Erklärung zum Krieg von FACE

Mein Name ist Ivan Drëmin, besser bekannt unter meinem Künstlernamen FACE. Ich bin Russe, ich bin in Russland geboren und habe dort mein gesamtes Leben verbracht. Seit dem Beginn des Krieges zwischen Russland und der Ukraine haben mich viele Menschen gefragt, warum ich mich nicht äußere, warum ich schweige.

Ich möchte euch sagen, was in den letzten zwei Wochen mit mir geschehen ist. Meine Antwort ist: Ich stand unter Schock, ich war wie betäubt. Ich kann immer noch nicht glauben, dass dies geschehen ist und immer noch andauert. Dass mein Land darin verwickelt ist, dass die Menschen, mit denen ich befreundet war, es „verstehen“ und manche es sogar gutheißen. Menschen, die meine Nachbarn waren, die ich beim Einkaufen getroffen habe.

Viel schlimmer noch ist, dass auf der anderen Seite ein Land steht, das ich auch sehr liebe, ein Frischluftrohr für den gesamten Raum der ehemaligen Sowjetunion, fast der einzige freie Winkel in diesen Landen. Ich bin immer gerne in die Ukraine gefahren. Ja, manchmal hatte ich Schwierigkeiten an der Grenze, aber am Ende wurde ich immer herzlich aufgenommen, als Freund. Odessa, Charkiw, Dnipro, Kiew – in all diesen Städten war ich, in den meisten mehrmals. Es war immer richtig cool, vor allem im Herbst 2021, mein Team und ich werden uns immer an diese Reise erinnern und ich hoffe, wir werden uns alle wiedersehen, und nicht nur einmal.

Wer ist schuld daran, dass das passiert ist?

Ich möchte, dass ihr meine Meinung kennt.

Zu allererst der russländische Staat. Ich weiß, was für Menschen das sind. Fast sieben Jahre lang habe ich mit den Behörden gekämpft, damit mein Musikprojekt in meinem eigenen Land überleben kann. Ich habe verloren, ich habe eine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg. Diese Leute waren nie in der Lage, mir ins Gesicht zu sagen, dass ich ihr Feind bin. Sie nennen sich Träger des russischen Geistes. Aber es sind mit Dollarscheinen vollgestopfte Feiglinge. Sie fallen dir in den Rücken, werfen dir Knüppel zwischen die Beine, drohen Organisatoren und Veranstaltern und sagen dann den Medien, dass du ein Lügner bist. Ich bin Musiker, ich wollte einfach nur Musik machen, sie auf die Bühne bringen, aber selbst das ist im heutigen Russland fast unmöglich, wenn man nicht jeden Tag auf der Hut ist.

Wer ist noch schuld?

Der größte Teil unseres Volks trägt Schuld. Diejenigen, die ihren Kopf nicht zum Denken einsetzen. Diejenigen, die jetzt über das "Z" jubeln.[1] Hätte mein Urgroßvater, der den ganzen Krieg bis nach Berlin durchgemacht hat und mit dem Suvorov-Orden ausgezeichnet wurde, euch gesehen, hätte er gewusst, dass ihr euch 75 Jahre später euer eigenes Hakenkreuz bastelt und euch als Befreier Europas betrachtet, dass ihr ehrenlos im Morgengrauen in ein Bruderland eingefallen seid, das nur ein Dreißigstel so groß ist wie unser Land – er hätte sich eher erschossen, als für euch zu kämpfen.

Wer ist sonst noch schuld?

Ich, die ganze Intelligenzija, alle Stimmen unserer Generation, alle Musiker. Weil keiner von uns genug Mut hatte. Weil wir mehr hätten tun können, aber Angst hatten oder zu faul waren. Weil wir die Tatsachen zu spät erkannt haben.

Abschließend möchte ich drei Dinge sagen.

Erstens fordere ich unsere Regierung und unsere Armee auf, zur Vernunft zu kommen und die Vernichtung der Städte und der Menschen unseres Brudervolkes einzustellen.

Zweitens: Ich bitte das gesamte ukrainische Volk um Vergebung für all das Leid, das unser Land Ihnen zufügt. Ich bitte um Vergebung für unseren Staat, für mich selbst, für unser Volk, denn irgendjemand muss es ja tun, und die Dinge liegen wieder mal so, dass Menschen wie ich diese Aufgabe übernehmen müssen, denn das eigentliche Böse hat nie den Mut, sich auch nur selbst einzugestehen, welche Verbrechen es begeht.

Drittens, zu mir und meiner Arbeit: Als Künstler aus Russland bin ich praktisch nicht mehr existent. Ebenso als Staatsbürger. Ich werde keine Steuern mehr in Russland zahlen, ich habe das Land verlassen und werde nicht mehr nach Russland zurückkommen. Ich werde keine Konzerte mehr in Russland geben. Warum? Weil ich zusammen mit allen meinen Freunden vertrieben wurde, vertrieben aus meinem eigenen Haus, aus meinem eigenen Land, vertrieben von eurem Staat, den ich von dieser Sekunde an endgültig nicht als meinen Staat anerkenne; vertrieben von unserem Volk, das sich einen Dreck um alles schert, solange es genug Geld hat für die Butter auf’s Brot. Eines Tages wird Russland ein anständiger Staat werden, mit Menschen, die eine moderne und vernünftige Mentalität haben. Aber leider ist das heute nicht der Fall. Ich hoffe, eines Tages meine Familie wiederzusehen und meine Fans ‑ und für mein Volk auf Russisch zu singen. Ich glaube daran, dass dies irgendwann geschehen wird. Ob es euch gefällt oder nicht: Die Zukunft Russlands gehört Leuten wie mir, nicht euch. Die Zukunft Russlands gehört Menschen mit Pinseln und Mikrofonen in der Hand, nicht solchen mit Maschinengewehren und Granaten. Die Zukunft Russlands gehört dem Geist und der Freiheit. Wir sind die Zukunft Russlands.

No war! Freiheit für die Ukraine! Freiheit für die politischen Gefangenen! FACE.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel
Quelle: https://t.me/durovkgb


[1] Fotos von Militärfahrzeugen der in die Ukraine einmarschierten russländischen Truppen zeigen, dass einige von diesen mit einem „Z“ markiert sind. Die staatliche Propaganda hat seitdem eine patriotisch-nationalistische Bewegung angefeuert, die das „Z“ zu ihrem Symbol gemacht hat. Sie deutet das Zeichen oft als Kürzel für die Parole „Za pobedu!“ – „Für den Sieg!“ – Red.