Die ukrainische Gegenoffensive im August 2023

Nikolay Mitrokhin
Kein Durchkommen am Boden, Erfolge im See- und Luftkrieg
6.9.2023

Die Ukraine hat auch im dritten Monat ihrer Gegenoffensive keinen entscheidenden Durchbruch erzielt. Auch Russlands Versuche zur Eroberung weiterer Landstriche sind gescheitert. Es zeichnet sich ab, dass es bis zum Beginn des Herbstregens keine wesentliche Änderung der Lage mehr geben wird. Anders im See- und Luftkrieg. Die Ukraine setzt mittlerweile so erfolgreich Seedrohnen ein, dass sie die Kontrolle über den gesamten nordwestlichen Teil des Schwarzen Meers übernommen hat. Auch die ukrainischen Drohnenangriffe auf militärische Einrichtungen in Russland haben stark zugenommen und führen immer öfter zu Erfolg.

Drei Monate nach Beginn der ukrainischen Gegenoffensive kristallisiert sich immer klarer eine Pattsituation heraus. Die ukrainischen Offiziellen sprechen zwar noch von einem „langsamen Vorankommen“ und einer Strategie der „Ermüdung des Gegners“. Faktisch war die Ukraine aber gezwungen, ihre Strategie zu wechseln. Sie versucht mittlerweile nur noch an drei Frontabschnitten die russländischen Verteidigungslinien zu durchbrechen, um ihr Territorium zurückzuerobern. Im Juli hatte sie noch an fünf und im Juni an sieben bis acht Stellen solche Anstrengungen unternommen. Auch der Versuch der russländischen Armee, im Gebiet Luhans’k und teilweise im Gebiet Donec’k weiteres ukrainisches Gebiet zu erobern, ist gescheitert.

Im Gebiet um Bachmut hat die ukrainische Armee die Rückeroberungsversuche faktisch eingestellt. Südlich der Stadt hatte sie im Juli die Siedlung Kliščijivka teilweise befreit, danach aber an diesem Frontabschnitt keine wesentlichen Fortschritte mehr erzielt. Im Nordwesten der Stadt kam der Vormarsch im Wesentlichen schon im Juni zum Stillstand.

Die wichtigsten Vorstöße unternimmt die ukrainische Armee weiterhin im Gebiet Zaporižžja in der Gegend von Velyka Novosilka. Dort konnte sie im Juni und Juli die Frontausbuchtung bei Vremivka einnehmen und um knapp zehn Kilometer vorrücken, so dass sie nach unterschiedlichen Darstellungen die erste oder die zweite Verteidigungslinie der russländischen Armee erreichte. Am 27. Juli gelang ihr die Rückeroberung der Siedlung Staromajorskoe und am 16. August die Einnahme von Urožajnoe, dem nächsten an der Straße nach Mariupol‘ gelegenen Dorf. Insgesamt ist es der ukrainischen Armee damit in drei Monaten gelungen, an diesem kleinen Frontabschnitt auf einer Breite von einem Kilometer (an der Spitze des Vorstoßes) zehn Kilometer in die Tiefe vorzurücken. Entwickelt sich die Gegenoffensive im September weiter wie bisher, könnte die Ukraine im September das Dorf Zavitne Bažannja zurückerobern und im Oktober den Stadtrand der Kreisstadt Staromlynivka erreichen, bevor die Herbstregenfälle ein weiteres Vorrücken über den aufgeweichten Boden unmöglich machen.

Ähnlich ist die Situation am weiter südlich gelegenen Frontabschnitt bei Orichiv. Dort gelang es der ukrainischen Armee Ende August, die Siedlung Robotyne zu erobern, einen Knotenpunkt der ersten russländischen Verteidigungslinie, und dann in südöstlicher Richtung über die Felder in Richtung der nordöstlichen Ausläufer der Siedlung Verbove vorzurücken. Berücksichtigt man den der Verteidigungslinie vorgelagerten Bereich, so ist die Ukraine in diesem Abschnitt seit Anfang Juni auf einer Breite von fünf Kilometern um fünf Kilometer vorgestoßen.

