Drei Szenarien

Sieg, Auszehrung, Regimezerfall

Andreas Heinemann-Grüder
10.3.2022

Kriege enden durch einen eindeutigen militärischen Sieg, die Erschöpfung der Kriegsparteien oder durch Regimezerfall. Russland ist von einem eindeutigen militärischen Sieg in der Ukraine weit entfernt. Die russländische Armee wollte einen Blitzkrieg zur militärischen und politischen Unterwerfung der gesamten Ukraine führen. Dieser Plan scheiterte an dem unerwartet starken militärischen Widerstand der Ukrainer sowie an eigenen operativen Mängeln. Das Kriegsziel einer „Entmilitarisierung und Denazifizierung“ des Landes – übersetzt aus Putins Propagandasprache: der Sturz von Präsident Zelens'kyj und seiner Regierung, die „Neutralisierung“ der Ukraine und die Verwandlung des Landes in ein Protektorat von Russlands Gnaden – ist im militärischen Kampf mit der ukrainischen Armee kurzfristig nicht erreichbar.

Um das Ziel der Unterwerfung der gesamten Ukraine doch noch zu erreichen, wird Russlands Armeeführung daher auf Eskalation setzen: auf den Einsatz von Distanzwaffen, bei dem nicht mehr zwischen militärischen und zivilen Zielen unterschieden wird, auf die Bombardierung von Wohngebieten, auf die Zerstörung von Infrastruktur sowie auf den Einsatz von Killerkommandos, die sich aus vermeintlich „privaten“ Militärfirmen oder den tschetschenischen Kadyrov-Truppen rekrutieren. Mit dieser Kriegsführung soll die Bevölkerung zermürbt und eine Massenflucht ausgelöst werden. Flucht und Vertreibung werden möglicherweise auch verursacht, um die „Willkommenskultur“ im Westen zum Kippen zu bringen und um die Demographie strategisch zu ändern. Die ukrainische Führung soll zur Unterzeichnung eines Waffenstillstands bewegt werden, der einer Kapitulation gleichkommt. Militärische Ziele sind weiterhin die Einnahme strategisch bedeutender Städte, die Kontrolle der gesamten Schwarzmeerküste und – in absehbarer Zeit – die Herstellung einer Landverbindung zu Transnistrien sowie dessen Einschluss in das von Russland kontrollierte Territorium. Zudem setzt Russland weiter auf das Austrocken der überlebensrelevanten Ressourcen der Ukraine, darunter des militärischen Nachschubs und der Kontrolle über die Kommunikation.

Russlands militärische Überlegenheit ist erdrückend. Ein militärischer Sieg Russlands ist möglich, auch wenn er Wochen, wenn nicht Monate exzessiver Gewalt bedeuten wird. Dass Moskau bereit ist, einen Vernichtungskrieg zu führen, hat es in Groznyj, Aleppo, Homs und Idlip bewiesen. Russlands Überlegenheit wird allerdings durch türkische Drohnen, durch Stinger-Raketen, durch panzerbrechende Waffen, durch Artillerie sowie das gesamte Arsenal des Partisanen- und Guerillakrieges erheblich verringert.

Selbst wenn es Russland gelingen sollte, Kiew, Charkiv und die anderen großen Städte der Ukraine einzunehmen, wäre die Besatzung und Verwaltung der eroberten Gebiete nur durch die schnelle Errichtung einer Militärdiktatur möglich. Da die ukrainische Bevölkerung sowie die Eliten aus Politik und Wirtschaft Kollaborateure oder ein Quisling-Regime nicht akzeptieren würden, müsste Personal aus Russland oder aus dem okkupierten Donbass transferiert werden, das dann rigoros eine Zwangsverwaltung durchsetzt. Die Eroberung von Kiew und den anderen Großstädten ist für Russland nur um den Preis erheblicher eigener Verluste möglich. Die eigenen Toten lassen sich dauerhaft nicht vertuschen.

Sollte Russland ein „Siegfrieden“ gelingen, müssten anschließend die überlebenden proukrainischen Kombattanten ermordet oder in Straflager gesteckt und die ukrainische Führung abgesetzt werden. Russland müsste ein Land wieder aufbauen und regieren, das es zuvor zerstört und entvölkert hat.

Um das Risiko von Gewalt durch ukrainische Paramilitärs zu reduzieren, müssten großflächige, unterschiedslose Säuberungen folgen. Ein solcher „Sieg“ würde in der Ukraine nicht nur unermessliches Leid bedeuten, sondern Russlands politische und wirtschaftliche Isolation verstärken und das Land auf den prekären Stand der frühen 1990er Jahre zurückwerfen. Alle materiellen Grundlagen, auf denen Putins Legitimation in Russland gründete, wären zerstört. Ein solcher Sieg wäre ein Pyrrhussieg.

