Eskalationsschritte

Nikolay Mitrokhin, 20.9.2022

Die ukrainische Armee drängt die russländischen Truppen im Nordosten des Donecbecken energisch zurück – von Sivers’k Richtung Lysyčans’k, wo sie bereits kurz vor der Raffinerie der Stadt steht. Die Befreiung der gesamten Agglomeration von Lysyčans’k und Severodonec’k, die die russländischen Truppen im Mai und Juni in wochenlangen Kämpfen erobert hatten, steht bevor. Am anderen Ufer des Sivers’kyj Donec treiben die ukrainischen Truppen die Frontlinie langsam aber stetig über Svjatogors’k hinaus und nähern sich Lyman. Da der Angriff von Süden und Südosten erfolgt, die Besatzer jedoch ihre Verteidigungslinien im Westen und Norden und der Stadt errichtet haben, steht eine Befreiung von Lyman bis Ende der Woche zu erwarten.

Im Südosten des Donecbeckens haben die kampffähigsten Einheiten der russländischen Söldnertruppe „Gruppe Wagner“ ihre Angriffe auf die östlichen Ausläufer von Bachmut eingestellt. Grund ist zum einen der verlustreiche Häuserkampf, zum anderen sind sie gezwungen, bei der Abwehr der Angriffe der ukrainischen Armee weiter nördlich auszuhelfen.

Im Gebiet Cherson hat die Ukraine den Brückenkopf am Ostufer des Inhulec ausgeweitet. Von dort aus ist es ihr möglich, bis zum Dnepr vorzustoßen und damit die weiter nördlich stationierten Einheiten der russländischen Armee abzuschneiden.

All dies spricht dafür, dass Russlands Armee und die sie unterstützenden Verbände in ihrer gegenwärtigen Stärke nicht in der Lage sind, den Vormarsch der Ukraine zur Befreiung der besetzten Gebiete aufzuhalten.

Vor diesem Hintergrund sind zwei politische Ereignisse des heutigen Tags zu sehen: Zum einen wurden in den besetzten Gebieten Donec’k, Luhans’k, Cherson und Zaporižžja „Referenden“ über einen „Anschluss“ an Russland ausgerufen. Die „Abstimmungen“ sollen bereits zwischen dem 23. und dem 27. September stattfinden. Ziel ist es, die besetzten Gebiete zu russländischem Territorium zu deklarieren und damit ein Voranschreiten der ukrainischen Armee in diesen Gebieten zu einem Angriff auf das Staatsgebiet Russlands zu erklären.[1] Damit ändert sich die Rechtsgrundlage für den Einsatz der Armee. Russland führt in diesem Fall keine „militärische Spezialoperation“ mehr durch, sondern befindet sich im Krieg. Damit ist es der Armee erlaubt, Wehrpflichtige einzusetzen. Ebenso kann eine allgemeine Mobilmachung erklärt und die Volkswirtschaft auf Kriegsmodus umgestellt werden. Unternehmen, die nicht als kriegsrelevant gelten, droht die Schließung.

Zum anderen wurden heute an einem einzigen Tag alle drei Lesungen zur Verabschiedung einer Änderung des Strafrechts durch die Staatsduma gepeitscht. Wehrpflichtige, Reservisten – und nach einer allgemeinen Mobilmachung auch alle Männer bis zum Alter von 63 Jahren – können nun unter Androhung drakonischer Strafen in die Armee eingezogen werden. Die Gefahr einer Revolte scheint das Regime für nicht allzu groß zu halten, haben sich doch in den vergangenen Wochen in den sogenannten Volksrepubliken Männer offenbar widerstandslos von der Straße direkt in die Armee treiben lassen.

All dies bedeutet eine klare Eskalation. Unklar ist, ob Russland über das Material verfügt, um die mobilisierten Truppen auszustatten. Aber das Ziel, die eingesetzten Truppen von gegenwärtig 200 000 Mann auf eine Million aufzustocken, ist offenkundig. Ebenfalls gewachsen ist die Wahrscheinlichkeit, dass Putin expliziter als bisher mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen wird, sollte die Ukraine die Angriffe auf „russländisches Staatsgebiet“ – worunter Moskau nach den Referenden die annektierten Gebiete zählen würde – nicht einstellen.


[1] Auch der Abzug der russländischen Armee nach dem raschen Voranschreiten der ukrainischen Armee im Gebiet Charkiv Anfang September ist in diesem Licht zu sehen. Dort wäre ein Scheinreferendum sogar nach Maßstäben des Kreml zu unglaubwürdig gewesen.