getroffen?

Hana Antal: Die Stimmung ist extrem angespannt, die Gesellschaft stark politisiert und polarisiert. Dies hat damit zu tun, dass Regierungswechsel in der Slowakei in den vergangenen 30 Jahren stets fundamentale Richtungswechsel bedeuteten. Nach der Auflösung der Tschechoslowakei zum 1.1.1993 etablierte der damalige Ministerpräsident Vladimír Mečiar ein semiautoritäres System, erst als der Nationalpopulist 1998 bei Wahlen abgelöst wurde, war der Weg der Slowakei in die Europäische Union wirklich frei. Nach acht Jahren kam 2006 erneut eine populistische Regierung bei Wahlen ins Amt, nun unter Robert Fico und seiner Partei Smer. Von einer kurzen Unterbrechung zwischen 2010 und 2012 abgesehen, war Fico bis 2018 an der Macht. Populismus, also eine Feind-Freund-Rhetorik, bei der sich der Ministerpräsident als Beschützer des Volks und des kleinen Mannes präsentierte, war das zentrale Mittel zum Machterhalt. Zu Ficos Sturz führten erst massive gesellschaftliche Proteste nach dem Mord an einem jungen Journalisten und seiner Lebensgefährtin, die der Verstrickung höchster Regierungskreise mit der organisierten Kriminalität auf der Spur waren.

Und nun wieder Fico. Seine Partei Smer hat zwar nur knapp 23 Prozent der Stimmen erhalten, im stark zersplitterten slowakischen Parteiensystem wurde sie damit aber stärkste Partei. Zusammen mit ihrem Ableger Hlas – socialná demokracia (Stimme – Sozialdemokratie) kam Ficos Partei auf fast 40 Prozent und konnte eine Regierungskoalition mit der nationalpopulistischen Slovenská národná strana (Slowakische Nationalpartei, SNS) bilden. Nach den Wahlen haben Fico und andere Politiker seiner Regierung ihre Rhetorik aber nicht gemildert, sondern weiter angebliche innere und äußere Feinde gegeißelt.

Osteuropa: Welche Rolle spielt Russlands Krieg gegen die Ukraine?

Hana Antal: Eine erhebliche! Fico hat ja bereits den Wahlkampf 2023 mit der Ankündigung geführt, er werde die slowakischen Waffenlieferungen an die Ukraine einstellen. Er hat sich die Moskauer Deutung zu eigen gemacht, dass der Westen bei der Osterweiterung der NATO Russland getäuscht habe und es diesem im Krieg gegen die Ukraine um Sicherheit ginge.

Sein früherer Parteigenosse und enger Verbündeter Peter Pellegrini, dessen Partei Hlas-SD ja Regierungspartner von Fico ist, hat dergleichen im Wahlkampf vor den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2024 getan. Pellegrini bezichtigte Ivan Korčok, den zweiten aussichtsreichsten Kandidaten auf die Nachfolge von Präsidentin Zuzana Čaputová, er wolle die Slowakei in den Krieg hineinziehen. Er, Pellegrini, stünde hingegen für Frieden. Es ist die gleiche nationalpopulistische Rhetorik, wie sie in Ungarn Viktor Orbán einsetzt. Die Ängste der Menschen werden geschürt und dann genutzt, indem man sich an den Aggressor anbiedert und sich auf diese Weise zur Friedenspartei stilisiert. Dies hat verfangen, Pellegrini hat im zweiten Wahlgang gegen den Diplomaten Korčok, der Botschafter in Deutschland, bei der EU und in Washington sowie von 2020 bis 2022 Außenminister war, mit 53,1 Prozent der Stimmen gewonnen.

Osteuropa: Das verfängt also bei den Menschen?

Hana Antal: Die Umfragen sagen: ja. Bei einer Umfrage des unabhängigen Instituts GLOBSEC gaben im Jahr 2023 die Hälfte der Befragten an, die USA seien eine ähnliche Bedrohung für die Slowakei wie Russland. 33 Prozent erklärten – mehr als in Bulgarien, und Ungarn –, die Slowakei solle die NATO verlassen. 59 Prozent taten kund, die Waffenlieferungen an die Ukraine seien Kriegstreiberei und eine Provokation gegen Russland. In keinem anderen EU-Land teilte ein so hoher Anteil der Befragten diese Ansicht.

Osteuropa: Wie ist das zu erklären? Die Ukraine kämpft um nationale Unabhängigkeit – ein hohes Gut, das man auch in der Slowakei nicht verachtet …

Hana Antal: Ein positives Russlandbild ist tief im slowakischen nationalen Selbstverständnis verwurzelt. Das beginnt mit dem frühmittelalterlichen Großmährischen Reich. Dieses Herrschaftsgebilde, das wie die Kiewer Rus christlichen Einflüssen aus Byzanz unterlag, wird als Wiege der Nation gesehen. Aus der Zeit der „nationalen Wiedergeburt“ im 19. Jahrhundert ist der Panslawismus erhalten geblieben, Russland gilt als großer Bruder. Für das 20. Jahrhundert wird Russland die Befreiung vom Faschismus angerechnet. Eine wunderbare Gelegenheit um zu verdrängen, dass der erste slowakische Staat 1939 als Vasallenstaat von Hitlers Gnaden entstand. Schließlich hat Moskau nach der Niederschlagung des Prager Frühlings – der auch ein Pressburger Frühling war – die Föderalisierung der Slowakei als einziges Ergebnis des Reformkommunismus nicht zurückgenommen. Und diese war die Grundlage für die Entstehung der heutigen Slowakei nach der Wende von 1989.

