Volodymyr Zelens’kyj bei der 128. Gebirgsjäger-Brigade aus Transkarpatien, Stepnohirs’k, Gebiet Zaporižžja, 13.11.2025
Volodymyr Zelens’kyj bei der 128. Gebirgsjäger-Brigade aus Transkarpatien, Stepnohirs’k, Gebiet Zaporižžja, 13.11.2025

Erschütterung an beiden Fronten

Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 190. Kriegswoche

Nikolay Mitrokhin, 17.11.2025

Die Ukraine wird von einem schweren Korruptionsskandal erschüttert. Dieser wirft weitreichende Fragen auf und bringt auch die westlichen Unterstützer des Landes unter Druck. In Pokrovs’k gehen die Kämpfe weiter, doch die Stadt und ihre Agglomeration sind verloren. Große Gefahr droht der Ukraine im Südabschnitt der Front, wo die Besatzungsarmee durch die lückenhaften Verteidigungsstellungen auf die Großstadt Zaporižžja vorrückt.

Die Ukraine ist Mitte November von einem schweren Korruptionsskandal erschüttert worden. Dieser wird möglicherweise langfristige Konsequenzen auch für die Außenbeziehungen haben. Im Zentrum der unter dem Codenamen „Midas“ geführten Ermittlungen des Amts für Korruptionsbekämpfung NABU steht Timur Mindič, ein Unternehmer aus dem engsten Umfeld von Präsident Zelens’kyj. Mindič war es wahrscheinlich, der Zelens’kyj Ende der 2000er Jahre mit Ihor Kolomojs’kyj bekannt gemacht hat. Mit der Tochter des Oligarchen, dessen Beziehung zu Zelens’kyj nach dessen Wahl ins Präsidentenamt 2019 eine der Schlüsselfragen für die weitere Entwicklung der Ukraine war, führte Mindič eine Beziehung, bevor er die Tochter der 2019 verstorbenen russischen Modeunternehmerin Alla Verber heiratete. Mindič ist ebenfalls eng mit Andrij Ermak verbunden, der als Leiter von Zelens’kyjs Präsidialadministration faktisch zweiter Mann im Staat ist.

Mindič hält 50 Prozent der Anteile an Zelens’kyjs Produktionsfirma Kvartal-95, die bis heute Fernsehshows und anderen Unterhaltungscontent herstellt, aber auch Restaurantkonzepte entwickelt und im Modehandel sowie in vielen anderen Sparten tätig ist.

Mit Mindič wird auch das Unternehmen Fire Point in Verbindung gebracht, das für das Verteidigungsministerium schwere Angriffsdrohnen sowie die neue Flamingo-Rakete produziert. Ermittlungen gegen dieses Unternehmen wegen mutmaßlich überhöhter Kostenrechnungen gab das Amt für Korruptionsbekämpfung Ende August bekannt.

Nun nahm das NABU Mindič jedoch von anderer Seite ins Visier. Im Zentrum der Ermittlungen, mit denen die Behörde jetzt an die Öffentlichkeit ging, steht eine Gruppe früherer Staatsbediensteter, die die Vergabe von Reparatur- und Zuliefereraufträgen für Enerhoatom kontrolliert. Der AKW-Betreiber ist einer der größten Energiekonzerne der Ukraine. Formal handelt es sich um ein Staatsunternehmen, die Abhörprotokolle des NABU zeigen jedoch, dass der AKW-Betreiber faktisch von einer Gruppe von Männern gelenkt wurde, die vormals in Kontakt zu dem ehemaligen Abgeordneten der Verchovna Rada Andrij Derkač standen. Derkač ist in der Ukraine zum russländischen Spion erklärt worden und daraufhin nach Russland geflohen. Dort ist er mittlerweile Mitglied des Föderationsrats. Auf den Aufnahmen ist zu sehen, wie die Männer in Derkačs Büro sitzen und ihm seinen Anteil an ihren Geschäften auszahlen. Seit Derkačs Flucht unterstanden sie Mindič und zahlten regelmäßig hohe Bestechungsgelder an den im Juli 2025 entlassenen stellvertretenden Ministerpräsidenten für Energiepolitik Oleksij Černyšev, an den vormaligen Energie- und heutigen Justizminister German Halušenko sowie an seine Nachfolgerin auf dem Posten des Energieministers Svetlana Hrynčuk. Diese war, wie jetzt herauskam, auch Halušenkos Geliebte. Alleine in den vergangenen drei Jahren hätten die Männer im Zusammenhang mit Aufträgen von Enerhoatom 100 Millionen US-Dollar abgezweigt.

