Erste Erfolge, ausbleibender Durchbruch

Nikolay Mitrokhin, 3.7.2023

Die 71. Kriegswoche

Die Ukraine kann vier Wochen nach dem Beginn ihrer Gegenoffensive an mehreren Frontabschnitten im Osten und im Süden erste größere Geländegewinne melden. Von einem Durchbruch durch die russländischen Verteidigungslinien kann allerdings noch keine Rede sein. Riesige Minenfelder, Luftüberlegenheit des Gegners, besser organisiert auftretende russländische Truppen sowie Munitionsmangel und schlechtes Wetter sind die Gründe. Die Zeit läuft gegen die Ukraine.

Vier Wochen nach Beginn der ukrainischen Gegenoffensive zeichnet sich der korrigierte Plan Kiews deutlicher ab. Bei zahlreichen Versuchen, mit kleineren Angriffen eine geeignete Stelle für einen Durchbruch zu finden, hat die ukrainische Armee die größten Erfolge an der Frontausbuchtung bei Vremivka nahe der Kleinstadt Velyka Novisilka erzielt. Nach zwei Wochen schwerer Kämpfe hat die russländische Armee im Verlaufe der 71. Kriegswoche mit Rovnopil‘, die im Norden der Ausbuchtung liegt, die letzte Siedlung in diesem Frontabschnitt aufgegeben und sich um einige Kilometer nach Süden zu ihrer zweiten Verteidigungslinie zurückgezogen. Die ukrainischen Truppen versuchen nun, die Verbindungsstraßen zwischen den am Rand der beseitigten Ausbuchtung gelegenen Dörfer unter ihre Kontrolle zu nehmen.

Ein anderer Durchbruchsversuch konzentriert sich auf das weiter westlich gelegene Orichiv. Südlich davon ist es ukrainischen Verbänden gelungen, die Front um 1,5 Kilometer in Richtung auf das Dorf Robotyne zu verschieben. Die Verteidigungsstellungen dort konnten sie allerdings nicht einnehmen.

An beiden Stellen hat Russland in der letzten Juni-Woche erhebliche Verluste erlitten, insbesondere in den Reihen der sogenannten Z-Sturm-Brigaden, die aus Strafgefangenen gebildet wurden, welche das Verteidigungsministerium unter Vertrag genommen hat. Ukrainische Einheiten haben in der vergangenen Woche mehr als ein Dutzend Videos veröffentlicht, in denen FVP-Drohnen[1] russländische Panzer in Frontnähe zerstören, kleine Gruppen von Soldaten in Gefangenschaft genommen werden oder die Körper getöteter Soldaten zu sehen sind. Eine so große Anzahl entsprechender Aufnahmen hatte es seit Herbst nicht mehr gegeben. Bestätigt werden die Bilder durch Hinweise, dass Russland neue Kräfte an die vorderste Front verlegen musste.

Auch im südlichen Frontabschnitt verstärkte die Ukraine ihre Aktivitäten. Zwei Wochen lang hielten Landungstruppen einen Brückenkopf an der Stelle, wo die zerstörte Antonivka-Brücke von Cherson nach Aleški über den Hauptarm des Dnipro dessen linkes Ufer erreicht. Von dort sind es noch drei Kilometer bis Aleški, das Gelände ist von Auenwiesen, Seitenarmen des Dnipro, kleinen Seen und sumpfigen Stellen geprägt. Am Ufer des Hauptarms befindet sich die Datschensiedlung von Aleški. Von der Brücke und dieser Siedlung führt nur eine einzige kleine Straße in die Stadt. Nach der Überschwemmung, die die Sprengung der Staumauer des Kachovka-Sees ausgelöst hatte, konnten sich ukrainische Landungstruppen in der Stärke einer kleinen Kompanie (ca. 100 Soldaten) an dieser Stelle festsetzen. Vor Artilleriebeschuss werden sie von den mächtigen Brückenpfeilern und der Fahrbahnplatte von oben geschützt. Vor direkten gegnerischen Angriffen sind sie einerseits durch das schwierige Gelände geschützt, andererseits geben ihnen die eigenen Truppen auf der anderen Seite des Dnipro Artillerie- und Mörserdeckung. Auch war es ukrainischen Trupps gelungen, den Streifen zwischen Aleški und dem Ufer zu verminen. Die russländischen Kriegsberichterstatteter beklagten über zwei Wochen, dass die russländischen Einheiten bei dem Versuch, die ukrainischen Landungstruppen zu vertreiben, erhebliche Verluste an Soldaten und Fahrzeugen erlitten hätten. Russland griff dann jedoch am 30.6. die Brückenreste mit einer schweren Iskander-Rakete an, bei dem eine der beiden parallelen Fahrbahnplatten zwischen dem ersten und dem zweiten Brückenpfeiler zerstört wurde. Möglicherweise führte der Angriff auch zu Opfern unter den ukrainischen Truppen, die sich nach der Attacke auf das rechte Ufer zurückzogen. Aufnahmen von getöteten Soldaten oder Gefangenen gibt es jedoch keine.