Osteuropa: All dies findet man in Tschechien auch, in Ungarn gibt die Geschichte hingegen praktisch keine derartigen Anknüpfungspunkte her. Mit linearen Geschichtsbildern kommt man offenbar nicht weit.

Hana Antal: So ist es. Betrachtet man die Politik der derzeitigen Regierungen, so stehen sich Prag und Bratislava fast diametral entgegen. In Prag steht die liberalkonservative Fünf-Parteien-Koalition unter Petr Fiala fest an der Seite der Ukraine und bemüht sich aktiv um deren Unterstützung. Das gleiche gilt für den Präsidenten Petr Pavel. Aber die Mehrheiten sind knapp. Die populistischen Oppositionsparteien – die Anti-Establishment-Partei ANO von Andrej Babiš und Tomio Okamuras rechtsradikale SPD – verbreiten ähnliche Dinge wie die seit Herbst 2023 amtierende slowakische Regierung. Und Umfragen zufolge wären sie derzeit in der Lage, bei Wahlen gemeinsam eine absolute Mehrheit der Mandate zu erringen. Man erinnere sich auch an Václav Klaus und Miloš Zeman, die viele Jahre als Präsidenten des Landes mit Erfolg populistische EU-Kritik verbreiteten und als Steigbügelhalter Moskaus fungierten.

Osteuropa: Wird der populistische Brei in der Slowakei so heiß gegessen, wie er gekocht wird?

Hana Antal: In der Außenpolitik nein, in der Innenpolitik ja. Abgeordnete von Smer und SNS schmähen täglich die EU und die NATO, aber einen Rückzug aus den beiden Organisationen will außer marginalen radikalen Kräften niemand, zu groß sind die Vorteile. Und nach Ficos Ankündigung im Wahlkampf, er werde weitere Hilfen für die Ukraine stoppen, stimmte er im März 2024 in Brüssel dem EU-Vorschlag für eine Ausdehnung der Militärhilfe an die Ukraine zu. Im April 2024 beschloss die slowakische Regierung bei einem gemeinsamen Treffen mit ihren ukrainischen Amtskollegen, die Integration der Ukraine in die EU und die NATO zu unterstützen. Fico sicherte Kiew volle Unterstützung zu, verurteilte Russlands Invasion und erkannte die Zugehörigkeit der Krim und des Donbass zur Ukraine an. Besonders deutlich wird das Doppelspiel, bei dem je nach Publikum und Gelegenheit einander wiedersprechende Dinge gesagt und getan werden, beim Thema Waffen. Mit Friedensrhetorik kann man das heimische Publikum becircen und Moskau gefallen, verbale Unterstützung für die Ukraine besänftigt die alarmierten westlichen Staaten – und wenn slowakische Unternehmen aus dem Verkauf von Waffen an die Ukraine Gewinne ziehen können, so ist auch dies willkommen.

Osteuropa: Und die Innenpolitik?

Hana Antal: Die ist des Pudels Kern. Die Regierung greift Grundpfeiler der liberalen Demokratie an. Das Modell ist überall das gleiche, ob in Ungarn, gegenwärtig in Georgien oder in Polen unter der PiS-Regierung. Oft geht dies mit einer Pro-Moskau-Rhetorik einher, das polnische Beispiel zeigt aber, dass dies nicht der Fall sein muss.

Immer geht es um die Kontrolle über die Justiz und über die Medien. Die slowakische Regierung will die Sonderstaatsanwaltschaft abschaffen, die sich mit der Verstrickung von Amtsträgern in die organisierte Kriminalität befasst. Noch gibt es Widerstände, aber mit dem Ende der Amtszeit von Präsidentin Čaputová werden sie kleiner werden. Ein Schritt ist bereits getan: Im April 2024 haben die Regierungsparteien mit ihrer parlamentarischen Mehrheit den Vorsitzenden des Justizrates, Jan Mazák, abberufen. Stimmt der Verfassungsgerichtshof der vom Parlament angenommenen Justizreform zu, werden die Strafen für Korruption erheblich gesenkt.

Osteuropa: Und die Medien?