Wenige Stunden vor der Razzia des NABU verließen Mindič und sein Finanzdirektor Oleksandr Cukerman das Land. Wo sie sich aufhalten, ist unbekannt, man kann davon ausgehen, dass sie in Israel sind, dessen Staatsbürgerschaft sie besitzen.

Die Beamten des NABU haben faktisch ein geheimes Machtzentrum aufgedeckt, eine Parallelregierung, die in der Ukraine bereits in Analogie zum Kabmin – der Bezeichnung für das „Ministerkabinett“, also der Regierung – „Kabmindič“ genannt wird.

Der Korruptionsskandal, der sich aller Voraussicht nach noch ausweiten wird, hat selbst für ukrainische Verhältnisse enorme Ausmaße. Ein Präsident, der mit dem Versprechen ins Amt gekommen ist, die Korruption auszumerzen, lässt zu, dass hinter seinem Rücken Männer aus seinem engsten Freundeskreis mindestens im Energiesektor die staatliche Hierarchie unterlaufen. Es geht nicht nur darum, dass bei der Vergabe von Aufträgen Gelder „abgeführt“ wurden. In den abgehörten Gesprächen lehnen es die Männer auch ab, Mittel von Enerhoatom zu verwenden, um Umspannwerke gegen Drohnenangriffe zu schützen. Hier geht es nicht mehr nur um Korruption, sondern um die nationale Sicherheit, denn ohne den Strom aus den von Enerhoatom betriebenen AKWs müssen die ukrainischen Rüstungsunternehmen ihren Betrieb einstellen und die ukrainischen Städte werden im Dunkeln sitzen.

Mindič kontrolliert mit seinen fast unbegrenzten Lobbymöglichkeiten also sowohl die teils aus westlichen Geldern bezahlte Instandsetzung von Anlagen des Energiesektors, die Russland mit Drohnen und Raketen zerstört hat, als auch die Aufträge zur Produktion von Angriffsdrohnen und Raketen – auf Zahlungen an Fire Point entfallen rund zehn Prozent des ebenfalls aus dem Westen gestützten ukrainischen Verteidigungsbudgets. Daher drängt sich die Frage auf, ob es einen Zusammenhang gibt. Wenngleich darüber wenig geschrieben wird, so ist es doch offensichtlich, dass Russland und die Ukraine bei den wechselseitigen Luftangriffen gewisse Vergeltungsrituale einhalten und es geheime Absprachen über die Begrenzung von Angriffen gibt, auf deren Bruch eine entsprechende Antwort folgt. Eine solche Absprache etwa ist der Verzicht auf den Beschuss ziviler Schiffe in den Häfen des Gegners. Zu Angriffen auf große Brücken und die Energieinfrastruktur ging Russland erst nach dem Anschlag auf die Krimbrücke im Oktober 2022 über. Die Eisenbahninfrastruktur war von kleineren Ausnahmen abgesehen lange kein Ziel von Luftangriffen. Dies änderte sich nach den Anschlägen des ukrainischen Geheimdiensts Ende Mai und Anfang Juni 2025. Und nach einem weiteren Anschlag des ukrainischen Militärgeheimdiensts HUR auf die für den Transport von Munition aus Nordkorea genutzte Trasse der Transsibirischen Eisenbahn, bei dem nach Angaben des Kiewer Verteidigungsministeriums am 12. November im Gebiet Chabarovsk ein Güterzug entgleiste, folgte wenige Tage später ein Anschlag auf einen Abschnitt des Schienennetzes in Polen, der nach den Worten von Ministerpräsident Tusk von zentraler Bedeutung für Hilfslieferungen an die Ukraine ist.

