„Den brudermörderischen Fleischwolf stoppen“
Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 149. Kriegswoche
Nikolaj Mitrokhin, 17.1.2025
In mehreren Städten steht die Ukraine vor der Kapitulation. Gleichzeitig zeigen Videos erhebliche Verluste der russländischen Armee an fast allen Frontabschnitten. Immer mehr von Moskaus Soldaten begeben sich in Kriegsgefangenschaft, denn die Ausrüstung von Russlands „Sturmtrupps“ wird immer schlechter. Es gibt eine neue Schätzung zu den an der Front getöteten und verwundeten Nordkoreanern. Zudem befinden sich die ersten Nordkoreaner in Kiews Gefangenschaft, was ein Fall für das Völkerrecht werden dürfte. Die Ukraine hat die bisher heftigsten Drohnenangriffe durchgeführt, bei denen offenbar zum ersten Mal Präzisionsbomben abgeworfen wurden. Auch setzt Kiew neuerdings auf Schrotflinten-Drohnen. Russland beschlagnahmt Waffen in der Bevölkerung. Deutschland liefert ein weiteres hochmodernes Kriegsgerät. Es deutet sich an, dass Teile der Kriegsbefürworter und russische Nationalisten ihre Unterstützung für Putins Krieg überdenken.
Die Lage an der Front
Der Druck auf die ukrainischen Stellungen ist hoch. Was die Gebietseroberungen betrifft, war der Vormarsch der Okkupationsarmee in der vergangenen Woche dennoch nicht so bedeutend. Er gelang vor allem in den Städten. In Torec'k wurden die ukrainischen Streitkräfte an den nordöstlichen Stadtrand gedrängt. In Časiv Jar scheinen die russländischen Truppen in den Norden der Stadt vorgedrungen zu sein. Die südliche Hälfte der Stadt und ihre südlichen Vororte wurden halb eingekesselt. In Torec’k und Časiv Jar hat die ukrainische Armee Drohnenvideos aufgenommen, die das Ausmaß der Zerstörung der Städte zeigen. Sie weisen zudem darauf hin, dass die beiden Städte wohl in spätestens einem Monat aufgegeben werden dürften. Das Video aus Časiv Jar sah überzeugend aus, jenes aus Torec’k weniger. Der zentrale und der westliche Teil von Torec‘k wurden von den ukrainischen Streitkräften in einem für die Verhältnisse dieses Krieges rasanten Tempo geräumt – in weniger als einem Monat.
In Kurachove erkennt die Ukraine den Verlust der Stadt nicht an. Sie behauptet, dass ein Teil des Industriegebiets und sogar ein Teil des Kohlekraftwerks immer noch unter ihrer Kontrolle steht. Dies war schon häufiger der Fall, ein oder zwei Monate später erkannte Kiew die Kapitulation einer Stadt dann meist an. Inzwischen zeigen bereits alle Karten einen stetigen Vormarsch der russländischen Truppen westlich der Stadt. Südwestlich von Kurachove hat sich eine weitere, wenn auch kleine „Tasche“ gebildet. Die Lage im benachbarten Velyka Novosilka einer weiteren Festungsstadt, jetzt an der östlichsten Flanke der Zaporižžja-Front – ist komplizierter. Sie ist bereits zu sechzig Prozent eingekesselt, hält aber noch stand. Höchstwahrscheinlich wird die ukrainische Armee gezwungen sein, sie innerhalb des nächsten Monats aufzugeben.
Nordöstlich von Myrnohrad rücken die Besatzer weiter vor und versuchen, die Einkreisung des Ballungsraumes Pokrovs‘k-Myrnohrad fortzusetzen. Das Dorf Vozdviženka wurde im Zuge dessen eingenommen. Südlich von Pokrovs‘k hat sich die russländische Offensive etwas verlangsamt. Einer der Gründe dafür ist die Konzentration von ukrainischen schweren Waffen in diesem Gebiet. Am 9. Januar veröffentlichte der ukrainische Militärkorrespondent Jurij Butusov ein Video von der Straße Selydove-Pokrovs‘k, auf der die Hauptoffensive die Stadt umgeht. Das Video zeigt auf einer Strecke von nicht mehr als zwei Kilometern 32 zerstörte Fahrzeuge, darunter mindestens sechs Schützenpanzer und Mannschaftstransportwagen. Es ist nicht sicher, dass sie alle der Okkupationsarmee angehörten. Sie könnten auch zuvor die ukrainischen Streitkräfte in diesem Gebiet versorgt haben.