Anfang August etablierte die Ukraine zunächst erfolgreich einen Brückenkopf auf dem linken Dnipro-Ufer zwischen Nova Kachovka und Cherson, um mit einem Vorstoß in Richtung Kozači Laheri einen Angriff auf die Flanke der russländischen Armee zu lancieren. Die ukrainischen Soldaten nahmen russländische Stellungen ein, in die gerade zuvor Truppen aus der dritten Reihe eingerückt waren, um an andere Frontabschnitte im Gebiet Zaporižžja verlegte Kräfte der Luftlandetruppen zu ersetzen. Da es der Ukraine nicht gelang, eine stabile Überquerung des Flusses zu schaffen, welche die Möglichkeit zur Verlegung schweren Geräts bot, konnte die russländische Armee jedoch zwei Tage später mit herbeigeführten Reserven die ukrainischen Soldaten zum Rückzug auf das rechte Dnipro-Ufer zwingen.

Einen Brückenkopf auf dem linken Ufer hält die Ukraine weiter: an der Antonov-Brücke leicht nördlich von Cherson nahe Oleški. Einige Kilometer flussaufwärts konnte sie in der letzten Augustwoche einen weiteren kleinen Brückenkopf etablieren. Auch hält die Ukraine mehrere Inseln im Dnipro, insbesondere flussabwärts von Cherson. Ende August meldeten russländische Militärblogger panisch den Verlust der 205. Brigade, die sich ohne Artillerieunterstützung und reguläre Versorgung auf einer dieser Inseln befand und dort von der Ukraine aufgerieben wurde.

Ganz gleich, welches die Gründe sind – fest steht, dass die ukrainische Armee unter Einsatz großer Mengen an Munition, mit einem erheblichen Verschleiß und Verlust an Gerät sowie vielen getöteten Soldaten die ihr vorgegebenen Ziele bislang nicht erreicht hat. Nicht einmal ein Minimalziel wie die Befreiung der 20 Kilometer südlich von Orichiv gelegenen Stadt Tokmak wurde erreicht. Auch der Einsatz der von den USA gelieferten Streumunition hat die Lage nicht entscheidend geändert. Ukrainische Offizielle erklären dies oft mit dem Fehlen westlicher Kampfflugzeuge. Wirklich überzeugend ist das nicht. Kampfflugzeugen können keine Minenfelder beseitigen und wahrscheinlich auch nicht die russländischen Einheiten entscheidend treffen, die sich in den Waldstreifen entlang der Frontlinie eingegraben haben und von dort mit Panzerabwehrlenkwaffen und Kampfdrohnen vom Typ Lancet recht erfolgreich gegen die von der Ukraine eingesetzten westlichen Kampf- und Schützenpanzer vorgehen. Wenig spricht dafür, dass die ukrainische Armee den Durchbruch der ersten oder zweiten Verteidigungslinie an zwei Stellen dazu nutzen kann, um die Front in der Tiefe zu durchstoßen. Wahrscheinlicher ist, dass sie an diesen Stellen in Schwierigkeiten geraten wird, weil die Vorstöße gegen Angriffe und Beschuss von den Flanken gesichert werden muss. Dort besetzen russländische Einheiten weiter die seitlichen Höhenzüge. Wenn Mitte Oktober die Bäume in den örtlichen Waldgebieten ihre Blätter verlieren, wird dies auf ukrainischer Seite zu höheren Verlusten führen, als dies gegenwärtig der Fall ist.

Umgekehrt ist auch Russlands Versuch gescheitert, weitere Landstriche in der Ukraine zu erobern. In der ersten Jahreshälfte unternahmen die russländischen Truppen noch Anstrengungen, um bei Avdijivka und Mar’jinka nördlich und westlich von Donec’k vorzustoßen. Mittlerweile finden dort nur noch Stellungskämpfe statt. Die Begegnungsgefechte im Umland von Kreminna, die vom Frühjahr bis in den Juli um die Frontausbuchtung bei Tors’ke und den Waldstreifen bei Serebrjanka geführt wurden, sind – von vereinzeltem Auflodern abgesehen – praktisch eingestellt. Nordwestlich von Svatove ist nach anfänglichen bescheidenen Erfolgen der Besatzer deren Vordringen ebenfalls zum Erliegen gekommen. Lediglich in den nordöstlichen Ausläufern von Kupjans’k erhalten die russländischen Truppen den Druck aufrecht. Dort war die Lage am 10. August so brenzlig, dass die ukrainischen Behörden die Evakuierung der Bevölkerung aus 37 Siedlungen ankündigten. Wenige Tage später erreichten jedoch ukrainische Verstärkungstruppen diesen Frontabschnitt, seitdem gibt es auch dort keine Bewegung mehr an der Front.