Die Chronik des Luftkriegs zeigt, dass Russlands Militärführung keineswegs gewillt ist, die Luftschläge gegen die Ukraine zu reduzieren oder Absprachen über die Begrenzung solcher Attacken zu verlängern. Geschieht dies aber doch, wie etwa im Sommer 2025 unter dem Einfluss der USA, so wird dies rasch von einem Anschlag der ukrainischen Geheimdienste SBU oder HUR untergraben, auf den schwere Luftangriffe gegen ukrainische Energieanlagen folgen, worauf die Ukraine mit Drohnenangriffen reagiert. Fest steht nach den Veröffentlichungen des NABU, dass sowohl bei der Instandsetzung zerstörter oder beschädigter Infrastruktur wie auch bei der Produktion von immer mehr Angriffsdrohnen Gelder abgezweigt werden, die in die gleiche Richtung fließen.

Zur Veranschaulichung der Dimension des Korruptionsproblems sei daran erinnert, dass die 2024 geschaffene Truppengattung „Unbemannte Systeme“ von Robert Brovdi – Kampfname „Mad’jar“ (der Ungar) – geleitet werden, dem ukrainische Investigativjournalisten im Jahr 2014 anlasteten, noch unter Präsident Janukovyč als stellvertretender Vorstand des Unternehmens DPZKU (Deržavna prodovol’na-zernova korporacija Ukrajiny/Staatliche ukrainische Lebensmittel- und Weizenkorporation) eine Schlüsselrolle bei dem Diebstahl eines von China vergebenen Kredits über 1,5 Milliarden US-Dollar gespielt zu haben, der mit der Lieferung von Weizen in die Volksrepublik beglichen werden sollte. Geliefert wurde nur die Hälfte der vereinbarten Weizenmenge, und die Ukraine weigerte sich viele Jahre, die verbleibende Kreditsumme zurückzuzahlen. Nach der Ernennung Brovdis zum Kommandeur der Drohnenstreitkräfte Anfang Juni 2025 entschied die Regierung jedoch drei Monate darauf, die Angelegenheit zu bereinigen.

Ukrainischen Experten bezweifeln den Effekt der erheblichen Finanzmittel, welche die Ukraine für die Produktion schwerer Angriffsdrohnen aufwendet. Diese Mittel fehlen etwa bei der Ausstattung des Heers mit gepanzerten Fahrzeugen oder der Herstellung anderer Waffengattungen.

Bislang sind in der Ukraine zwei Reaktionen auf den Skandal zu beobachten. Präsident Zelens’kyj hat sich von Mindič und dessen Männern distanziert. Der „Rat für Nationale Sicherheit und Verteidigung“ hat Mindič und Cukerman mit Sanktionen belegt, ihnen alle bürgerlichen Rechte entzogen und sämtliche Vermögenswerte in der Ukraine eingefroren. Die beiden kompromittierten Minister sind zurückgetreten, die des Diebstahls Verdächtigten bei Enerhoatom wurden entlassen, der Aufsichtsrat des Unternehmens aufgelöst. Zelens’kyj hat eine Neuaufstellung der staatlichen Unternehmen im Energiesektor angekündigt. Die Regulierungskommission für den Energiesektor und die kommunalen Dienste wird neu besetzt. Auch an der Spitze der staatlichen Vermögensverwaltung, der Atomaufsichtsbehörde und der Regulierungsbehörde für den Energiesektor wird es neue Personalien geben.

All das beeindruckt die westlichen Partner der Ukraine bislang nicht. In den USA wusste man wohl bereits schon lange von den Ermittlungen des NABU, denn die CIA hat in der Behörde einen Verbindungsoffizier. Washington reagierte zurückhaltend auf die Enthüllungen, die europäischen Partner der Ukraine zeigten sich besorgter. Die Regierungen der großen Unterstützerstaaten müssen den Druck der Opposition fürchten, die fragt, wie der Ukraine in solchem Umfang Mittel zur Verfügung gestellt werden, ohne sicherzustellen, dass diese bestimmungsgemäß verwendet werden.

Die Lage an der Front

Die Kämpfe in der Agglomeration von Pokrovs’k halten an. Die ukrainische Armee operiert recht erfolgreich nördlich von Myrnohrad. Dort drängt sie die russländischen Truppen bei Šavchove als auch bei Rodynske zurück. In Rodynske – dem westlichsten Punkt der Zange, mit der Russlands Armee die Agglomeration umschlossen hat – sind die Besatzungssoldaten faktisch umzingelt. Die ukrainischen Einheiten versuchen jetzt, über Červonyj Lyman nach Myrnohrad vorzudringen.

