Der Fall von Vuhledar
Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 135. Kriegswoche
Nikolay Mitrokhin, 2.10.2024
Der Ukraine drohen im Donbass große Gebietsverluste. Nach Avdijivka ist nun Vuhledar gefallen. Weitere Städte sind stark gefährdet. Die Armee hat wichtige Verteidigungsstellungen verloren und kann keine durchgehende Frontlinie mehr errichten. Rettung verspricht nur der bald einsetzende Herbstregen. Große Sorgen bereitet der Ukraine auch die immer größere Zahl an Drohnen und Gleitbomben, die Russlands Rüstungsindustrie produziert.
Die Krise der ukrainischen Armee im Donbass hat sich in der letzten Septemberwoche weiter verschärft. In der Nacht auf den 1. Oktober musste sie die Stadt Vuhledar aufgeben. Die wichtigste ukrainische „Festung“ im Südosten des Donbass hatte zweieinhalb Jahre lang den Angriffen der russländischen Besatzungsarmee standgehalten. Auch aus dem Kessel, der in den vorhergehenden Wochen zwischen Pokrovs’k und Vuhledar durch den Zangenangriff der Moskauer Truppen entstanden war, hat die Ukraine ihre Soldaten abgezogen.
Der Fall von Vuhledar hat sich bereits seit zwei Monaten abgezeichnet. Immer absehbarer wurde, welche Folgen der Durchbruch bei Pokrovs’k für die gesamte Situation im Südwesten des Gebiets Donec’k und im Osten des Gebiets Zaporižžja hat. Russlands Armee nimmt nun an zwei Stellen die ukrainischen Verteidigungsstellungen ein. Im Raum Pokrovs’k-Myrnohrad-Selydovo rücken die russländischen Truppen nach Westen und Südwesten vor. Weiter südöstlich verläuft der Vorstoß von Nord nach Süd, die russländischen Truppen umgehen die Frontlinie von Nordwesten und stoßen auf die Stadt Kurachove vor, wo vor dem Krieg 20 000 Menschen lebten. Dabei entstehen immer neue kleine Kessel, so dass die ukrainischen Truppen die Verteidigungsstellungen aufgeben müssen, die sie südwestlich von Donec’k in den vergangenen zehn Jahren errichtet hat. Es fehlt der ukrainischen Armee an Ressourcen, um die gegnerischen Truppen aufzuhalten, die die Frontlinie im Raum des Durchbruchs um 200 Kilometer verlängert haben und täglich die Richtung ihrer Vorstöße wechseln, so dass sie immer weitere Städte und Siedlungen einnehmen. In diesem Raum verfügt die Ukraine über keine durchgehenden Stellungen mehr und hat keine Truppen, die eine durchgehende Frontlinie errichten können.
So konnten die Besatzungstruppen in der letzten Septemberwochen den Keil beseitigen, den die ukrainischen Einheiten Anfang des Monats mit einer kleinen Gegenoffensive bei Novohrodivka in ihre Linien geschlagen hatten. Dort rücken die russländischen Truppen nun von Südosten auf Pokrovs’k vor, das nur noch sechs Kilometer entfernt liegt. Nach ukrainischen Angaben, die auf Drohnenaufnahmen beruhen, haben die Besatzer in dieser Gegend am 30. September im Dorf Suchyj Jar 16 ukrainische Kriegsgefangene erschossen. Bis zum östlich von Pokrovs’k gelegenen Myrnohrad sind es nur noch zwei Kilometer, der Kampf um diese Siedlung wird in den nächsten Tagen beginnen. Im 15 Kilometer südlich gelegenen Selydovo haben die ukrainischen Einheiten in den vergangenen zwei Wochen die von Osten vorrückenden Truppen des Gegners aufhalten können, nun hat die russländische Armee den Ort von Süden umgangen.
Am schlimmsten gestaltet sich die Lage für die Ukraine noch weiter südlich bei Kurachovo. Dort hatten die Besatzungstruppen eine große Anzahl ukrainischer Soldaten, wahrscheinlich zwei ganze Brigaden, in einem Kessel eingeschlossen. In der Nacht auf den 1. Oktober konnten diese zwar aus der Umschließung ausbrechen. Die Ukraine hat damit jedoch mit einem Schlag Gebiete in einem Umfang verloren, wie dies seit Frühjahr 2022 nicht mehr vorgekommen war.