Offensichtlich war die Landung am linken Dnipro-Ufer nicht nur ein Ablenkungsmanöver, sondern diente auch der Erkundung, ob es gelingen kann, an dieser Stelle einen Ponton-Übergang über den Dnipro zu verlegen und nach der Befreiung von Aleški mindestens nach Skadovs'k am Asowschen Meer vorzustoßen. Dies ist jedoch nicht gelungen. Warum der Plan scheiterte, bleibt vorerst unklar. Möglicherweise hat der Landungstrupp festgestellt, dass in den kommenden Wochen Durchbrüche über die Auenwiesen, jenseits der unter gegnerischem Feuer liegenden Straße nicht möglich sind und dass es daher sinnlos ist, das Leben von Soldaten der Landungstrupps in Gefahr zu bringen.

An anderen Frontabschnitten konnte die Ukraine nur südlich und westlich von Bachmut minimale Erfolge erzielen. Dort überschritten ihre Truppen einen Kanal und drangen um einige Hundert Meter zum südlichen Stadtrand von Kurdjumivka vor, einer wichtigen Verteidigungsstellung der russländischen Armee in diesem Raum. Zugleich nimmt die ukrainische Armee die nördlichen Vorstädte von Soledar unter Feuer.

Eine weitere potentielle Stoßrichtung der ukrainischen Armee zeichnete sich am 30. Juni ab. Nach Angaben russländischer Quellen haben sechs ukrainische Brigaden russländische Truppen nordwestlich von Kreminna angegriffen. Sollte die Ukraine dort tatsächlich so starke Truppen zusammengezogen haben, dann ist ihr Ziel sicherlich, Kreminna zu umgehen, um östlich davon die Agglomeration von Lysyčans’k und Severodonec’k zu befreien. Dort hat Russland allerdings bereits im Herbst massive Verteidigungsanlagen errichtet.

Trotz der in der vierten Woche der Gegenoffensive verzeichneten Erfolge bleiben diese hinter den Erwartungen zurück. Zentraler Grund ist zweifellos, dass die Verteidigungsstellungen der russländischen Armee noch schwerer einzunehmen sind, als die Ukraine es sich erhofft hatte. Insbesondere die Minenfelder bereiten große Probleme. Hinzu kommen der Mangel an Artilleriegranaten sowie die starken Regenfälle im Juni, die den Einsatz schwerer Fahrzeuge erheblich behindert haben. All dies ändert jedoch nichts daran, dass die Ukraine unter Druck steht.

Am 1. Juli erklärte Präsident Zelens’kyj bei seiner allabendlichen Ansprache, dass die ukrainische Armee bis zum NATO-Gipfel am 11.-12. Juli in Vilnius „Ergebnisse zeigen“ müsse. Den sorgsam gewählten Worten westlicher Politiker und mit dem Krieg in der Ukraine befasster Verantwortlicher ist zu entnehmen, dass es ohne baldige sichtbare Erfolge bei aller Unterstützung der Ukraine in nicht allzu ferner Zeit zu einem Kurswechsel kommt und der Ukraine dann Waffenstillstandsverhandlungen mit Russland nahegelegt werden. Einige für die Ukraine sehr wichtige Waffenlieferungsprogramme werden bereits eingefroren, etwa die Lieferung von Kampfflugzeugen, die grundsätzlich Ende April bereits vereinbart worden war. Zelens’kyj klagte bei einer Pressekonferenz öffentlich, dass es „keinen Zeitplan für die Ausbildung ukrainischer Piloten an F-16-Maschinen gibt. Einige Partner zögern das heraus. Warum, weiß ich nicht.“

Der Luftkrieg und der Angriff auf Kramators'k

Die Zahl der Luftangriffe auf Ziele im rückwärtigen Raum beider Kriegsparteien ist in den letzten Junitagen im Vergleich zu den vorhergehenden Wochen zurückgegangen. Gleichwohl hat die ukrainische Flugabwehr im gesamten Monat 144 Marschflugkörper, 153 Drohnen und einige Hyperschallraketen vom Typ Kinžal abgefangen, im Durchschnitt also zehn Flugkörper pro Tag. Wie viele ihr Ziel erreicht haben, gibt das ukrainische Verteidigungsministerium nicht an. Zum Vergleich: Im Mai 2023 hatte Russland 198 Raketen auf die Ukraine abgeschossen, von denen 177 abgefangen worden waren. Angriffsdrohnen hatte Russland im Mai über 400 gegen die Ukraine eingesetzt. Im April 2023 hatte die Ukraine 228 Raketen und Drohnen abgeschossen sowie 21 Marschflugkörper.

