Foto: Ukrainischer Katastrophenschutz, Sasha Maslov
Foto: Ukrainischer Katastrophenschutz, Sasha Maslov

Eine neue Front im Gebiet Charkiv

Nikolay Mitrokhin, 15.5.2024

Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 115. Kriegswoche

Russland hat mit einen Angriff auf das Gebiet Charkiv eine neue Front eröffnet. Für eine Belagerung der Millionenstadt Charkiv reichen die zusammengezogenen Kräfte bei weitem nicht. Zweck des Angriffs ist ein Vorstoß in Richtung Süden auf die Stadt Kupjans’k und von dort in den Norden des Gebiets Donec’k. Westlich von Avdijivka gerät die ukrainische Armee in immer größere Probleme. Im Luftkrieg liefern sich beide Seiten einen permanenten Schlagabtausch mit Angriffen auf Kraftwerke und Raffinerien. Entscheidend für den Ausgang des Kriegs bleibt, ob die westlichen Staaten das Schwungrad ihrer Rüstungsindustrie in Gang bringen, bevor der Ukraine die Kraft zur Verteidigung ausgegangen ist.

Russland hat in der Ukraine eine neue Front eröffnet. Einen Tag nach der offiziellen Wiedereinführung von Vladimir Putin in das Amt des Präsidenten begann die Armee am 10. Mai einen Angriff auf mehrere Grenzdörfer im Gebiet Charkiv. Den Angriff führt die Gruppe „Nord“, die in Propagandamedien auch „Nordwind“ genannt wird. Sie überschritt die Grenze zwischen der nördlich von Charkiv gelegenen großen Siedlung Lipcy und der knapp 40 Kilometer östlich davon gelegenen Stadt Vovčans‘k. Am ersten Tag des Angriffs nahmen die Okkupationstruppen an drei Abschnitten der neuen Front fünf grenznahe Dörfer ein. Dort standen allerdings aufgrund des Artilleriebeschusses von russländischer Seite fast nur noch Ruinen. Am zweiten Tag des Angriffs eroberten die russländischen Einheiten nach eigenen Angaben einen Teil der wichtigen Siedlung Hlyboke. Diese liegt an der Straße, die über Lipcy nach Charkiv führt.

Am Abend des 13. Mai drangen sie in den Nordteil des vier Kilometer von der Grenze liegenden Vovčans’k ein und verbreiterten zugleich den Angriffskeil durch einen Vorstoß auf das fünf Kilometer westlich gelegene Dorf Starycja. Die meisten der zuletzt noch 3000 Einwohner von Vovčans’k sind geflohen. Westlich davon halten die Kämpfe zwischen Hlyboke und Lipcy weiter an. Die ukrainische Armee hat Truppen aus anderen Gebieten im Nordosten der Ukraine und aus südlicheren Teilen des Gebiets Charkiv an den Ort des Durchbruchs verlegt. Die ukrainische Armeeführung hatte einen Angriff auf das Gebiet Charkiv erwartet, doch offenbar nicht in diesem Ausmaß. Den angreifenden Truppen scheint es gelungen zu sein, die erste Verteidigungslinie bei Vovčans’k zu durchbrechen, der Vorstoß kann dort gegenwärtig nur gebremst werden, indem die Verteidiger die Häuser der Stadt als Deckung nutzen.

Russland hat in den vier Tagen dieser Offensive dem vorliegenden Foto- und Videomaterial nach zu urteilen rund zwei Dutzend Fahrzeuge verloren, darunter einige Panzer. Auf ukrainischer Seite gab es ebenfalls Verluste, mindestens zwei Panzer und mehrere Jeeps. Mehr als 50 ukrainische Soldaten sind in die Hände des Gegners gefallen, die meisten von ihnen aus der Territorialverteidigung von Konotop, offenbar aber auch Kämpfer der Einheit Kraken des Militärgeheimdiensts.

Die halboffiziellen russländischen Militärkanäle erklären, Ziel des Angriffs sei „die Schaffung einer Pufferzone“. Gleichzeitig bedienen sie sich der üblichen Rhetorik von der „Befreiung russischen Lands“. Militärisch betrachtet besteht der Zweck des Vorstoßes darin, Druck auf den nördlichsten Abschnitt der ukrainischen Verteidigung an der bestehenden Front auszuüben, also auf die bei Kupjans’k stehenden Truppen der Ukraine. Geht der Vorstoß nördlich von Charkiv weiter, können die russländischen Truppen diesen Einheiten in den Rücken fallen.

