Volodymyr Zelens'kyj am 21.11.2025
Volodymyr Zelens'kyj am 21.11.2025

Die Ukraine in der Defensive

Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 191.-192. Kriegswoche

Nikolay Mitrokhin, 3.12.2025

Die USA wollen ein Ende des Kriegs. Sie drohen der Ukraine, ihr die Unterstützung zu entziehen. Russland soll der Plan durch Lockangebote schmackhaft gemacht werden. Ob auf diese Weise ein Ende des Waffengangs erreicht wird, ist unklar. Russland hat daran kein großes Interesse, denn die Ukraine ist in der Defensive. Ob Kiew sich auf einen schweren Konflikt mit Washington einlässt, hängt auch vom Fortgang des Korruptionsskandals ab. An der Front versucht Russland vor dem Hintergrund der Gespräche mit den USA den Druck zu erhöhen. Im Gebiet Zaporižžja ist die ukrainische Verteidigung geschwächt.

Nach dem Treffen zwischen Donald Trump und Vladimir Putin am 15. August 2025 in Anchorage wurden die Gespräche über ein Ende des Waffengangs in der Ukraine ohne öffentliches Begleitprogramm fortgesetzt. Dies hat sich am 20. November geändert. Ein an die Medien durchgestochener, von russländischen und US-amerikanischen Emissären aufgesetzter „Plan“ hat zu hektischen diplomatischen Aktivitäten geführt. Ob ein solches Abkommen in nächster Zeit zu erwarten ist und welche Gestalt es dann haben wird, ist vollkommen unklar. Festhalten lässt sich jedoch dies:

Der Korruptionsskandal in der Ukraine

Der Korruptionsskandal in der Ukraine ist auf allerhöchster Ebene angekommen. Am 28. November erklärte der Leiter der Präsidialkanzlei Andrij Jermak, der zugleich auch die ukrainische Delegation bei den Verhandlungen mit den USA leitet, seinen Rücktritt. Zuvor hatte die Korruptionsbekämpfungsbehörde NABU seine Wohnung durchsucht. Welche Rolle Jermak im Fall Mindič spielt, den die NABU Ende November endlich zur Fahndung ausgeschrieben hat, ist allerdings nicht ganz klar. Doch die Beweismaterialien, welche die Korruptionsbekämpfungsbehörde bereits jetzt den Gerichten vorgelegt hat, lassen den Schluss zu, dass die gesamte Staatsspitze in die Korruption verwickelt ist. Mindič wohnte im selben Haus wie Präsident Zelens’kyj und hielt dort, faktisch von der Präsidialgarde geschützt, „Sprechstunde“. Dies dürfte der Grund sein, warum die NABU von den dort geführten Gesprächen keine Aufzeichnungen hat. Doch auch die veröffentlichten Mitschnitte haben bereits dazu geführt, dass nicht nur zwei Minister, die zugleich Mitglied des Sicherheits- und Verteidigungsrats waren, zurücktreten mussten.

Auch der ehemalige Verteidigungsminister Rustam Umjerov, der seit Juli 2025 dem Sicherheits- und Verteidigungsrat vorsteht, muss sich Fragen gefallen lassen, denn nach Informationen der NABU traf er sich wöchentlich mit Mindič.

In der Ukraine gehen viele davon aus, dass das NABU seine Tätigkeit jetzt vorübergehend ruhen lässt, um die Gesprächsführer bei den Verhandlungen mit den USA und Russland nicht weiter zu beschädigen. Mit dem Rücktritt des Delegationsleiters Jermak, der erklärt hat, er würde „an die Front“ gehen, ist viel erreicht. In vielen ukrainischen Medien bleibt der Skandal jedoch Thema Nr. 1 und die Ankündigung Jermaks wird als Versuch betrachtet, sich dem Zugriff der Untersuchungsbehörden zu entziehen. Wer in der Ukraine einen Vertrag mit der Armee unterschreibt, ist nach den Landesgesetzen für die Zeit des Wehrdiensts vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt. Und jeder in der Ukraine weiß, dass man sich mit entsprechenden Kontakten einem Einsatz an der Front entziehen kann, indem man sich für Tätigkeiten im rückwärtigen Raum einteilen lässt, die teilweise sogar fernab des Kampfgebiets an der „Heimatfront“ ausgeübt werden können.

Zugleich kehrte am 1. Dezember der aussichtsreichste Kandidat für eine Nachfolge Zelens’kyjs an der Staatsspitze in die Ukraine zurück: der ehemalige Oberbefehlshaber der Streitkräfte und heutige ukrainische Botschafter im Vereinigten Königreich Valerij Zalužnyj. Am 29. November veröffentlichte er auf der soliden und weitgehend unabhängigen Plattform Liga.net einen längeren Autorenbeitrag, den man als politisches Programm betrachten kann.

Er legt dar, dass die Ukraine ihr konkretes strategisches Ziel verloren habe und vor großen Problemen stehe, die insbesondere auf die unzureichende Mobilisierung zurückgingen. Thema ist auch das Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive im Gebiet Zaporižžja, die Zalužnyj im Sommer und Herbst 2023 befehligte. Ausführlich beschäftigt Zalužnyj sich unter Heranziehung zahlreicher Clausewitz-Zitate mit Russlands Kriegszielen. Die wichtigste Passage aber dürfte wohl jene sein, in der er zu dem Schluss kommt, dass es in diesem Krieg keinen vollständigen Sieg und keine totale Niederlage gebe und man sich daher früher oder später mit einer wie auch immer als ungerecht empfundenen Formel für eine Einstellung des Waffengangs abfinden müsse.