Ein erneutes Beispiel für den verbrecherischen Charakter der russländischen Angriffe lieferte der Einschlag einer Iskander-Rakete im Zentrum von Kramators'k. Sie traf ein Haus, in dem sich im Erdgeschoss eine vielbesuchte Pizzeria befand. Moskau erklärte, in dem Gebäude habe ein Treffen ukrainischer Kommandeure stattgefunden. Für diese Behauptung spricht, dass von der Polizei nach dem Angriff gemachte Fotos vom Einschlagsort eine größere Anzahl hochwertiger Militärjeeps vor dem Gebäude zeigen und dass bei der Suche nach Überlebenden in den Trümmern eine große Zahl von Militärangehörigen höherer Ränge, wahrscheinlich Offiziere und Angehörige von Spezialeinheiten, beteiligt waren. Bei dem Angriff starben jedoch auch 12 Zivilisten, darunter zwei Schwestern im Alter von 17 und 14 Jahren sowie ein weiteres Mädchen unter 18 Jahren, die in dem Restaurant gesessen hatten. Ein Angriff auf ein solches Ziel, wo sich bekanntermaßen Zivilisten aufhalten, ist ein eindeutiges Kriegsverbrechen.

Gleichwohl stellt sich die Frage, warum im nur 30 Kilometer von der Front entfernten Kramators'k öffentliche Restaurants geöffnet haben, und dies in ungeschützten Gebäuden. Kramators'k ist das Kommandozentrum für die gesamte im Donbass stationierte ukrainische Armeegruppe und wurde daher in den vergangenen Monaten immer wieder mit ballistischen Raketen beschossen, die in so kurzer Entfernung nicht nur nicht abgefangen, sondern nicht einmal bemerkt werden können. Bereits im Herbst 2022 hatten die ukrainischen Behörden eine Zwangsevakuierung der Zivilbevölkerung aus dem Gebiet Donec’k verkündet. Die Umsiedlung von Minderjährigen wurde mehrfach als vorrangige Aufgabe bezeichnet. Stattdessen erfreut sich in der unter Beschuss liegenden Stadt ein Restaurant regen Besuchs, und Minderjährige halten sich an einem Ort auf, wo Militärangehörige zusammenkommen, ohne dass man versucht hat, das Treffen geheimzuhalten.

Vor nicht allzu langer Zeit sind in Kiew Kinder ums Leben gekommen, weil der Schutzbunker, in dem sie sich nach dem Luftalarm verstecken wollten, verschlossen war. Eine Untersuchung zeigte, dass fast die Hälfte der Bunker in der Stadt nicht geöffnet waren und zudem für große Summen eine nicht besonders zwingend benötigte Ausstattung für eine Reihe von Bunkern angeschafft worden war. Dies hätte Bürgermeister Vitalij Klyčko fast den Posten gekostet. Die Angelegenheit ist noch nicht vorüber. Präsident Zelens’kyj hat gerade vier weitere Verwaltungschefs von Stadtbezirken entlassen, insgesamt sind es bereits acht. Und im Rathaus von Kiew werden weiter Unterlagen beschlagnahmt.

Die Ukraine beschießt im Gegenzug zu den russländischen Angriffen weiter Großstädte im besetzten Teil des Gebiets Zaporižžja mit britischen Storm-Shadow-Raketen. Ziel sind vermutlich Lager der Armee des Gegners. In Melitopol’ gab es am 28. Juni acht Einschläge, in Berdjans’k wurden nach Angaben der ukrainischen Militärführung bei elf Explosionen ein Stabsgebäude und ein Treibstofflager zerstört. Auch die 100 Kilometer südöstlich von Zaporižžja gelegene Kleinstadt Tokmak sowie das 50 Kilometer westlich davon gelegene Michajlivka wurden Ziel von Angriffen.

Darüber hinaus greift die Ukraine weiter mit Artillerie und Drohnen Ziele in den grenz­nahen russländischen Regionen Belgorod, Brjansk und Kursk an. Hinzu gekommen sind in der zweiten Junihälfte Angriffe auf die Agglomeration von Donec’k, darunter auf die Stadt selbst sowie auf Jasynuvata. Die Drohnenangriffe auf die Krim hingegen wurden eingestellt, offenbar, weil sie völlig erfolglos waren, da die Drohnen abgeschossen oder mit Störsignalen abgefangen wurden. Erfolg verspricht sich die Ukraine in anderer Richtung: Der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte Valerij Zalužnyj verkündete in der letzten Juniwoche eine freiwillige Evakuierung aus dem Gebiet Sumy im Norden des Landes. Von den russländischen Artillerieangriffen, die er als Grund nannte, ist nicht viel zu sehen. Die Vermutung, dass die Ukraine von dort einen Angriff auf die russländischen Gebiete Kursk oder Brjansk beginnt, hat jedoch durch diese Ankündigung Nahrung bekommen.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.



[1] FVP – First Person View. Der „Pilot“ lenkt das unbemannte Flugobjekt über eine Kamera, die an der Drohne angebracht ist.