Der Frontverlauf ist bei Kupjans’k seit Dezember praktisch unverändert, nachdem einige Angriffe der Okkupanten mit der Zerstörung ganzer Fahrzeugkolonnen nordöstlich der Stadt geendet hatten. Erst Anfang Mai hatte Russland dort den Angriff wieder aufgenommen und die Ruinen zweier südöstlich von Kupjans’k gelegener Dörfer eingenommen. Strategisches Ziel ist allerdings nicht Kupjans’k selbst, sondern der Norden des Gebiets Donec’k, wohin die russländischen Truppen von Vovčans’k aus in südlicher Richtung durch große Waldgebiete gelangen würden, die sie im September-Oktober 2022 im Zuge der erfolgreichen ukrainischen Gegenoffensive hatten aufgeben müssen. Für einen Sturmangriff auf Charkiv, von dem viel die Rede ist, fehlt es Russland eindeutig an Soldaten und Technik. Für die Schlacht um eine Stadt dieser Größe müsste der Kreml mindestens 300 000 Soldaten dort zusammenziehen. Um auf Lyman und Izjum vorzurücken und Kupjans’k sowie den letzten ukrainisch kontrollierten Streifen des Gebiets Luhans’k einzunehmen, könnte die nach westlichen Angaben aus 35 000 Mann bestehende Gruppe „Nord“ ausreichen, sofern sie nicht auf starke ukrainische Gegenwehr trifft.

Bislang sprechen aber der Umfang und die Geschwindigkeit des Vorstoßes bei Charkiv sowie das Ausbleiben eines gleichzeitigen massiven Angriffs im Gebiet Donec’k dafür, dass Russland mit beschränkten Reserven an Munition und Fahrzeugen operiert. Einige hochrangige ukrainische Militärs sind daher weiter der Ansicht, dass der Angriff auf das Gebiet Charkiv dazu diene, ukrainische Reservekräfte zu binden, die zur Verteidigung von Časiv Jar eingesetzt werden sollten, wo in den vergangenen Wochen der wichtigste Vorstoß der russländischen Truppen stattgefunden hat. Tatsächlich stehen die Chancen bislang gut, dass die Ukraine den Angriff im Gebiet Charkiv unter gewissen Gebietsverlusten im grenznahen Bereich oder auch einiger dort gelegener Siedlungen zum Stehen bringen kann.

Die Angriffe im Donbass

Im Raum Pokrovs‘k hat sich der Vormarsch der Okkupationstruppen deutlich verlangsamt. Gleichwohl erzielten sie einige Geländegewinne. Der ukrainischen Armee ist es nicht gelungen, die Wasserbecken westlich von Archangel’s‘ke zur Verteidigung zu nutzen, so dass die gegnerischen Truppen bis an den Ostrand der Siedlung Novoaleksandrivka vorrücken konnten. Gelingt es ihnen, diese vollständig einzunehmen, dann haben sie die Straße von Pokrovs’k nach Kramatorsk unter Feuerkontrolle. Am Westufer des Flusses Vovč’ja haben sie bereits die Siedlung Umans’ke eingenommen und sind damit weiter in den Befestigungsraum eingedrungen, den die ukrainische Armee dort nach dem Fall von Avdijivka geschaffen hatte. Zwischen Očeretine und Umans‘ke ist ein neuer Kessel entstanden, in dem sich die dortigen ukrainischen Verteidigungstruppen befinden.

Der ukrainischen Führung ist bewusst, dass sich die Lage an diesem Frontabschnitt verschlechtert. Davon zeugt die Ablösung des Kommandeurs der für diesen Bereich an der Schnittstelle zwischen dem Gebiet Donec’k und dem Gebiet Zaporižžja zuständigen Armeegruppe „Chortica“. Sein Nachfolger ist der stellvertretende Leiter des Generalstabs mit Zuständigkeit für die Soldatenausbildung Michail Drapatyj, der nun zwei Funktionen ausübt.

Der Luftkrieg

Nach einem erfolgreichen ukrainischen Angriff mit Seedrohnen auf Schiffe des russländischen Geheimdienstes FSB in der Krimbucht am 6. Mai antwortete Russland erwartungsgemäß mit einem massiven Luftschlag. In der Nacht auf den 8. Mai wurden 50 Raketen auf die Ukraine abgefeuert, 39 davon konnte die ukrainische Luftabwehr abfangen. Von 21 angreifenden Drohnen erreichten 20 ihr Ziel nicht. Die 16 Raketen, die der Luftabwehr entgingen, schlugen in drei Kohlekraftwerke an verschiedenen Orten der Ukraine ein – in Dobrotvir im Gebiet Lemberg, in Ladyžins’k im Gebiet Vinnycja und in Burštyn im Gebiet Ivano-Frankivs’k. Ebenfalls getroffen wurden die Wasserkraftwerke GES-1 bei Zaporižžja sowie jenes bei Kremenčuk und eine große Umspannstation im Gebiet Poltava.