Die ukrainischen Streitkräfte haben ernsthafte Probleme in Pokrovs‘k und Velyka Novosilka. Jurij Butusov macht dafür in erster Linie die Führung der in dieser Richtung operierenden Gruppen in Donec‘k und Chortycja verantwortlich. Er schreibt über Probleme bei der Koordinierung der Brigaden, die an der Verteidigung dieser Städte beteiligt sind. Auch fehlten Befestigungen, in denen die sich zurückziehenden Einheiten Linien besetzen und halten können. Butusov bezweifelt, dass Drohnen mit nur relativ schwacher Unterstützung durch andere Kampfmittel die Front werden halten können.
Frust der russischen Nationalisten
Videos zeigen erhebliche Verluste auf Seiten der Besatzer an fast allen Frontabschnitten .So hat das ukrainische Militär in der vergangenen Woche mehrere Aufnahmen veröffentlicht, die zeigen, wie russländische Militärangehörige aus den Reihen der „Sturmtrupps“ gefangen genommen werden. Ein Beispiel ist die Gefangennahme von 27 Männern verschiedener Einheiten am 16. Januar im Gebiet Kursk. Andere Videos, die russländische Militärangehörige für ihre Familien und Bekannten aufgenommen haben, zeigen verzweifelte Monologe. Diese Militärs erzählen von der Vernichtung von „Sturmtrupps“, von Versuchen, mit unzureichenden Waffen und ohne Artillerieunterstützung Durchbrüche zu schaffen oder auch davon, wie schwierig es ist, selbst Verwundete ins Hinterland zu bringen. Damit ließen sich auch die zunehmenden Versuche der Russen erklären, sich in Kriegsgefangenschaft zu ergeben.
Pavel Gubarev, der erste Chef der separatistischen „Regierung der Volksrepublik Donec‘k“, der seit langem selbst als Soldat kämpft, hat in der vergangenen Woche in einem Interview mit dem bei Kriegsbefürwortern beliebten Roy.TV-Publizisten Maksim Kalašnikov seiner Verzweiflung Luft gemacht: ‚Drei Jahre zermürbender Krieg, auf den wir nicht vorbereitet waren, kolossale Opfer!‘. Laut Gubarev „rostet“ die Armee im Stellungskrieg ein. Die Kämpfer würden ihre Fähigkeiten verlieren. Am bemerkenswertesten ist wohl seine Aussage, dass sich die Verluste auf mehr als 600 000 Menschen belaufen sollen. „Jeden Tag Hunderte von Toten – so können wir nicht weiter kämpfen“, sagte er weiter. Kalašnikov bewertete die Verluste des Krieges und seine demoralisierende Folgen ähnlich. Er sei schon lange der Meinung, dass es besser sei, „den brudermörderischen Fleischwolf zu stoppen“. Dies kann man so verstehen, dass die Befürworter des Krieges, die radikal anti-ukrainischen, russischen Nationalisten „genug haben“ und vielleicht sogar schockiert sind über die Ergebnisse des von ihnen entfesselten Abschlachtens. Auf der russländischen Seite gibt es weit weniger Videos von Gefangenen. Das liegt zum einen an der weit verbreiteten Praxis der Besatzer, ukrainische Soldaten, die sich ergeben haben, zu erschießen. Zum anderen sind ukrainische Stellungen oft in der Nähe von Feldern, die von Drohnen geschützt werden, was Gefangennahmen erschwert.