Ebenso dramatisch ist der Verlust von Vuhledar. Die Ukraine hat in der Nacht auf den 1. Oktober die letzten Truppen von dort abgezogen. Russland hatte in den vergangenen zweieinhalb Jahren bei ergebnislosen Angriffen auf die Kleinstadt zwei Brigaden sowie Hunderte Fahrzeuge und anderes Gerät verloren. Jetzt konnten die Besatzungstruppen die Stadt von zwei Richtungen umgehen. Im Nordwesten rückte sie mit einer Kolonne von Panzern und gepanzerten Fahrzeugen mehrere Kilometer vor und schloss den Flaschenhals, durch den der letzte Ausweg aus der Stadt führte, immer weiter. Als dieser nur noch drei Kilometer breit war, beschloss die ukrainische Armeeführung, dass die unter ständigem Artilleriebeschuss sowie Bombardement aus der Luft liegende Stadt nicht mehr zu halten ist, und zog die Truppen ab. Gleichzeitig tauschte sie den Kommandeur der 72. Brigade aus, die für die Verteidigung von Vuhledar zuständig gewesen war. Möglicherweise werden Ivan Vynnik Fehler bei der Verteidigung des Umlands der Stadt vorgeworfen. Eine unmittelbare Folge des Falls von Vuhledar ist der Rückzug der ukrainischen Verteidigung in das nördlich gelegene Bohojavlenka. Damit beträgt der Abstand zwischen den von Norden aus Richtung Kurachovo in südliche Richtung vorstoßenden russländischen Truppen und den nun bei Vuhledar stehenden Einheiten nur noch 35 Kilometer.
Es zeichnet sich ab, dass die Ukraine im weiteren Verlauf des Jahres hier weitere Gebiete verlieren und auf einen Abstand von mehr als 100 Kilometern von der Großstadt Donec’k zurückgedrängt wird. Dies war eines der erklärten Kriegsziele der russländischen Armee, die auf Wunsch Putins dafür sorgen sollte, dass die Stadt und die umliegende Agglomeration nicht mehr von der Ukraine mit Artillerie und Mörsern beschossen werden kann. Mit dem Verlust von Vuhledar und voraussichtlich auch von Kurachove und Pokrovs’k geht die Kontrolle über das gesamte Kohlerevier an Russland über. Die Stahlwerke in Kryvyj Rih haben bereits angekündigt, dass sie ihre Produktion herunterfahren müssen, weil sie keine Kohle aus dem Donbass mehr erhalten.
Das einzige, was die ukrainische Armee in diesem Raum vor weiteren großen Gebietsverlusten bewahren kann, ist der Beginn des Herbsts. Die russländische Armee rückt über Feldwege vor und der bald einsetzende Regen wird die Schwarzerde-Böden der Region für zwei Monate in eine Schlammlandschaft verwandeln. Dies erschwert die Logistik im frontnahen rückwärtigen Raum erheblich und verschafft der Ukraine Zeit, um Truppen umzugruppieren, geschwächte Verbände aufzufüllen, Geschütze und Munition zu beschaffen und einsatzbereit zu machen, Verteidigungslinien aufzubauen und Minenfelder entlang der neuen Frontlinie zu verlegen.
Die Lage an anderen Frontabschnitten
Im Gebiet Kursk versucht Russland, den Raum des ukrainischen Vorstoßes entlang der Staatsgrenze abzuschneiden. Durch Angriffe von Osten und Westen sollen die ukrainischen Truppen in einen Kessel eingeschlossen werden. Der von Osten vorstoßenden Brigade „Pjatnaška“ gelang die Einnahme des Dorfes Borki, dann rückte sie in Richtung der Siedlung Plechovo vor. Dafür bezahlte sie jedoch einen hohen Preis. Sie verirrte sich mit ihren gepanzerten Fahrzeugen in den vor dem ukrainischen Vorstoß entlang der Grenze angelegten Panzergräben der ersten Verteidigungslinie und verlor bei ukrainischen Drohnenangriffen in großem Umfang Fahrzeuge und Gerät.
Sechzig Kilometer westlich davon greift die Ukraine seit Anfang September von ukrainischem Territorium aus die vier Kilometer hinter der Grenze liegende Siedlung Veseloe an. Diese liegt an der zweiten russländischen Verteidigungslinie und deckt den kürzesten Weg zur knapp zehn Kilometer nördlich gelegenen Kreisstadt Gluškovo sowie zu dem Übergang über den Fluss Sejm ab, den die russländische Armee für die von Westen geführten Attacken auf das ukrainische Vormarschgebiet nutzt. Der Erfolg ist mäßig, die Verluste an Fahrzeugen und Gerät hoch. Angeblich wurde dort ein weiterer Leopard-Panzer zerstört. Es ist weiter schwer zu verstehen, warum die Ukraine hier Truppen einsetzt, die im Donbass fehlen.