Ebenso erwartbar war die ukrainische Antwort: Ein großer Drohnenangriff auf Raffinerien und Treibstofflager. Bemerkenswert ist, dass eine Drohne in der Raffinerie bei Salafat in Baškortostan einschlug. Von dort sind es 1400 Kilometer bis zu einem möglichen Startplatz auf ukrainischem Territorium. Das Gebiet, das die ukrainische Armee mit Drohnen angreifen kann, ist nun bereits doppelt so groß wie das Territorium der Ukraine. Sie ist also in der Lage, Objekte im Ural sowie im Bereich der mittleren Wolga anzugreifen, die zusammen das „Rückgrat“ der russländischen Maschinenbauindustrie bilden. In den darauffolgenden Tagen gingen in weniger entfernten Regionen – auf besetztem ukrainischen Gebiet sowie im Bezirk Krasnodar und im Gebiet Kursk und im Gebiet Kaluga – weitere Öllager nach ukrainischen Drohnenangriffen in Flammen auf. Die Angriffe finden mittlerweile praktisch täglich statt. Am 12. Mai kam es zu einem Großbrand in einer Raffinerie in Volgograd, ebenfalls Ziel von Attacken wurde ein Öllager im Gebiet Kaluga sowie das Metallurgiekombinat in Novolipeck. Bei Angriffen auf besetztes Gebiet setzt die Ukraine nicht nur Drohnen, sondern auch die von den USA gelieferten ATACMS-Raketen ein. Und am 13. Mai griff die Ukraine mit westlichen Storm-Shadow-Raketen eine Radaranlage der Flugabwehr auf dem Aj-Petri-Berg im Süden der besetzten Krim an.

Rotation an der Spitze des russländischen Verteidigungsministeriums

Neuer Verteidigungsminister in der nach der Amtseinführung des Präsidenten umgebildeten Regierung in Moskau ist Andrej Belousov, der zuvor als stellvertretender Ministerpräsident amtiert hatte. Sein Vorgänger Šojgu, der das Amt seit 2012 bekleidet hatte, wurde auf den prestigeträchtigen, aber mit wenig Einfluss verbundenen Posten des Vorsitzenden des Sicherheitsrats gehievt. Damit ist er unmittelbarer Vorgesetzter des bei vielen unbeliebten Dmitrij Medvedev. Šojgu wurde auch das speziell zu diesem Zweck aus dem Verantwortungsbereich der Regierung ausgegliederte Amt für militär-technische Kooperation (Služba po voenno-techničeskoj kooperacii). Aus dieser Quelle werden sich offensichtlich die Unterhaltskosten für Šojgus verschiedene Paläste sowie für sein Lieblingsobjekt speisen, den im Gebiet Moskau 2014 errichteten „Park der Patrioten“.

Einen Tag nach der Bekanntgabe der Versetzung Šojgus wurden seine beiden langjährigen Stellvertreter Ruslan Calikov und Aleksej Krivoručko entlassen. Der Leiter der Hauptverwaltung Kaderrekrutierung des Ministeriums Jurij Kuznecov wurde verhaftet. Nimmt man hinzu, dass kurz zuvor bereits der stellvertretende Verteidigungsminister Timur Ivanov, der für die Liegenschaften der Armee verantwortlich gewesen war, in Polizeigewahrsam genommen wurde, so wird klar, dass die gesamte Šojgu-Gruppe von der Spitze des Ministeriums entfernt worden ist.

Diese Entscheidung Putins haben offenbar sämtliche Interessengruppen im Umfeld des Kreml begrüßt. Nicht nur galt Šojgu als zutiefst korrupt und inkompetent. Zudem genießt Belousov einen guten Ruf als Mann mit ökonomischem Sachverstand, der sich für staatliche Investitionen in Technologie-Sektoren einsetzt, worunter in Russland gegenwärtig vor allem die Rüstungsindustrie verstanden wird. Selbst die Militärblogger, die üblicherweise Personen ohne Schulterklappen skeptisch gegenüberstehen, lobten die Entscheidung und begannen, die Leistungen von Anatolij Serdjukov hervorzuheben, der in den Jahren 2007-2011 ohne vorherige Karriere in der Armee das Verteidigungsministerium geleitet hatte.

Für die Ukraine ist die Ernennung von Belousov zweifellos eine schlechte Nachricht. Es könnte ihm gelingen, mehr Mittel in die Ausrüstung der Armee fließen zu lassen statt sie für das Luxusleben der Generalität zu verwenden. Auch hat er das Potential, bürokratische Strukturen zu straffen und die Produktion neuer Waffensysteme voranzubringen, so dass sich der Rüstungswettlauf auch für die westlichen Partner der Ukraine verschärft. Zunächst stellt sich aber die Frage, ob die westlichen Staaten das Schwungrad ihrer Rüstungsindustrie rechtzeitig in Gang bringen, um die Ukraine mit mehr Waffen und Munition zu versorgen. Andernfalls wird die Ukraine diesen Krieg verlieren oder zu äußerst ungünstigen Bedingungen einstellen müssen.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden. Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.