Die „Kriegspartei“, die Russlands Präsident Vladimir Putin und seinen ehemaligen Verteidigungsminister Sergej Šojgu für Unentschlossenheit und Inkonsequenz und später für falsche operative Entscheidungen, unzureichende Schlagkraft und schlechte Versorgung kritisiert hatte, ist kleiner und leiser geworden. Sie erlitt während des Krieges große Verluste, da viele der Kämpfer von 2014 und 2015, die die soziale Basis der Bewegung bildeten, während des Krieges getötet wurden. Dies geschah zudem oft sinnlos – wie der Tod der nun erneut von Gubarev erwähnten Drohnenpiloten „Ernst“ und „Goodwin“ zeigen. „Goodwin-Gate“ scheint ein Wendepunkt für alle radikalen russischen Nationalisten gewesen zu sein. Putin hat, so scheint es, von „rechts“ keine Kritiker mehr, die ihn für seine mangelnde Entschlossenheit, den Krieg zu beginnen, fortzusetzen oder zu intensivieren, tadeln. Die Kritik schlägt eher um in den Vorwurf, dass Putin den Krieg nicht rechtzeitig beenden konnte. Bei seinen bevorstehenden Gesprächen mit Trump (vermutlich in Vietnam) kommt ihm das entgegen. Ihm wird die Last genommen, den Zetniks, den Hardlinern, zu erklären , warum der Krieg beendet wurde, ohne seine erklärten Ziele erreicht zu haben.
Nordkoreas Militär und die Lage in der Region Kursk
Am 12. Januar veröffentlichte der nationale Nachrichtendienst Südkoreas, der mit den ukrainischen Nachrichtendiensten zusammenarbeitet, über die Agentur Yonhap eine Schätzung zu den nordkoreanischen Verlusten in der Region Kursk. Er schätzt die Zahl der Gefallenen auf dem Schlachtfeld auf 300 und die der Verwundeten auf 2700. Der ukrainische Präsident Volodymyr Zelens’kyj hatte Anfang des Jahres die Zahl der „getöteten und verwundeten“ nordkoreanischen Staatsbürger auf 4000 geschätzt. Zelens‘kyj postete auf X erstmals Aufnahmen von zwei nordkoreanischen Soldaten, die von den ukrainischen Streitkräften gefangen genommen worden waren. Die Nordkoreaner befinden sich im Luk’janivs‘ka-Gefängnis in Kiew in relativ stabilem Zustand.
Bemerkenswert ist, dass einem Video der Spezialkräfte der ukrainischen Armee (SSO) zufolge einer der Nordkoreaner direkt von russländischem Territorium aus entführt und über die Staatsgrenze gebracht wurde. Die Tatsache, dass die Nordkoreaner die ukrainische Grenze nicht freiwillig überquert haben, ist ein Fall für das Völkerrecht. Früher oder später wird dies für internationale Organisationen von Interesse sein. Außerdem widerspricht es klar den Genfer Konventionen, Videos der gefangenen Nordkoreaner zu Propagandazwecke zu nutzen. Selbstverständlich tut die Russische Föderation dasselbe, und zwar in viel größerem Maßstab. Andererseits ist die Ukraine ein Land, das in engem Kontakt mit internationalen Institutionen steht, während Russland eines ist, das sie ignoriert.
Aus den spärlichen Informationen ukrainischer und südkoreanischer Sender sowie den Aussagen russländischer Kriegsberichterstatter lässt sich Folgendes zur Lage in Kursk sagen. Nachdem der Angriffsversuch der ukrainischen Streitkräfte im östlichen Teil des „Kessels“ in Richtung Kursk gescheitert war, ging Russlands Armee Anfang Januar in die Offensive und rückte unterstützt von nordkoreanischem Personal von Osten und Westen her recht erfolgreich vor, wobei sie die Dörfer Russkoe Porečnoe und Malaja Loknja einnahm, um die drei Monaten heftig gekämpft wurde. Damit ist ein kleiner „Kessel“ im äußersten Norden der „Blase“ im Gebiet von Pogrebki entstanden. Moskaus Truppen haben auch den östlichen Rand von Sudža erreicht, indem sie auf einen Schlag etwa fünf Kilometer in das Gebiet von Machnovka vorgedrungen sind.
