Fortsetzung des Abnutzungskampfs
Nikolay Mitrokhin, 11.3.2024
Die 106. Kriegswoche
Der befürchtete Zusammenbruch der ukrainischen Front bei Avdijivka ist ausgeblieben. Russlands Vormarsch konnte fürs Erste gestoppt, die Verteidigungslinie ausgebaut werden. Die Ukraine leidet jedoch vor allem an einem erheblichen Mangel an Flugabwehrraketen. Russland kann mittlerweile hochwertige Ziele im frontnahen Rückraum aufklären und zerstören. Aber auch Russland hat Nachschubprobleme, die die Ukraine mit Angriffen auf Rüstungsfabriken zu verschärfen sucht.
Westlich von Avdijivka gibt es weiter heftige Kämpfe. Unmittelbar nach der Einnahme der Stadt begann die russländische Armee mit Angriffen auf die Siedlungen Tonen'ke, Orlivs'ke, Semenivka und Berdyči. Die ukrainischen Truppen zogen sich größtenteils aus diesen zurück. Doch als die Okkupationstruppen dort einmarschierten, begann die 3. ukrainische Sturmbrigade (ehemals „Azov“), die über US-amerikanische Bradley-Schützenpanzer mit schweren Maschinengewehren sowie über Abrams-Kampfpanzer verfügt, die in Reserve gehalten worden waren, nachdem bei dem Ersteinsatz der schwere ukrainische Schwarz-Erde-Boden zur Verstopfung der Luftfilter geführt hatte.
Die schweren Kämpfe führten Anfang März zu Verlusten auf beiden Seiten. Die ukrainische Armee hat zahlreiche Sturmbrigaden des Gegners zerrieben. Der Preis war, dass sie erstmals Abrams-Panzer verlor. Die Kämpfe setzen sich mit großer Intensität fort, denn Russland hat mit dem Vorrücken in die Siedlungen die Möglichkeit erhalten, die halbeingekreisten ukrainischen Verteidigungsstellungen von den schwach geschützten Flanken her anzugreifen. Umgekehrt hat sich den ukrainischen Truppen die Möglichkeit eröffnet, die Zugangswege in die Siedlungen abzuschneiden und die dortigen Okkupationstruppen zur Aufgabe oder zu einem selbstmörderischen Durchbruchsversuch zu zwingen.
Der von vielen befürchtete Zusammenbruch der ukrainischen Verteidigungslinie hat somit nicht stattgefunden, die Kämpfe halten unter großem Materialverlust für beide Seiten an. Diese ermöglicht es der Ukraine, westlich des aktuellen Frontverlaufs die zunächst nur schwach ausgebauten Verteidigungsstellungen zu befestigen. Dies ist das zentrale Ziel der gegenwärtigen vorgelagerten Abwehrkämpfe um die genannten Siedlungen.
Ähnlich ist die Lage südlich von Donec’k bei Marijinka, wo die Okkupationstruppen in mehrere Richtungen vorzudringen versuchen. Westlich der Stadt haben sie bei Heorhijivka eine Niederlage erlitten und mussten sich zurückziehen. Nordwestlich von Marjinka dauern die massiven Kämpfe um die große Siedlung Krasnohorivka nun bereits fast drei Wochen. An anderen Frontabschnitten sind die Kämpfe abgeflaut, was bereits auf die „Frühjahrspause“ wegen aufgeweichter Böden hinweist.
Schläge im frontnahen Hinterland der Ukraine
Wenngleich die Ukraine die Offensive vorerst einzudämmen vermochte, hat sie weiter ein anderes gravierendes Problem: Es mangelt ihr an Munition für die Luftverteidigungssysteme an der Front. Russländische Aufklärungsdrohnen dringen immer tiefer in das front- und grenznahe Hinterland ein und erfassen dort kriegswichtige Ziele. Anfang März tauchten in den sozialen Medien Videos von der Zerstörung einer ukrainischen Radaranlage in der Nähe der 25 km von der Grenze entfernten Stadt Černihiv auf, kurz darauf erstmals ein Video von der Zerstörung eines Himars-Mehrfachraketenwerfers nördlich von Pokrovs'k im Gebiet Donec’k. Am 8. März wurde im Westen des Gebiets eine ukrainische MiG abgeschossen, am folgenden Tag erschien ein Video, auf dem ein Angriff auf eine Fahrzeugkolonne mit einer Iskander-Rakete zu sehen ist, mindestens eine Abschussrampe für Patriot-Raketen wurde bei diesem Vorfall westlich von Pokrovs'k in 50 Kilometer Entfernung von der Frontlinie zerstört. Der bekannte ukrainische Experte für elektronische Kriegsführung, Serhij "Flash" Beskrestnov, mutmaßte, die Position könnte vom russländischen Militärgeheimdienst aufgeklärt oder sogar verraten worden sein. Ein anderer Hergang ist aber durchaus denkbar: Aufgrund des Mangels an Flugabwehrraketen hat eine russländische Drohne die Kolonne schwerer Fahrzeuge, die nachts auf freiem Feld unterwegs war, mit ihrer Wärmebildkamera erfasst.