Intensivierung des Seekriegs

Am 28. November attackierte der ukrainische Geheimdienst SBU im Schwarzen Meer mit Seedrohnen zwei unter der Flagge Gambias fahrende leere Tanker, die sich zum Zeitpunkt des Angriffs 36 Kilometer vor der türkischen Küste befanden. Die Ukraine hat sich zu dem Angriff auf die Schiffe, die Teil der russländischen Schattenflotte sein sollen, bekannt und Videos der Attacke veröffentlicht. Zwei Tage später kam es in unmittelbarer Nähe eines vor der Küste Senegals ankernden Öltankers zu vier Explosionen. Das Schiff wird von einer türkischen Reederei betrieben und ebenfalls der Schattenflotte zugerechnet. Am 2. Dezember wurde ein aus Russland kommender, mit Sonnenblumenöl beladener Tanker 80 Kilometer vor der türkischen Küste nahe Sinop von Drohnen aus der Luft angegriffen. Zu diesem Vorfall äußerte sich die Ukraine nicht. Der türkische Ministerpräsident Erdoğan sprach von präzedenzlosen militärischen Aktivitäten vor der Küste seines Landes, nannte aber keine Verantwortlichen. Gleichwohl weist sein öffentlicher Auftritt darauf hin, dass er die wirtschaftlichen Interessen eines neutralen Landes verletzt sieht.

Solche Angriffe auf zivile Schiffe verletzen informelle Regeln, an die sich beide Kriegsparteien abgesehen von kleineren, möglicherweise auf Missverständnissen beruhenden Zwischenfällen seit zwei Jahren gehalten haben. Die genauen Hintergründe sind unklar. Fest steht, dass es in der Ukraine Stimmen gibt, die Russlands Ölexporte über das Schwarze Meer um jeden Preis unterbinden wollen – selbst wenn dies dazu führt, dass Russland den Getreideexport aus der Ukraine mit Luftangriffen lahmlegt. Bereits am 2. November hatte die Ukraine das Erdölterminal Tuapse attackiert, woraufhin Russland am 17. November mit einem Drohnenangriff einen unter türkischer Flagge fahrenden Flüssiggastanker in Brand setzte, der im Hafen der im Donaudelta gelegenen ukrainischen Stadt Ismajil lag. Wäre es zu einer Explosion gekommen, hätte diese wahrscheinlich erhebliche Teile des Hafens zerstört. Rumänien evakuierte vorsorglich ein am anderen Ufer der Donau gelegenes Dorf.

Die Lage an der Front

Am 20. November besuchte Russlands Oberbefehlshaber Putin das Stabsquartier der Armeegruppe „West“ im Norden des ukrainischen Gebiets Donec’k. Am Tag zuvor hatte die Armeegruppe vermeldet, sie habe die im Nordosten des Gebiets Donec’k gelegene Stadt Sivers’k eingenommen. Tatsächlich werden nur die Straßenkämpfe um die Stadt mit größerer Intensität geführt, deren Einnahme seit drei Jahren Ziel der Moskauer Besatzungsarmee ist.

Am Tag nach Putins Besuch weiteten die russländischen Truppen allerdings an allen Schlüsselstellen der Front ihre Angriffe aus. Nach Moskauer Angaben wurde das zwischen Sivers’k und Lyman gelegene Jampil‘ eingenommen und die Truppen rücken an den östlichen Stadtrand von Lyman vor.

Drei Tage später warnte der stellvertretende Kommandeur des 3. Armeekorps der Ukraine Maksym Žorin: „Alle reden nur noch von den Verhandlungen, jeder Punkt wird durchgekaut, aber der Krieg geht weiter und die Lage an der Front wird ständig schlechter. Ein so rasches Vordringen des Feindes habe ich seit langem nicht gesehen. Es geht nicht um den Verlust einiger Siedlungen, sondern darum, dass sich die operative Lage des Feindes an ganzen Frontabschnitten substanziell verbessert.“

Bereits am 27. November bestätigte sich die Warnung Žorins bei Huljaj-Pole im Gebiet Zaporižžja. Dort gelangten Truppen der Besatzer in die Flanke der ukrainischen Verteidigung vor, nachdem sich zwei Rotten der 102. Brigade der Territorialverteidigung, die keinen Kontakt zur Armeeführung mehr hatten, aus ihren Stellungen zurückgezogen hatten. Am 28. November drangen russländische Soldaten nach Huljaj-Pole ein, der Ostteil der Kleinstadt steht bereits unter ihrer Kontrolle. Nur südöstlich der Siedlung leisten einige ukrainische Einheiten noch Widerstand.

Am anderen Ende der Front, im Norden des Gebiets Charkiv, musste die ukrainische Armee die Stadt Vovčansk mittlerweile vollständig aufgeben. Im lange umkämpften Pokrovs’k im Gebiet Donec’k konsolidieren die russländischen Truppen langsam ihre Kontrolle. Die vierwöchigen Kämpfe haben jedoch dazu geführt, dass auch diese – gemessen an der Totalzerstörung anderer Städte – zuvor noch recht intakte städtische Agglomeration auf längere Zeit unbewohnbar bleiben wird.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.