Die Verantwortung des Westens

Sowohl die NATO als auch die EU hatten die Widerstandsfähigkeit der Ukraine bereits vor dem Beginn der Kämpfe abgeschrieben. Die meisten westlichen Regierungen, insbesondere auch die Bundesregierung, verfolgten die Linie, dass die Ukraine sich im Falle eines Krieges angesichts der russländischen Übermacht möglichst wehrlos ergeben sollte. Das Kalkül lautete: Ein schneller militärischer Sieg Russlands hält die eigenen Kosten gering. Deshalb durften bis zum Kriegsbeginn keine Waffen an die Ukraine geliefert werden. Darüber herrschte ein parteiübergreifender Konsens. Die einen begründeten das mit pazifistischen Überlegungen, andere mit einem Rekurs auf die Entspannungspolitik, wiederum andere gaben der Aussicht auf gute Geschäfte mit Moskau den Vorzug. Doch entgegen den Erwartungen dieses „Berlin Konsensus“ wehrt sich die Ukraine tapfer. Dies erhöht den öffentlichen Druck, die bis zum 24. Februar 2022 verfolgte Politik preiszugeben.

Freilich liegt auch nun das Hauptaugenmerk auf der Reform der Bundeswehr, nicht auf dem Überleben der Ukraine. Die militärische Unterstützung der Ukraine, also die Stärkung ihrer Überlebensfähigkeit, ist nach wie vor strikt begrenzt: „Wir“ unterstützen die Ukraine nur insoweit, wie damit keine Risiken verbunden sind. Putin wird nicht wie Milošević, Saddam Hussein oder Gaddafi behandelt, weil er über Atomwaffen verfügt. Daher wird keine Flugverbotszone eingerichtet und es werden keine Kampfjets geliefert.

Bislang gilt, dass gegen Russland wegen des Angriffskriegs auf die Ukraine noch lange nicht mit der gleichen Konsequenz, Konsistenz und Kohärenz vorgegangen wird wie etwa gegen den Iran.

Der westlichen Annahme eines schnellen russländischen Siegfriedens lag immer die Vorstellung zugrunde, es würde sich um einen russländisch-ukrainischen Konflikt, nicht um einen europäischen handeln. Die Konsequenz, dass nach einem militärischen Sieg Russlands eine neue gemeinsame Grenze Russlands mit den EU- und NATO-Staaten Rumänien, der Slowakei, Ungarn und Polen entstehen würde, blieb jenseits des Kalküls. Dass Russlands Ambitionen nach einem Sieg über die Ukraine nicht unbedingt befriedigt sind, sondern dass es nach einem solchen Sieg weitergehende Ansprüche auf Moldova, das Baltikum und in Polen erheben könnte, befürchten akut nur die unmittelbar betroffenen Ostmitteleuropäer. In Berlin und Brüssel dominiert nach wie vor die Vorstellung, dass sich der Krieg durch eine „Ohne mich“-Politik begrenzen lässt – eine Fortsetzung jener Politik des Appeasements, die den Krieg überhaupt erst ermöglichte.

Atomare Abschreckung greift wechselseitig

Wenn der Westen freilich begreifen würde, dass er nicht Zuschauer, sondern Teil des Krieges ist, könnte er sein gesamtes Repertoire zum Einsatz bringen: „Lend lease“-Lieferungen an die Ukraine, die Abtrennung Russlands vom Internet, Cyberattacken, die selektive Einschränkung der kritischen Infrastruktur, etwa der Stromversorgung. Kampfjets könnten einen signifikanten Beitrag dazu leisten, Russlands Luftüberlegenheit einzuschränken. Jede Maßnahme gilt es in ihren Wirkungen und Rückwirkungen abzuschätzen. Russlands Führung weiß, dass der eigene Ersteinsatz von Atomwaffen einen atomaren Zweitschlag auslösen und damit suizidal sein würde.

Die atomare Abschreckung funktioniert seit 1949, als die Sowjetunion mit der Zündung einer Atomwaffe gegenüber den Amerikanern gleichzog. Ein Ersteinsatz der Atomwaffe durch Russland würde jede Erreichung von Putins Zielen zunichtemachen – außer er zweifelt an der atomaren Abschreckungsbereitschaft des Westens. Die Angst vor einer atomaren Eskalation hat nur einen Ansatzpunkt – den Pazifismus im Westen. Wenn ein russischer Siegfrieden also durchaus noch verhindert werden kann, wachsen damit nicht unmittelbar die Chancen für einen Waffenstillstand, gar einen „Friedensschluss“.