Russlands Reserven
Doch auch Russland hat keine unerschöpflichen Reserven. Es gibt viele Hinweise, dass gerade bei Panzern und gepanzerten Fahrzeugen die hohen Verluste immer spürbarer werden. Beim Sturm auf Avdijivka sind nach westlichen und ukrainischen Angaben alleine von Norden her auf einer einzigen Zufahrtstraße 160 von diesen zerstört worden. Der Mangel ist offensichtlich. Waren Sturmgruppen der Okkupationsarmee noch vor einiger Zeit von zwei oder drei Panzern begleitet, so fahren heute oft die gepanzerten Mannschaftsfahrzeuge ohne solche Begleitung oder die Soldaten werden in gänzlich ungeschützten Fahrzeugen an die vorderste Frontlinie transportiert. Aufnahmen zerstörter Panzer der russländischen Truppen zeigen immer wieder den alten sowjetischen T-62 ohne jegliche Modernisierung, der nicht einmal ausreichend Schutz gegen die von den ukrainischen Truppen verwendeten sowjetischen Panzerfäuste bietet.
Moskau behauptet immer wieder, die Produktion von Panzern und gepanzerten Fahrzeugen sei „um ein Vielfaches“ gesteigert worden. Wenn vor dem Überfall auf die Ukraine pro Jahr 100 Panzer hergestellt wurden, so sind es jetzt nach verschiedenen Schätzungen 200-300, darunter höchstens 100 des modernen T-90M. Dies reicht bei intensiven Kämpfen maximal für einige Monate – oder für eine Offensive mittlerer Dimension.
Verschiedene ukrainische Telegram-Kanäle zeigen immer wieder hoffnungsfroh Luftaufnahmen von den Orten, an denen Russland sowjetische Panzer eingemottet hatte. Dort sieht man, dass bereits rund zwei Drittel der Fahrzeuge aus den Lagern geholt wurden. Es gibt aber auch ukrainische Experten, die zurückhaltender sind und davon ausgehen, das Russland für mindestens weitere drei Jahre unter Einschluss neu produzierter, reaktivierter und reparierter Fahrzeuge 1000 Panzer pro Jahr an die Front bringen kann. Westliche Beobachter gehen ebenfalls davon aus, dass in einigen der Lager kaum noch Panzer stehen, aus anderen hingegen höchstens 15 Prozent der Fahrzeuge hervorgeholt wurden. Insgesamt seien erst rund die Hälfte der reaktivierbaren Fahrzeuge zur Modernisierung aus den Lagern geholt worden. Dabei bleibt unklar, wie viele Panzer bereits an die Front gebracht wurden und wie viele zwar nicht mehr in den Lagern, aber in den Hallen der Rüstungsfabriken stehen – und in welchem Zustand sie sind.
Drei Faktoren sind also entscheidend: 1) die Kapazität der Produktions- und Reparaturbetriebe. Diese hat Russland offenbar steigern können. 2) der Zustrom neuer westlicher Bauteile, die für die Modernisierung oder Instandsetzung benötigt werden, denn irgendwann erschöpfen sich die „strategischen Reserven“, die Russland angelegt hat. Die westlichen Staaten denken darüber nach, wie dieser Zustrom ernsthaft unterbunden werden könnte, finden jedoch keine Lösung, weil sehr viele Unternehmen aus sehr vielen Drittländern mit Sanktionen belegt werden müssten. 3) die Fähigkeit der ukrainischen Geheimdienste, diese Fabriken mit Anschlägen oder Luftangriffen zumindest zeitweise lahmzulegen. Getroffen werden müssen dazu nicht einmal unbedingt die wahrscheinlich gut mit Flugabwehrsystemen geschützten Panzerwerke, sondern die Zulieferunternehmen, die Bauteile nicht nur für die militärische, sondern teilweise oder überwiegend auch für die zivile Produktion herstellen.