Das ungewöhnliche Verhältnis von Gefallenen zu Verwundeten bei den Nordkoreanern (normalerweise 1:3 und nicht 1:10) lässt sich durch ihre Taktik erklären, schnell vorzurücken und dabei Sperrfeuer und Verluste zu ignorieren. Russländische Soldaten würden durch konzentriertes Feuer auf vorrückende Gruppen oder von angreifenden Flugzeugen aufgehalten und zur Umkehr gezwungen, nordkoreanische hingegen rücken offenbar durch Feuer und Minenfelder hindurch zum gewünschten Ziel vor. Davon geht zumindest das ukrainische Militär aus. Natürlich gibt es bei Artillerie- oder Mörserbeschuss und beim Vorrücken durch Minenfelder viele Verwundete, vor allem an den Gliedmaßen. Auch ist es möglich, dass einige Soldaten Erfrierungen erlitten haben. Videos von verschiedenen Einheiten ukrainischer Spezialkräfte, die gegen die nordkoreanischen Vorstoßgruppen kämpfen, gelangen fast täglich in die ukrainischen Telegram-Kanäle, ebenso wie Kopien von Dokumenten auf Koreanisch. Aus den sichergestellten Dokumenten geht hervor, dass zumindest einige der Kämpfer als Strafe für kleinere Vergehen im Dienst in die Ukraine geschickt wurden. Laut Andrej Lan‘kov, einem bekannten Nordkorea-Experten, erhalten die Familien der Angehörigen der Soldaten jedoch eine Art Entschädigung in Form von Sonderrationen und einem kleinen Teil ihres Gehalts, das Russland an die Führung des Landes überweist.
Luftkrieg
Im Mittelpunkt des Luftkriegs standen die Angriffe am 14. und 15. Januar. In der Nacht vom 13. zum 14. Januar führte die ukrainische Luftwaffe die bisher heftigsten Drohnenangriffe durch. Mehr als 200 Drohnen der Typen PD-2, Bober, Ljutyj und UJ-22 griffen Ziele in mindestens zwölf Regionen Russlands an. Dabei handelte es sich hauptsächlich um Öl- und Gasraffinerien sowie Chemiewerke. Mindestens drei Standorte gerieten in Brand: Auf dem Gelände der Flüssiggas-Anlage von Kazan’orgsintez in Kazan‘ sollen verschiedenen Quellen zufolge ein oder zwei Tanks gebrannt haben. Das Aleksinskij-Chemiekombinat in der Region Tula fiel einem Großbrand zum Opfer. Die Saratov-Ölraffinerie in Ėngel’s erlebte einen „massiven Schlag“, wie es der Gouverneur des Gebietes Saratov ausdrückte. Die letztgenannte Anlage ist mit dem Rosrezerva-Lager Kristall verbunden. Die Saratov-Ölraffinerie stellt Treibstoff für strategische Bomber her, und Kristall lagert ihn. Bereits vor 14 Tagen wurde der Stützpunkt von ukrainischen Drohnen getroffen, woraufhin er sechs Tage lang brannte. Zwei Tanks brannten dabei vollständig aus. Diesmal wurden zwei Tanks in der Anlage beschädigt. Außerdem wurden Munitionsdepots auf dem Flugplatz für strategische Luftwaffe in Ėngel’s getroffen und gerieten in Brand.