Szenario Verhandlungsfrieden

Ein belastbarer Waffenstillstand scheint erst dann greifbar, wenn beide Parteien erschöpft sind, das heißt, wenn keine Geländegewinne, Durchbrüche oder Rückeroberungen mehr zu erwarten sind. Die Vertreter der Ukraine und Russlands können sich auf temporäre, begrenzte Feuerpausen einigen. Ein Waffenstillstand wird jedoch vor allem von einer Drittpartei abhängen. China ist dafür am ehesten prädestiniert, wird freilich warten, bis Russland mit dem Rücken an der Wand steht und die Rettung durch China zu chinesischen Bedingungen erfolgen kann, für China also strategisch bedeutsame Kollateralgüter anfallen, z.B. der Wiederaufbau der Ukraine durch chinesische Investoren. China könnte der Ukraine die Neutralität als Preis für das Überleben eines Rumpfstaates abverlangen. Ein vermittelter, durchsetzbarer Waffenstillstand würde den militärischen Status quo festschreiben, d.h. die Ukraine teilen, die neue Demarkationslinie würde befestigt und möglicherweise durch internationale Truppen oder Beobachter, etwa eine neue OSZE-Mission, überwacht. Von Russland kontrollierte Teile würden von Personal aus den „Volksrepubliken“ von Donezk und Lugansk und aus Russland regiert, der „Staatsaufbau“ würde den Mustern der dortigen de facto-Regime folgen. Denkbar wäre auch eine vermittelnde Rolle der Türkei, allerdings hat die Türkei keine Durchsetzungsmacht gegenüber Russland. Schließlich bringt sich Israels Ministerpräsident als „Vermittler“ ins Spiel. Israel ist allerdings einzig daran interessiert, dass Russland den Iran im Zaum hält für den Fall, dass die Biden-Administration einen neuen Iran-Deal abschließt.

Der Preis eines „Verhandlungsfriedens“ wäre hoch. Russland würde sich seine Eroberungen sichern, und bald würden sich in den westlichen Staaten wieder Stimmen regen, die wie schon kurz nach der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 einen Neustart der Beziehungen zu Russland fordern. Man dürfe Putin ja nicht einseitig dämonisieren, die Gaslieferungen blieben wichtig, von den Exporten nach Russland hingen deutsche Arbeitsplätze ab, und mit Leonid Brežnevs Sowjetunion habe man ja trotz des Afghanistankrieges auch wirtschaftlich enge Beziehungen gepflegt. Das Szenario eines Waffenstillstandes wird erst wahrscheinlich, wenn die Ukraine so sehr ums Überleben ringt, dass die ukrainische Führung fast alles zu unterschreiben bereit ist, um wenigstens eine Restsouveränität zu bewahren.

Szenario Regimezerfall

Ein drittes Szenario wäre das Scheitern Russlands und der Zerfall des Putin-Regimes infolge des verlorenen Krieges und der Sanktionen. Ein Regimezerfall in Russland wird durch vier Faktoren beeinflusst. Erstens muss es unter den Siloviki, also den Repräsentanten der Gewaltapparate wie den Geheimdiensten und der Armee, die Putins eigentliche Machtbasis darstellen, zu einer Spaltung kommen, etwa weil sie kein Interesse daran haben, gemeinsam mit Putin unterzugehen und die eigenen Opfer am Selbstverständnis der Armee zehren. Dies setzt allerdings die Existenz einer korporativen Identität voraus, die vermutlich nur beim Auslandsgeheimdienst gegeben ist. Zweitens, einen nicht mehr zu unterdrückenden Aufschrei der Soldatenmütter, die den Tod ihrer Söhne beklagen und das Propagandabild des Regimes zerstören, wonach sich Russland nicht in einem Krieg befindet. Drittens, die Abkehr des Mittelstandes vom Regime infolge des freien Falls der Wirtschaft, des Verlusts von Arbeitsplätzen und des Einkommens sowie der Hyperinflation. Viertens die Flucht der Oligarchen, der bisherigen wirtschaftlichen Profiteure und Stützen des Regimes.

Mit immer schärferer Repression wird Putins Regime all dies zu verhindern trachten. Die Spielräume für kollektives Handeln sind denkbar gering. Die Aussicht auf den Einstieg in das Ende des Putinschen Regimes wird nur wahrscheinlich, wenn der Westen sich nicht mehr aus dem Krieg heraushält. Solange die NATO „nicht zum Handeln autorisiert“ (NATO = not authorized to operate) ist, hängt Putins Niederlage alleine von der Ukraine ab.