Weiter westlich gelang es russländischen Soldaten allerdings über die Felder vorzudringen und den Ring um die Agglomeration praktisch zu schließen. Mittlerweile stellt sich die Frage, wozu die dort weiter kämpfenden ukrainischen Soldaten in dem Kessel gehalten werden. Die Verluste sind hoch und Pokrovs’k ist zweifellos verloren. In den ukrainischen Medien sind Spekulationen aufgetaucht, es ginge darum, vor einer weiteren Gesprächsrunde dem US-Präsidenten die Durchhaltekraft der ukrainischen Armee zu zeigen. Doch dies ist nicht überzeugend. Ist ein Rückzug aus dem Kessel nicht mehr möglich, müssen sich Hunderte, wenn nicht Tausende Soldaten ergeben und gehen in Kriegsgefangenschaft – darunter Dutzende Drohnenführer. Dies wäre nicht nur eine große mediale Niederlage für Zelens’kyj und die ukrainische Militärführung. Die Soldaten würden auch bei der Verteidigung der mittlerweile westlich von Pokrovs’k errichteten Stellungen fehlen. In Avdijivka und Vuhledar war genau dies geschehen, was den Besatzungstruppen ein rascheres Vorrücken ermöglicht hatte.

Südwestlich von Pokrovs’k gelang den Besatzungstruppen ein Durchbruch bei Novopavlika, einer Siedlung im Zentrum ausgebauter Stellungen, die der russländischen Armee den Weg in die im Gebiet Dnipropetrovs’k gelegene Großstadt Pavlohrad versperren soll. Sie errichteten im Schutze von dichtem Nebel eine Ponton-Brücke über die Vol’čja und brachten so zehn Panzer bis an den Ostrand von Novopavlika.

Besonders kritisch ist die Lage der Ukraine im Raum Huljaj-Pole im Gebiet Zaporižžja. Russlands Armee rückt dort in einem Bereich vor, in dem es nur wenige ukrainische Befestigungsanlagen gibt, die ukrainischen Truppen ziehen sich langsam zurück. Der Schwerpunkt des in ost-westlicher Richtung mit Ziel auf die Großstadt Zaporižžja geführten Vorstoßes liegt 30 Kilometer nördlich von Huljaj-Pole. Am 12. November sah sich der Sprecher der ukrainischen Armeegruppe Süd gezwungen, den Verlust von mehreren Ortschaften bekanntzugeben. Am 13. November besuchte Zelens’kyj im Gebiet Zaporižžja Soldaten an der Front. Zwar hielt er sich im 30 Kilometer westlich von Huljaj-Pole gelegenen Orichiv auf, wo die ukrainische Armee vor einem Monat die Besatzer daran hindern konnten, mit einer Kolonne gepanzerter Wagen in die Kleinstadt einzudringen. Doch die Lage nördlich von Huljaj-Pole ist Zelens’kyj bewusst und er hat versprochen, mehr Ressourcen für diesen Abschnitt zur Verfügung zu stellen.

Unterdessen hat sich die Lage weiter verschärft. Die Besatzungstruppen gelangten nach der Befestigung des Ufers des Jančur am 17. November bis zu dessen Mündung in den Gajčur. Entlang dieses Flusses zieht sich eine Kette von Siedlungen, die durch die Straße P-85 verbunden ist, über die Huljaj-Pole und die umliegenden Verteidigungsanlagen in diesem Raum versorgt werden. Diese Straße haben die Besatzer nun bei Danylivka unterbrochen. Zwar führt eine zweite Verbindung von Westen in die Kleinstadt und die stationierten Einheiten sind gut ausgestattet, da sie bislang ihre Munitionsvorräte nicht antasten mussten. Doch dies wird sich ändern. Die Entwicklung deutet darauf hin, dass der Ort in den kommenden Wochen aufgegeben werden muss. Die Truppen des östlich von Huljaj-Pole gelegenen Frontabschnitts ziehen sich rasch in die Kleinstadt zurück. Ein am 16. November verbreitetes Video zeigt zwei ukrainische Soldaten, die versuchen, sich den russländischen Truppen zu ergeben – und von diesen erschossen werden. 20 Minuten später hatten ukrainische Drohnenpiloten die Kriegsverbrecher ausgemacht und eliminiert. Nordöstlich von Huljaj-Pole stehen die Besatzer nach der Einnahme der Ortschaft Jablukove bereits acht Kilometer vor dem Ort.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.