Die weitgehende Einstellung der russländischen Offensivtätigkeit in den Gebieten Donec’k und Luhans’k ist vor allem auf die Lage am Frontabschnitt im Gebiet Zaporižžja zurückzuführen. Dorthin muss Russlands Armee immer wieder Truppenteile verlegen, insbesondere aus den kampffähigen Luftlandetruppen, die bei Bachmut, Kreminna und Kupjans’k stehen. Hinzu kommt der Mangel an Gerät und Munition, der sich durch die ukrainischen Schläge gegen Depots in der zweiten und dritten Reihe der russländischen Verteidigung oder im nahegelegenen Hinterland verschärft. Es ist der russländischen Armee nicht gelungen, durch Druck auf Kupjans’k die Durchbruchsversuche der Ukraine im Gebiet Zaporižžja vollständig zu verhindern. Die Ukraine läuft aber weiterhin Gefahr, dass die Okkupationsarmee ihre Verteidigungsstellungen durchbricht und Kupjans’k einnimmt, weil zu viele Truppen an andern Frontabschnitten im Einsatz sind. Auf diese Weise verlor die Ukraine im Januar 2023 Soledar.

Durchschlagender ukrainischer Erfolg auf dem Schwarzen Meer und Beginn des Sturms auf die Krim

Am 4. August gelang der Ukraine mit einem Schlag gegen zwei russländische Kriegsschiffe auf dem Schwarzen Meer ein entscheidender Erfolg. Unbemannte Seedrohnen trafen die fernab des unmittelbaren Seekriegsgebiet in der Bucht von Novorossijsk ankernden Schiffe. Das große Landungsschiff Olenogorskij Gornjak aus der Ropucha-Klasse wurde schwer beschädigt. Nur Hilfsschiffe konnten einen Untergang verhindern, an einen Einsatz ist in den kommenden Monaten nicht mehr zu denken. Wichtig ist aber nicht die Beschädigung dieses Schiffes. Entscheidend ist vielmehr, dass von nun an feststeht, dass jedes russländische Schiff im Schwarzen Meer Ziel ukrainischer Seedrohnen werden kann. Diese können bis zu 300 Kilogramm Sprengstoff über eine Entfernung von 800 Kilometern transportieren, erreichen eine Geschwindigkeit von bis zu 80 Stundenkilometern und können nur schwer mit Radar erfasst werden. Sie sind billig, so dass die Ukraine sie in großer Zahl herstellen kann. Einige Angriffe auf russländische Schiffe im südwestlichen Teil des Schwarzen Meeres konnten deren Besatzungen noch mit Not abwehren. Spätestens der erfolgreiche Angriff am 4. August hat aber gezeigt, dass Russlands Schwarzmeerflotte über keine Mittel verfügt, um sich zuverlässig gegen Attacken mit dieser Waffe zu schützen. Hinzu kommen im Küstenbereich die Antischiffsraketen vom Typ Neptun. Man kann daher sagen, dass die Ukraine die Kontrolle über den gesamten nordwestlichen Teil des Schwarzen Meers übernommen hat.

Mehr noch: Jedes russländische Schiff, das einen Hafen an der Küste des Schwarzen Meeres verlässt, läuft nun Gefahr, von solchen Drohnen getroffen zu werden. Bereits jetzt laufen die U-Boote der Schwarzmeer-Flotte deutlich seltener aus ihren Häfen aus, weil beim Start der auf die Ukraine zielenden Kalibr-Raketen auch sie mit Seedrohnen attackiert werden können. In der Nacht auf den 2. September griff die Ukraine zwölf Seemeilen vor der Küste des russländischen Bezirks Krasnodar unweit der Krimbrücke das Patrouillenboot „Pytlivyj“ an. Die Attacke konnte zwar abgewehrt werden, versetzte aber Russlands Geheimdienste in Unruhe. Denn über dem Schiff befand sich ein ukrainischer Quadrokopter, mit dessen Hilfe vermutlich der Angriff koordiniert wurde. Gestartet wurde er offenbar an der russländischen Küste, wo die ukrainische Armee also Unterstützer zu haben scheint.