Der Drohnenangriff war auch deshalb bemerkenswert, weil die Drohnen nach Angaben des Telegram-Kanals Nikolaevskij Vanek zum ersten Mal KAB-Präzisionsbomben und Minen abgeworfen haben. Wenn dies tatsächlich stimmt, hat die ukrainische Militärtechnologie erneut einen Sprung nach vorn gemacht. Zurzeit wird eine beträchtliche Anzahl von Drohnen, vielleicht sogar die Hälfte, durch Handfeuerwaffen, schultergestützte Boden-Luft-Flugabwehrraketensysteme (MANPADS) oder Kurzstrecken-Flugabwehrraketen-Systeme vom Typ Pancir‘ abgeschossen und durch Systeme der elektronischen Kampfführung gestört. Wenn Drohnen aber in der Lage sind, KAB aus einer Entfernung von mehreren Kilometern abzuwerfen, können die unbemannten Flugobjekte unbeschädigt zurückfliegen. So wird es für die Verteidiger fast unmöglich, die Bombe abzufangen. Sie sind viel schlechter sichtbar, sie hinterlassen keine Wärmespur und Kugeln können ihnen höchstwahrscheinlich nichts mehr anhaben. Außerdem durchdringt die Bombe, anders als eine Drohne, leicht Hindernisse wie Dächer, Netze oder Gitter. Die Effektivität erhöht sich, denn Explosionen finden so im Inneren von Zielen statt und nicht an deren Außenwänden und Dächern. So kann selbst eine kleine Bombe erheblichen Schaden anrichten. Die ukrainischen Luftstreitkräfte werden beispielsweise in der Lage sein, erfolgreich Kraftwerke oder Unternehmen des feindlichen militärisch-industriellen Komplexes anzugreifen, und nicht nur Treibstofftanks wie bisher. Darüber hinaus dürfte der Einsatz von Bomben Geld für Drohnen sparen. Da die aktuellen Modelle eine Reichweite von etwa 1200 bis 1500 Kilometern haben, haben die Drohnen, die etwa im Nordkaukasus oder in Moskau im Einsatz waren, eine Chance, zur Basis zurückzukehren.
Außerdem griffen die ukrainischen Streitkräfte in derselben Nacht mit fünf ATACMS-Raketen die Brjansker Chemiefabrik im Dorf Sel‘co bei Brjansk. Diese Fabrik stellt Raketentreibstoff her. Anwohner registrierten eine Rauchsäule, die von verschiedenen Teilen der Stadt aus sichtbar war.
In der Nacht zum 15. Januar griff Russlands Luftwaffe Ziele in der Ukraine an. Zum Einsatz kamen Langstreckenbomber des Typen Tu-95MS, Überschallbomber des Typs Tu-22M3, Abfangjäger des Typs MiG-31K und Iskander-M-Raketenabwehrsysteme. Nach ukrainischen Angaben wurden von etwa 40 Raketen 30 abgefangen, etwa 70 Drohnen seien in zwei Wellen eingesetzt worden. Der russländische Pro-Kriegssender Svarščiki schreibt über die in der Ukraine getroffenen Ziele: „Wir haben die Energiesysteme und Flugplätze des Feindes angegriffen (…) wir haben in den Regionen Charkiv, Poltava und Černihiv, in Kryvyj Rih und Čerkasy (Flughafen) gearbeitet, mit besonderem Schwerpunkt auf Kiew und der Region Kiew (Bila Cerkva, Flugplatz [in Wassilkowo]) sowie in der Westukraine. Im Zentrum von Kiew brennt ein Umspannwerk, in der Nähe von Zelens‘kyjs Büro an der Chreščatyk. Ebenfalls betroffen sind ein Wärmekraftwerk in Kryvyj Rih, eine Ölraffinerie in Kremenčuk, eine Militäranlage in Sambyr und ein Gas-Hub in Stryj in der Region L‘viv.“ Ukrainische Quellen bestätigen diese Informationen teilweise. Der Leiter der regionalen Militärverwaltung von L‘viv, Maksym Kozits‘kyj, sagte, dass zwei Anlagen der kritischen Infrastruktur in der Region getroffen wurden. Andere Quellen bestätigen Treffer auf ein Gaslager in der Region L‘viv. Laut dem Parlamentsabgeordneten Serhyj Nagornjak wurde dort Bodengerät beschädigt, die Gasspeicheranlage sei hingegen intakt.