Auf ukrainischem Territorium hat die Ukraine bei Časiv Jar mit einem Drohnenangriff den russländischen Bataillonskommandeur Oberst Evgenij Smirnov („Ermak“, „Žeka“) getötet, als dieser am hellichten Tag für den Kriegsreporter der Izvestija Michail Kulaga eine Besichtigungstour auf einem Quad veranstaltete. Der Journalist, der verwundet wurde, hat den Tod des Kommandeurs auf seiner „Action-Kamera“ aufgenommen.
Im Norden des Gebiets Charkiv hat die Ukraine in der letzten Septemberwoche mit einer lokalen Gegenoffensive zwischen Lipcev und Vovčans’k einen kleinen Erfolg erzielt. Das in diesem Raum eingesetzte 44. Korps der russländischen Armee ist gleichzeitig mit drei Aufgaben befasst: ein Angriff auf Kupjans’k, die Verteidigung der eroberten Gebiete bei Vovčans’k und Attacken auf die Ostflanke des ukrainischen Vorstoßes im Gebiet Kursk. Das Korps hat nach den sinnlosen Sturmangriffen im Norden des Gebiets Charkiv, wo der einzige Erfolg die Besetzung des nördlichen Teils der Kreisstadt Vovčans’k war, keine Reserven mehr. Jetzt ist der Ukraine dort ein Geländegewinn im Raum der örtlichen Batteriefabrik gelungen. Der Militärkanal Rybar‘ bemerkte dazu in unfreiwilliger Offenheit bezüglich der Folgen des russländischen Angriffs auf die Stadt im Mai 2024: „Vovčans’k besteht heute fast nur noch aus Ruinen. Um diese zu halten, zahlen beide Seiten einen hohen Preis. Die Artilleriegefechte und die Angriffe der russländischen Luftwaffe haben die meisten Stadtviertel zerstört.“ Dies gilt nicht nur für Vovčans’k. Überall, wo die „Befreier“ vorrücken, verwandeln sie lebendige Städte in Ruinenlandschaften.
Der Luftkrieg
Russland setzt immer mehr schwere Kampfdrohnen ein. Das knapp 200 Kilometer östlich von Kazan‘ bei Elabuga angesiedelte Rüstungsunternehmen „Alabuga“ konnte die Produktion massiv erhöhen und hat bereits 6500 Drohnen ausgeliefert. Zuvor waren Experten davon ausgegangen, dass eine solche Stückzahl erst ein Jahr später erreicht wird. Dies lässt erahnen, wie viele Drohnen Russland in Zukunft gegen die Ukraine einsetzen wird. Die ukrainische Armee berichtet zudem von ständigen technischen Neuerungen, die ein Abfangen der Drohnen erschweren.
In der letzten Septemberwoche hat Russland erstmals seit Kriegsbeginn an jedem einzelnen Tag Drohnenangriffe gestartet. Insgesamt attackierten in sieben Tagen rund 300 Drohnen Ziele in der Ukraine. Die Angriffe galten erneut vor allem der Energieinfrastruktur, etwa in den Gebieten Ivano-Frankivs’k und Mykolajiv. Getroffen wurden auch ein Polizeirevier in Kryvyj Rih, ein Krankenhaus in Sumy und ein Bahnhof in Zaporižžja.
Zudem hat Russland offenbar seine Gleitbomben weiterentwickelt. Diese erreichen nun Ziele, die zehn Kilometer weiter von der Front entfernt sind als jene, die zuvor unter Beschuss lagen. Angegriffen wurden etwa Stadtviertel im Zentrum von Charkiv sowie von Zaporižžja. Dort schlugen Bomben auf dem Gelände des Unternehmens Motorsič‘ ein, wo unter anderem Flugzeugmotoren und Drohnen hergestellt werden. In Charkiv starben bei einem Einschlag einer 500-Kilogramm-Bombe in einem Plattenbau mindestens fünf Menschen. In der gesamten Ukraine wurden ca. 50 Menschen durch den Abwurf von Gleitbomben getötet.
Raketen setzte Russland in der 135. Kriegswoche weniger ein. Ein Angriff am 26. September galt dem Flugplatz Starokonstantynovka im Gebiet Chmel‘nic’kyj. Dort stehen in den zur Sowjetzeit errichteten unterirdischen Hangars möglicherweise an die Ukraine übergebene F-16 Kampfjets. Für diesen Angriff setzte Russland vier der teuren Kinžal-Raketen ein. Die Folgen sind nicht bekannt.
Die Ukraine setzte ihre Drohnenangriffe auf Munitionslager in Russland fort. Spektakuläre Erfolge wie bei den Attacken Mitte September erzielte sie allerdings nicht. Auffällig ist, dass die Ukraine seit langem keine größeren Attacken auf die Krim mehr startet, obwohl es dort noch wichtige Ziele gibt. Offenbar hat Russland die Luftabwehr verstärkt, insbesondere im Bereich der Krimbrücke.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.