Am 24. August verkündete der ukrainische Präsident Volodymyr Zelens’kyj die Schaffung einer Sondereinsatzbrigade der ukrainischen Marine für Seedrohnen. Kurz darauf ließ die Ukraine erstmals seit dem 24. Februar 2022 ohne Erlaubnis oder Kontrolle des Gegners vier zivile Schiffe auslaufen, die unter Begleitschutz durch ukrainisches Seegebiet in rumänische, dann bulgarische und schließlich in türkische Gewässer gelangten. Vieles spricht dafür, dass die Kriegsparteien sich unter den neuen Bedingungen in einem Schattenabkommen zugesichert haben, zivile Schiffe des Gegners nicht anzugreifen. Als „Ausgleich“ griff Russland mehrfach ukrainische Hafeninfrastruktur für die Verladung von Getreide und Speiseöl an, was eindeutig ein Kriegsverbrechen ist. Der bislang jüngste dieser Angriffe, an dem 25 Drohnen beteiligt waren, galt am 3. September Treibstofflagern im Hafen von Reni an der Donau unmittelbar an der rumänischen Grenze.

Von viel größerer Bedeutung als diese russländischen Attacken ist jedoch ein Erfolg, den die Ukraine am 23. August erzielte. An diesem Tag gelang es ihr, mit einem neuen Raketentyp auf der im Westen der Krim gelegenen Halbinsel Tarchankut eine russländische Luftabwehrstellung – nach ukrainischen Angaben ein System S-400 Triumf/SA-21 Growler, nach Moskauer Aussage ein System S-300/SA-10 Grumble – zu zerstören, das die Halbinsel gegen Angriffe von Westen und Südwesten geschützt hatte. Bereits zwei Tage später versuchte die Ukraine mit 40 Drohnen durch das Loch im Luftabwehrschirm zu dringen. Die meisten wurden jedoch von Luftabwehrgeschützen der zweiten und dritten Verteidigungslinie abgefangen. Ebenfalls am 25. August gab die Ukraine erstmals offiziell bekannt, dass eine Sondereinsatztruppe des Militärgeheimdiensts HUR mit Booten auf der Krim gelandet sei. Moskau erklärte, es seien Schüsse gefallen, aber kein Schaden entstanden. Nach Kiewer Aussage seien Radaranlagen an der Küste zerstört worden. Dies, so Kiew, sei der Auftakt zur Befreiung der Krim gewesen. Am 28. August feierte die Ukraine die Zerstörung einer Radarstation vom Typ „Predel-Ė“, an der von Russland besetzten Küste im Gebiet Cherson. Russland hatte dieses rund 200 Millionen Dollar teure System im Juni 2023 erstmals auf einer Rüstungsmesse präsentiert. Außerdem zerstörte die Ukraine eine mobile Anlage zur radioelektronischen Kampfführung vom Typ „Leer-2“.

Die neue Lage auf und über dem Schwarzen Meer ermöglicht es der Ukraine, Landungstruppen auf der Krim abzusetzen und eine Befreiung der Halbinsel zu versuchen, ohne zuvor in den Gebieten Zaporižžja oder Cherson am Boden einen Durchbruch erzielt zu haben. Gelingt die Absetzung solcher Truppen, kann dies russländische Kräfte binden, was die Überquerung des Dnipro im Gebiet Cherson erleichtern würde. Entscheidend ist die Frage, ob die Ukraine über ausreichend Hochgeschwindigkeitsboote zur Versorgung solcher Landungstrupps sowie Raketen mit großer Reichweite verfügt, um diesen Deckung zu geben. Eine wichtige Voraussetzung ist auch die Einnahme der Kinburn-Halbinsel im Dnipro-Delta, denn von dort überwacht die russländische Armee den nordwestlichen Teil des Schwarzen Meers. Fest steht, dass die Ukraine mit dem Eintreffen westlicher Kampfflugzeuge zu Beginn des Jahres 2024 ihre Kontrolle über den Luftraum in diesem Gebiet erheblich festigen wird. Auch das Potential zur Luftunterstützung möglicher Landungstrupps wird wachsen. Umgekehrt wird Russland wahrscheinlich die Militärflugplätze im Westen der Krim nicht mehr nutzen können.