Ziel dieses Angriffs waren nicht so sehr die Kraftwerke selbst. Es handelte sich vielmehr um den Versuch, das ukrainische Gasübertragungssystem zu zerstören, nachdem Kiew den Transit von russländischem Gas in die EU beendet hat. Auch sollten Flugplätze, auf denen sich F-16-Kampfjets befanden, die der Ukraine angeblich von westlichen Ländern überlassen worden waren, getroffen werden. Offiziell handelte es sich bei dem Angriff, wie Russlands Verteidigungsministerium mitteilte, um eine „Vergeltung“ für den Einsatz westlicher Raketen auf international anerkanntem russländischem Hoheitsgebiet und für einen Drohnenangriff auf eine Gasverdichterstation in Kuban‘, die Gas für die Turkstream-Pipeline liefert. Da Russland für den Angriff am 15. Januar jedoch nur eine relativ geringe Anzahl von Raketen eingesetzt hat, ist jederzeit damit zu rechnen, dass ein weiterer größerer Raketenangriff folgt. Zumal es weitere ukrainische Angriffe gab: So griff Kiew in der Nacht zum 16. Januar mit Drohnen weitere ein Öllager in Liski im Gebiet Woronež und die Spezialalkoholfabrik Amber Talvis in Novaja Ljada im Gebiet Tambow. In Liski wurde mindestens zwei Reservoire getroffen, an beiden Anlagen verursachten die Angriffe schwere Brände.
Neue Militärtechnik
Eine kleinere Sensation war um den Jahreswechsel das Auftauchen des nordkoreanischen Selbstfahrlafette Koksan mit einer 170-mm-Kanone, die bis zu sechzig Kilometer weit schießen kann. Dabei handelt es sich nicht um eine Neuentwicklung, das System wird seit den 1970er Jahren entwickelt und ist seit 1985 bekannt. Die Selbstfahrlafette war für die Beschießung von Seoul und andere grenznahe Gebiete Südkoreas gedacht. Ihre Wirksamkeit ist noch nicht klar, aber Koksan könnte zu einem ernsthaften Problem für ukrainische Großstädte werden, die in Schlagdistanz liegen. Bislang handelt es sich jedoch nur um etwa eine Batterie, die im Dezember auf Bahngleisen durch Russland transportiert wurde. Fotos von ihnen an der Front tauchten im Januar auf.
Und am 12. Januar teilte der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius mit, dass Deutschland der Ukraine die erste hochmoderne 155-mm-Radhaubitze RCH 155 übergeben hat. Es handelt sich um ein selbstfahrendes Artilleriegeschütz. Es wurde von dem deutsch-französischen Unternehmen KNDS entwickelt und ist in der Lage, auch während der Fahrt zu feuern. In den nächsten zwei Jahren sollen insgesamt 54 solcher Haubitzen aus dem Kasseler Werk an die Ukraine geliefert werden, die in zwei Chargen in den Jahren 2022 und 2024 bestellt wurden.
Während die großen Rüstungsbetriebe ihre Produktion nur langsam ausbauen und mindestens drei Jahre benötigen, um die von der Regierung bestellten Produkte herzustellen, geht die Modernisierung der Kleinkaliber viel schneller voran. So wurde beispielsweise festgestellt, dass Schrotflinten das wirksamste Mittel zur Bekämpfung von First-Person-View-Drohnen (FVP) sind. Es ist für Drohnen viel schwieriger, einer Bleiwolke auszuweichen als Kalašnikov-Geschossen. Die Ukrainer haben damit begonnen, ihre FVP-Drohnen mit Schrotflinten auszurüsten. So lassen sich mehrere Schüsse auf das Ziel aus nächster Nähe mit hoher Effizienz abgeben, während die Drohne unversehrt bleibt. Auch Infanterie kann so gut bekämpft werden.