Hana Antal: Am liebsten würde die Fico-Regierung den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in einen von der Exekutive kontrollierten Kanal umwandeln. Praktisch wird mit der geplanten Gesetzesänderung Rozhlas a Televizia Slovenska aufgelöst und durch eine neue Einrichtung mit eigenem Namen und kontrolliertem Programmkonzept ersetzt. Ähnliches gilt für die Kultur. Ohne öffentliche Förderung gibt es keine lebendige Kultur. Bislang war der entsprechende Fonds der exekutiven Kontrolle entzogen. Nun will die Kulturministerin Martina Šimkovičová von der SNS den Fonds als politisches Instrument einsetzen. Nicht zufällig bedient sie sich der gleichen populistischen Rhetorik wie viele andere rechte Käfte in ganz Ostmittel- und Osteuropa. Sie hat angekündigt, LGBTQI+-Organisationen würden keine finanzielle Unterstützung mehr erhalten. Das übergeordnete Ziel sei eine „Rückkehr zur Nor­malität“. Dies alles erinnert an Ungarn – wo nach fast anderthalb Jahrzehnten autokratischer Herrschaft die Lage viel schlimmer ist. Zugleich klingt mit dem Schlag­wort von der „Normalität“ repressive Rhetorik der 1970er Jahre an, als die Kommunistische Partei ja ebenfalls von einer „Normalisierung“ sprach.

Osteuropa: Welche Folgen wird in dieser Situation das Attentat auf Fico für die politische Entwicklung in der Slowakei haben?

Hana Antal: Alle führenden slowakischen Politiker haben erklärt, die Polarisierung und die aufgeheizte Stimmung der vergangenen Monate hätten das Klima geschaffen, in dem das Attentat stattfand. Die Oppositionsparteien Progresivne Slovensko und Svoboda a Solidarita (Freiheit und Solidarität, SaS) haben die vor dem Attentat angekündigten Proteste gegen die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens RTVS abgesagt. Progresivne Slovensko hat den Wahlkampf für die Europawahlen unterbrochen und an alle Politiker appelliert, mindestens 100 Tage auf politische Angriffe und auf Polarisierung zu verzichten. PS-Chef Michal Šimečka wollte gemeinsam mit Vertretern der Re­gierungsparteien vor die Presse treten, um symbolisch die politische Versöhnung zu demonstrieren.

Osteuropa: Stehen die Zeichen auf Versöhnung?

Hana Antal: Nein, die Regierungsparteien haben das abgelehnt. Es steht zu befürchten, dass die Schüsse auf den Ministerpräsidenten keineswegs zu der allseits geforderten Mäßigung führen werden. Denn die Regierungsparteien verstehen darunter nicht, dass sie ihre polarisierende Kampagne gegen die Opposition einstellen wollen. Vielmehr leiten sie aus dem Attentat und dem Bekennervideo ab, dass die Opposition an dem Attentat indirekte oder direkte Mitschuld trage und nun die Kritik an der Regierung und die Proteste gegen sie einstellen müsse.

Es gibt eine sehr große Verschwörungsszene in der Slowakei. Nach einer Umfrage der Akademie der Wissenschaften glauben mehr als 30 Prozent der Menschen daran, dass hinter verschiedenen Ereignissen gut organisierte, einflussreiche Kräfte mit einer klaren Agenda stünden. In diesem Fall reichen die Verschwörungsmythen von der Darstellung, der Attentäter habe im Sinne der liberalen politischen Kräfte, der Oppositionspartei Pro­gresivne Slovensko oder der Präsidentin Čaputová gehandelt bis zu der Behauptung, er habe in deren Auftrag auf Fico geschossen.

Osteuropa: Also droht eine Verschärfung des innenpolitischen Klimas?

Hana Antal: Das werden wir sehen. So explizit sagen das Regierungspolitiker nicht, dass der Attentäter im Auftrag der Opposition gehandelt habe. Aber dass die Regierung das Attentat instrumentalisieren wird, um die Opposition zu schwächen und die Kontrolle über die Gesellschaft zu verschärfen, zeichnet sich bereits ab. Der stellvertretende Vorsitzende von Smer, Ľuboš Blaha, machte die „politische Opposition“ und „die liberalen Medien“, die angeblich Hass gegen Robert Fico verbreiteten, direkt für das Attentat verantwortlich. In einer Plenarsitzung des Parlaments sagte er zu den Abgeordneten der Opposition gewandt: „Dies ist eure Schuld“. Der SNS-Abgeordnete Rudolf Huliak erklärte, „die liberalen Progressiven“ und „die Journalisten“ hätten „Ficos Blut an ihren Händen“. Der SNS-Vorsitzende Andrej Danko hat von „neuen“ Beziehungen zu den Medien gesprochen und sein Parteikollege Roman Michelko, der im Parlament dem Kulturausschuss vorsitzt, will das Pressegesetz ändern.

Eine gemeinsame Pressekonferenz des Verteidigungsministers Robert Kaliňák (Smer) und des Innenministers Matúš Šutaj Eštok (Hlas) verlief in gemäßigterem Ton. Positiv ist auch eine gemeinsame Pressekonferenz der scheidenden Staatspräsidentin Zuzana Čaputová und ihres designierten Nachfolgers Pellegrini zu bewerten. Gleichwohl steht zu befürchten, dass es nicht bei den Forderungen aus den Reihen der kleinsten Regie­rungspartei bleiben wird.

Das Gespräch führte Volker Weichsel am 20.5.2024.

Hana Antal (geb. Rydza) (1992), Dr. phil., Politikwissenschaftlerin, Bratislava