Neue Dimension des Luftkriegs

Neben den Erfolgen im Seegebiet des Schwarzen Meers ist es der Ukraine im August auch gelungen, ihre Kriegsführung mit Drohnen quantitativ wie qualitativ auf eine neue Ebene zu heben. Die bereits im Winter geäußerten Befürchtungen russländischer Militärblogger, dass die Ukraine in den Besitz einer Drohnenflotte gelangen könnte, die Russlands Luftverteidigung nicht mehr vollständig ausschalten kann, haben sich bestätigt. Zum einen hat die ukrainische Armee offenbar durch genaue Analyse der Abwehrstellungen Routen ausfindig gemacht, auf denen mittlerweile fast täglich Drohnen über die Gebiete Brjansk, Kursk, Kaluga und Tula nach Moskau vordringen. Die transportierten Sprengladungen sind zwar nicht groß genug, um ernsthafte Schäden an den vorgesehenen Zielobjekten zu verursachen und ein Teil der Drohnen wird weiterhin abgefangen. Aber Luftalarm in Moskau und temporäre Schließung der Flughäfen sind mittlerweile keine exotische Sensation mehr, sondern Alltag.

Die Zahl der ukrainischen Drohnen, die tief in den russländischen und von Russland kontrollierten ukrainischen Luftraum eingedrungen sind, hat sich über den Sommer von Monat zu Monat verdoppelt. Im August waren es bereits über 150.

Die größte Bedrohung schafft die Ukraine für die Krim, wo mittlerweile im Wochenrhythmus Schwärme von mehr als 20 Drohnen auftauchten. Wenngleich die meisten dieser Fluggeräte abgeschossen oder von den Truppen der radioelektronischen Kampfführung zur Landung gebracht werden, haben die Ereignisse in Kursk, Pskov und Brjansk und auf der Krim am 27. und 29. August gezeigt, dass die ukrainischen „Drohnenführer“ dabei sind, die Taktik des Angriffs im Schwarm zu verbessern. Besonders erfolgreich sind die Attacken dort, wo die Luftabwehr weniger kompakt aufgestellt ist, weil die meisten Systeme an der Front sowie zum Schutz der Krim, des Donbass sowie von Moskau zusammengezogen wurden. Bei einem Angriff mit 16 aus Karton gefertigten australischen Kamikaze-Drohnen auf einen Militärflugplatz bei Kursk gelang es der Ukraine am 27. August nach eigenen Angaben, sieben Jagdflugzeuge sowie eine Radaranlage des S-300-Luftabwehrsystems und zwei Luftverteidigungsanlagen „Pancir“ zu treffen. Bildmaterial präsentierte die Ukraine allerdings nicht und Russland bestreitet, dass militärisches Gerät zu Schaden kam. Am 29. August attackierte die Ukraine mit 21 Drohnen – möglicherweise vom Typ „Bober“ aus rein ukrainischer Produktion, der am 2. August der Öffentlichkeit präsentiert wurde – einen für zivile und militärische Zwecke genutzten Flugplatz bei Pskov. Dort war ein Transportregiment stationiert, das in erster Linie für die Versorgung der Luftlande-Division Pskov eingesetzt wird. Mindestens zwei der ungefähr 20 Iljušin-76-Transportflugzeuge gingen in Flammen auf, zwei oder drei weitere wurden beschädigt. Einigen Angaben zufolge wurden auch Anlagen zur Betankung der Flugzeuge zerstört. In der gleichen Nacht griffen ukrainische Drohnen in Pskov ein vom militärischen Geheimdienst GRU genutztes Gebäude sowie mehrere Verwaltungsgebäude an. In Brjansk und Tula galten Angriffe ebenfalls Armee- und Verwaltungsgebäuden, einem Fernsehturm, sowie einer Fabrik, in der Mikrochips für die russländische Rüstungsindustrie hergestellt werden. Luftlinie beträgt die Entfernung aus dem Gebiet Černihiv im Norden der Ukraine über Belarus nach Pskov 600 Kilometer, unter Umgehung des belarussischen Luftraums sogar 800. Angriffe über solche Entfernungen mit einer solchen Zahl von Drohnen hatte die Ukraine zuvor noch nie unternommen.