Russlands Armee verfügt noch nicht über solche Drohnen. Zwar wurden die Vorteile von Schrotflinten bei der Bekämpfung von Drohnen auch dort bereits erkannt, doch es herrscht ein Mangel auch an solchen einfachen Waffen. Militärkorrespondent Aleksandr Charčenko beklagte sich: „Es gibt nicht einmal genügend Gewehre für Transport- und Evakuierungseinheiten. Manchmal gibt es in einer Gruppe nicht einmal ein Gewehr mit glattem Lauf (Anm. Red.: Glattrohrwaffen haben im Vergleich zu Waffen mit gezogenen Läufen etwa eine höhere Durchschlagskraft und sind leichter zu reinigen), dabei werden mehrere benötigt. Das führt dazu, dass die Männer ihre zivilen Gewehre an die Frontlinie mitnehmen. Das ist absurd. Ein Soldat hat sein eigenes Gewehr in der Hand, und er beschafft auch die Munition dafür auf eigene Kosten. Ja, das hängt von der Einheit ab, aber solche Fälle sind keine Einzelfälle.“ Daher sucht Russlands Militär jetzt dringend nach einer Möglichkeit, Gewehre und Schrotflinten in größerem Umfang zu beschaffen. Ein erheblicher Teil des russländischen Marktes war von westlichen Kleinwaffenherstellern beliefert worden, ehe die Lieferungen im Zuge des Krieges eingestellt wurden. Für russländische Unternehmen ist es schwierig, die Produktion auszuweiten. Daher ruht die Hoffnung auf Beschlagnahmung solcher Waffen in der Bevölkerung. Die Rede ist von „Konfiszierungen“ im Zuge von Strafverfahren, um das Strafmaß zu mildern oder aufzuheben, die von der Nationalgarde Rosgvardija vorgenommen werden, oder von Kampagnen zur freiwilligen Abgabe aus patriotischen Gründen.
Nach den Berechnungen des unabhängigen russländischen Onlinemediums Verstka vom 10. Januar verdoppelte sich nach der im Oktober 2024 in Aussicht gestellten Amnestie für die Abgabe von Waffen für die „Spezialoperation“ die Zahl der abgegebenen Waffen. Insgesamt erhielt die Rosgvardija von Mai bis Dezember 2024 mehr als 4300 persönliche Waffen aus 20 Regionen Russlands. Es ist klar, dass dies nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist, angesichts von mindestens 300 000 russländischen Militärangehörigen, die sich an der Front und im Hinterland befinden. Die Kampagne weitet sich aber aus. Der 36-jährige Gouverneur des Autonomen Kries der Jamal-Nenzen, Dmitrij Artjuchov, kündigte am 14. Januar an, sein Gewehr an die Front zu schicken. Bereits am Abend schlossen sich die Bürgermeister der Städte Salechard und Nojabrsk ihrem Gouverneur an. Insgesamt verfügte die Bevölkerung im Jahr 2018 über mindestens 4,4 Millionen Jagdwaffen. Die Reserven für die Beschlagnahme sind somit erheblich, zumal die Waffen zumeist registriert sind.
Einer der Gründe dafür, die Armee so schnell wie möglich mit Glattrohrwaffen auszurüsten, ist die Bedrohung durch ukrainische Glasfaserdrohnen. Es handelt sich um Drohnen, die teilweise an kilometerlangen Glasfaserkabeln hängen. Sie tauchen immer häufiger an der Front auf. Sie liefern dem Piloten ein besseres Bild und sind vor allem resistent gegen elektronische Kampfführung. Solche Drohnen sind ursprünglich eine russländische Erfindung, sie haben sich bei den Kämpfen in der Region Kursk bewährt. Auch die ukrainischen Streitkräfte haben beschlossen, auf diese Drohnen umzusteigen. Die ersten Exemplare sind bereits an der Front im Einsatz. Drohnen mit Glasfaserkabeln haben jedoch einen Nachteil: Sie führen weniger heftige Schläge durch und haben offenbar eine geringere Geschwindigkeit. Dies macht sie anfälliger für den Beschuss mit Handfeuerwaffen, einschließlich Schrotflinten.
Aus dem Russischen von Felix Eick, Berlin
Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift