Die Menschenrechtslage in Belarus
Bericht der Bürgerrechtsorganisation Vjasna, Juni 2025
Die Menschenrechtslage in Belarus ist weiter katastrophal. Auch fünf Jahre nach den Protesten des Jahres 2020 werden Teilnehmer der Demonstrationen verfolgt, ebenso Teilnehmer neuer Protestinitiativen, Andersdenkende, Journalisten, Bürgerrechtler und Anwälte. Die Behörden verschleiern das Ausmaß der Repressionen. Das Menschenrechtszentrum Vjasna erhält jedoch regelmäßig Informationen über Verhaftungen und andere Arten politisch motivierter staatlicher Verfolgung.
Seit Mai 2020 wurden in Belarus gegen mehr als 8000 Menschen aus politischen Gründen ein Strafverfahren eröffnet. Mehr als 7000 wurden verurteilt.
Fast 4000 wurden von der Menschenrechtsorganisation Vjasna als politische Gefangene anerkannt. 2800 – davon 578 Frauen – sind nach Ablauf der Haftzeit oder aus anderen Gründen mittlerweile in Freiheit.
Die Verhaftungen und Verurteilungen gehen jedoch weiter.
Vjasna hat im Juni 2025 29 Menschen neu als politische Gefangene anerkannt, im Jahr 2025 bislang 183. Ende Juni saßen 1185 politische Gefangene in belarussischen Haftanstalten. Die Gesamtzahl der politischen Gefangenen geht leicht zurück, da mehr Menschen nach Ablauf der Haftzeit oder aufgrund einer Begnadigung freikamen, als es neue politisch motivierte Verhaftungen gab. Gleichzeitig sind 12 der 13 Menschen, die bereits im Vorfeld der Wahlen von 2020 aus politischen Gründen verhaftet und später verurteilt wurden, noch immer in Haft – seit mittlerweile mehr als fünf Jahren.
Am 21. Juni 2025 wurden unter Vermittlung der USA elf politische Gefangene freigelassen: der Journalist Ihar Karnej, der Blogger und Oppositionspolitiker Sjarhej Tichanovskij, der in der anarchistischen Bewegung engagierte Akichiro Gaevskij-Chanada, die Hochschuldozentin Natal’ja Dulina sowie sieben Personen, die eine ausländische Staatsbürgerschaft besitzen. Sie alle wurden nach Litauen deportiert.
Gleichzeitig gehen die politischen Repressionen weiter, es gibt kein Anzeichen einer Milderung. Pavel Sevjarynec, Mikalaj Statkevič,
Viktor Babariko, Maria Kolesnikova, Jaŭhen Afnahel’ und andere bekannte Personen der Oppositionsbewegung sind weiter in Haft.
Ebenfalls im Lager befinden sich weiter vier Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung Vjasna – der Nobelpreisträger Ales‘ Bjaljatski sowie Valjancin Stėfanovič, Uladzimir Labkovič und Marfa Rjabkova – und die Bürgerrechtlerin Nasta Lojka von Human Constanta.
Auch 38 Journalisten und Mitarbeiter von Medien sind weiter in Haft.
Ebenfalls weiter im Lager befinden sich die Gewerkschaftsführer Ol’ga Britikova, Vjačeslav Oreško, Gennadij Fedynič, Aleksandr Jarošuk, Andrej Chanevič, Aleksandr Kondratjuk und die im Februar 2023 im Prozess gegen die „Arbeiterbewegung“ (Rabočij Ruch) zu Lagerstrafen von 11–15 Jahren verurteilten zehn Personen.
Seit Anfang 2025 wurden nach Informationen von Vjasna 1700 Personen aus politischen Gründen verhaftet oder mit anderen ordnungs- oder strafrechtlichen Sanktionen belegt. Diese Informationen sind jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach unvollständig, da die Behörden ihre Geheimhaltungspolitik seit Jahresbeginn weiter verschärft haben.
Weiter werden auch Menschen verhaftet und in Strafverfahren angeklagt, deren Namen die Behörden erfuhren, nachdem sie sich Zugang zu einem Chat verschafft hatten, in den der Bot des Monitoring-Projekts „Belaruski Hajun“ Informationen von Personen aus Belarus weitergeleitet hatte.[1] Ende Juni waren bereits 26 Personen verhaftet, die Zahl der Gesuchten ist höher. Bereits verurteilt wurde in diesem Fall Vitalij Čausov: zu vier Jahren. Seit der Schaffung des Projekts 2022 wurden bereits über 40 Menschen wegen der Weitergabe von Informationen an „Belaruski Hajun“ verurteilt. Ebenso wurden einige Dutzend Willkürurteile wegen Weitergabe von Informationen an Protestmedien gefällt. Grundlage für die Verurteilung ist stets, dass das Medium oder die Initiative als „extremistische Organisation“ eingestuft ist. Hierbei handelt es sich um eine äußerst grobe Verletzung des Rechts auf Meinungsfreiheit.
Mindestens acht politische Gefangene werden weiter in absoluter Isolation von der Außenwelt gehalten (incommunicado): Maryja Kalesnikava, Maksim Znak, Mikalaj Statkevič, Ihar Losik, Viktar Babaryka, Uladzimir Kniha, Aljaksandr Aranovič, Aleksandr Frankcevič – und seit dem 13. Mai auch Nikita Samarin.
Fast 50 gegenwärtigen politischen Gefangenen wurde mittlerweile die Haftstrafe wegen angeblichen „Ungehorsams“ in der Haft verlängert. Im Juni 2025 wurde ein solches Willkürurteil zum zweiten Mal gegen Uladzimir Kniha und zum vierten Mal gegen Viktoryja Kulša verhängt.
Folter und inhumane Behandlung
Vjasna dokumentiert Hinweise auf Folter und rechtswidrigen Umgang mit Inhaftierten. Einige der Betroffenen sowie Zeugen sprechen öffentlich darüber. Ihre Geschichten zeugen davon, dass die Behörden weiter gegen politische Opponenten und Andersdenkende systematisch Folter einsetzen. Dazu gehört das sogenannte „Nacktverhör“. Es dient der Suche nach verbotenen Gegenständen und wird zur Erniedrigung von politischen Gefangenen eingesetzt. Betroffen sind Männer wie Frauen. Oft werden Frauen einer solchen Leibesvisitation durch Männer unterzogen. Auch bei Untersuchungen in der Krankenstation von Frauenlagern ist oft männliches Wachpersonal anwesend.
Vorwand „Extremismus“
Der Kampf gegen angebliche „Extremisten“ und „Terroristen“ dient dem belarussischen Staat weiter zur Rechtfertigung von politischer Verfolgung Andersdenkender. Die Liste der „extremistischen Materialien“ wird ständig erweitert. Alleine im Jahr 2025 trafen belarussische Gerichte dazu 829 Entscheidungen. Das digitale Abonnieren, Weiterleiten oder Verlinken solcher Materialien wird als Verbreitung extremistischer Materialien gewertet und mit Arrest- sowie hohen Geldstrafen geahndet.
Gegenwärtig führt der Staat 296 Organisationen als „extremistisch“
Im Jahr 2025 ist die Liste bislang um 39 Organisationen erweitert worden. Jede Mit- und Zusammenarbeit mit ihnen ist verboten. Mitte Juni hat das Innenministerium nun auch die Plattform Petitions.by für extremistisch erklärt. Auf die Liste der Personen, die sich an extremistischen Tätigkeiten beteiligt haben, wurden im Juni 124 weitere Personen gesetzt. Die Gesamtzahl der betroffenen Personen seit März 2022 liegt damit bei 5466. Im Juni 2025 wurden Ljuboŭ Dragel‘, Jaŭhen Bojka und Aljaksandr Jakuškoŭ zu Haftstrafen zwischen zwei und fünf Jahren verurteilt. Sie hatten politische Gefangene unterstützt und wurden nach § 361 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs wegen Beteiligung an einer extremistischen Organisation verurteilt.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
[1] Das von Anton Motolko Anfang 2022 gegründete Hajun-Projekt diente der Sammlung und Veröffentlichung von Informationen über Bewegungen belarussische und russländische Truppenbewegungen auf dem Gebiet von Belarus. Menschen, denen Militärfahrzeuge aufgefallen waren, konnten dies an den Chatbot eines Telegram-Kanals melden. Diese Information wurde nach Überprüfung über den Telegram-Kanal veröffentlicht. Die belarussischen Behörden erklärten die Betreiber des Kanals bereits im März 2022 zu einer extremistischen Organisation. Am 5. Februar 2025 gelang es den Sicherheitsbehörden, in das System einzudringen, zwei Tage später schloss Motolko den Kanal und löste das Projekt auf – Red.