Der sehr bekannte Militärblogger und Kriegstreiber Aleksandr Koc stellte konsterniert fest:

„Angriff auf den Flugplatz von Pskov. Kein gewöhnliches Ziel. Schauen Sie auf die Karte. Eine ganz andere Richtung als bei den vorherigen Drohnenattacken, die Moskau galten. Um dorthin einen Drohnenschwarm zu schicken, muss man ernsthafte Gründe haben. Und sehr gute Aufklärungsdaten. Diese bekommt Kiew von seinen NATO-Partnern. Angesichts der wachsenden technischen Möglichkeiten der Ukraine wird es bald keinen einzigen sicheren Ort im europäischen Teil Russlands mehr geben. Und wenn man an die Saboteure denkt, dann auch im übrigen Land nicht mehr.“

In einem Radius von 1000 Kilometern von ukrainischem grenznahem Gebiet liegt praktisch ganz Zentralrussland, alle Großstädte des nordwestlichen Landesteils, einschließlich Petersburg, der gesamte Süden sowie ein großer Teil des Wolga-Gebiets. Die Luftabwehr decken jedoch nur die Front, die Krim, Moskau, Belgorod und Voronež ab. Dies zeigte sich erneut beim vierten nächtlichen Angriff in Folge auf die erwähnte Chipfabrik in Brjansk am 31. August sowie bei einem Drohneneinschlag mit anschließendem Großbrand in einer Produktionshalle der Elektronikfabrik Tomilino in Lubercy, wo im südöstlichen Umland von Moskau Bauteile für Raketen hergestellt werden. Ziel solcher Angriffe kann von nun an jederzeit jeder innerhalb des genannten Radius liegende Betrieb des militärisch-industriellen Komplexes, jedes Gebäude der Geheimdienste, der Polizei und der Verwaltung sowie die gesamten Energie- und Transportinfrastruktur werden. Bislang befördern die meisten ukrainischen Drohnen nur eine geringe Sprengladung. Einige der Angriffe in den letzten Augusttagen haben aber gezeigt, dass sich dies rasch ändern kann.

Der ukrainische Militärgeheimdienst HUR erklärt, der Angriff auf Pskov sei von einem ukrainischen Sabotagetrupp verübt worden. Und der ehemalige Leiter des „Rechten Sektors“ in Odessa, Serhij Stepenko, der Geld für die Finanzierung der ukrainischen Kriegsführung sammelt, veröffentlichte am 1. September ein Video der Attacke. Nach seinen Worten wurde sie mit Quadrokoptern ausgeführt, die mit Spendengeldern gekauft wurden. Stimmt dies, so erinnert es an zwei weitere Angriffe, die ukrainische Sabotagegruppen mit Quadrokoptern auf Flugplätze in Russland lanciert haben: Mitte August gelang es ihnen, binnen drei Tagen auf den Flugfeldern „Sol’cy“ im Gebiet Novgorod und „Šajkovka“ im Gebiet Kaluga fünf Flugzeuge zu zerstören, darunter zwei strategische Bomber vom Typ Ty-22M3, von denen zuvor Marschflugkörper auf die Ukraine abgeschossen worden waren. Am 16. August tötete der russländische Inlandsgeheimdienst FSB im Kreis Starodub, Gebiet Brjansk vier Mitglieder eines ukrainischen Sabotagetrupps, die zwecks Steuerung mit Kamera ausgestattete Drohnen (FPV, First Person View) bei sich führten. Vieles spricht dafür, dass es zahlreiche solcher Gruppen gibt und diese auch Erfolge erzielen. Organisierte Sabotage zählt somit zu den weiteren Erfolgen der Ukraine in diesem Krieg.

Allerdings weitet auch Russland seine Drohnenkapazität aus. In Elabuga in der Republik Tatarstan werden seit dem Sommer schwere Kampfdrohnen vom iranischen Typ Shahed hergestellt –was der Ukraine trotz aller militärtechnischer Unterstützung des Westens nicht gelungen ist. Im August ging die Zahl der von Russland auf die Ukraine abgeschossenen Raketen diesen Typs jedoch leicht zurück. Dies könnte auf Lieferschwierigkeiten bei Bauteilen zurückzuführen sein. Vielleicht legt die russländische Armee aber auch einen Vorrat an, um in den kommenden Wochen mit einer großen Anzahl von gleichzeitig anfliegenden Drohnen die ukrainische Luftabwehr in Bedrängnis zu bringen.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.