Es scheint, als arbeite der ukrainische Geheimdienst genau daran. Nach dem Angriff auf das Stahlwerk in Novolipeck im Februar attackierten ukrainische Drohnen nun am 7. März das Werk von Severstal’ in Čerepovec im Gebiet Vologda, eines der größten Metallunternehmen Russlands. Auf Fotos ist zu erkennen, dass ein Teil des Daches einer Gießerei eingestürzt ist. Dies war der erste Angriff auf ein so weit von der Ukraine entferntes Ziel. Wenig spricht dafür, dass die Ukraine nun Drohnen über noch größere Entfernung als bislang nach Russland lenken kann. Viel dagegen dafür, dass es ihr wieder einmal gelungen ist, Fluggeräte nach Russland zu schmuggeln, die dort gestartet werden. Der ehemalige Duma-Abgeordnete Il’ja Ponomarev, der im März 2014 als einziger Parlamentarier gegen die Krim-Annexion gestimmt hat und kurz darauf ins Exil ging, erklärte auf einem Treffen des Exilforums „Freies Russland“ in Vilnius Ende Februar, Anschläge dieser Art seien bereits mit Hilfe proukrainischer Untergrundorganisationen in Russland durchgeführt worden.
Auch von ukrainischem Territorium gehen die Angriffe weiter. In der Nacht auf den 9. März lenkte die Ukraine 47 Drohnen in das Gebiet Rostov, wo sie das Beriev-Flugzeugwerk in Taganrog treffen sollten. Dort werden russländische Luftüberwachungsflugzeuge vom Typ A-50 gewartet. Die meisten wurden abgefangen, jene, die ihr Ziel erreichten, konnten veröffentlichten Fotos nach nur geringe Schäden am Dach eines Hangars anrichten. Ob Flugzeuge in der Halle beschädigt wurden, lässt sich nicht beurteilen. Fest steht, dass Russland weiter rund 90 Prozent aller anfliegenden ukrainischen Drohnen abfangen kann. Offen ist, wie groß die Vorräte an Luftabwehrraketen sind und mit welcher Geschwindigkeit neue produziert werden, ob also Russland in eine ähnliche Lage kommen könnte, in der sich die Ukraine momentan befindet.
Weitere Dezimierung der russländischen Schwarzmeer-Flotte
Die Ukraine versenkt mittlerweile mit unbemannten Kleinbooten nahezu im Monatsrhythmus große Schiffe der russländischen Schwarzmeer-Flotte. Anfang März traf es die erst 2021 vom Stapel gelaufene Korvette Sergej Kotov, die auf Patrouillenfahrt in der Meerenge von Kerč unterwegs war. In Spezialforen wird das Schiff als teuer und wenig funktional beschrieben, vor allem mangele es an der Bewaffnung, die zur Abwehr von Seedrohnen notwendig ist. Daher war es mehr als leichtsinnig von der Flottenführung, dieses Schiff zu der Patrouillenfahrt in das Gewässer fahren zu lassen, wo die Ukraine bekanntermaßen Jagd auf Schiffe des Gegners macht. Nach Einschlägen am Heck sowie an Steuer- und Backbord sank es binnen zwei Stunden und riss einen an Bord stationierten Helikopter mit in die Tiefe. Mindestens sieben Mann der Besatzung starben, rund 20 wurden verletzt.
Die Rache ließ Russland in Gestalt von massiven Drohnenangriffen auf Odessa in der nächsten Nacht folgen. Generell wird Odessa seit rund zwei Wochen nahezu jede Nacht angegriffen. Als der ukrainische Präsident Zelens’kyj am 6. März dort den griechischen Ministerpräsidenten traf, erfolgte auch ein Angriff bei Tageslicht, der angeblich einem Hangar galt, in dem Seedrohnen zum Einsatz vorbereitet werden. Bei einem dieser Angriffe wurden Anfang März 12 Menschen, darunter fünf Kinder getötet.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).
Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.
Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.
Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.