Fortsetzung des Abnutzungskrieges

Nikolay Mitrokhin, 21.9.2023
Die 82. Kriegswoche

Die Ukraine greift weiter mit Erfolg Schiffe der russländischen Schwarzmeer-Flotte und militärische Infrastruktur auf der Krim an. Russland verliert moderne Flugabwehrsysteme und immer mehr Schiffe. Beide Seiten setzen nach einer kurzen Pause den Drohnenkrieg mit unverminderter Intensität fort. Am Boden hat sich der Frontverlauf kaum verändert, der Ukraine ist es allerdings südlich von Bachmut gelungen, Russland erhebliche Verluste beizufügen.

Die Lage an der Front

In der zweiten Septemberwoche hat die Ukraine bei Bachmut einen kleinen, aber vermutlich bedeutenden Erfolg erzielt. Südlich der Stadt gelang es ihren Truppen, einen ernsthaften Angriff der russländischen Armee auf ihre Stellungen im bereits in der Vorwoche zurückeroberten Kliščijivka sowie im teilweise befreiten Andrijivka zurückzuschlagen. Die Dritte Sturmbrigade (3-tja okrema šturmova brigada, 3ošbr), eine von Andrij Bjalickij und anderen Veteranen des 2014 in Berdjans’k gegründeten „Regiments Azov“ unmittelbar nach Russlands Großinvasion im Februar 2022 geschaffenen Einheit der Ukrainischen Nationalgarde – konnte offenbar die Reste eines Bataillons der 72. Motorschützenbrigade der russländischen Armee einkreisen und vernichten. Anders als bei den vorherigen Kämpfen der seit dreieinhalb Monaten anhaltenden russländischen Offensivbemühungen im Raum Bachmut gelang es der Ukraine nach Angaben eines Kommandeurs der 3. Sturmbrigade, eine größere Zahl russländischer Offiziere zu töten. In einem von ukrainischen Medien weiterverbreiteten Facebook-Post schrieb Dmytro Kucharčuk:

„Das Hauptziel von Kriegen ist nicht das Besetzen von Gebieten […], sondern die Vernichtung der Soldaten des Gegners. In diesem Rahmen haben wir die 72. russländische Brigade gnadenlos vernichtet. Bei einem Einkreisungsmanöver wurden drei Bataillonskommandeure, der Leiter der Aufklärungsabteilung, ein Haufen Kompaniekommandeure, Offiziere und Soldaten getötet und eine große Menge Waffen und andere Technik zerstört.“

Foto- und Videomaterial, das diese Aussagen belegt, ist bislang nicht veröffentlicht worden. Der bekannte Feldkommandeur der „Volksrepublik Donezk“ Aleksandr Chodakovskij bestätigte allerdings den Tod des Kommandeurs der 31. Luftlandebrigade aus Ul’janovsk, Oberst Andrej Kondrakin (nom de guerre: „Dunaj“), der wahrscheinlich bei Kliščijivka ums Leben kam.

An den anderen Abschnitten der Front hat sich die Lage kaum geändert. Im Gebiet Zaporižžja hat die Ukraine auch ihre bescheiden gesteckten Ziele nicht erreichen können. Lediglich in einem Abschnitt südlich von Velyka Novosilka konnte die ukrainische Armee um 300–400 Meter tiefer in die russländischen Stellungen eindringen. Am Dnipro versucht die Ukraine ihre Stellungen auf den Inseln gegenüber von Nova Kachovka auszubauen. Neben den Kämpfen im Flusslauf des Dnipro gehen auch Geschütze auf Wohngebiete der Stadt nieder, was beide Seiten dem Gegner anlasten.

Luftkrieg

Beide Kriegsparteien setzen ihre Attacken auf das Hinterland des Gegners fort, doch von der Nacht vom 16. auf den 17. September abgesehen, haben beide Seiten in der 82. Kriegswoche ihre Attacken im Vergleich zum August stark reduziert. In dieser Nacht griff Russland mit fünf Iskander-Raketen in Charkiv einen Reparaturbetrieb für gepanzerte Fahrzeuge sowie ein benachbartes Zementwerk an. Der inoffizielle Kanal der russländischen Militäraufklärung Rybar behauptete, anders als bei vorherigen Attacken seien nun tatsächlich die Werkhallen und ein Hangar mit Fahrzeugen in der Zementfabrik getroffen worden. Allerdings wurden die Angriffe fortgesetzt, was gegen die Behauptung spricht. Am Morgen des 17. September schlugen bei einem russländischen Angriff mit zehn Flugkörpern auf das Gebiet Odessa die vier nicht von der ukrainischen Luftverteidigung zum Absturz gebrachten Raketen nur in einem Agrarbetrieb ein. Der Ukraine gelang es lediglich, am 17. September im Gebiet Orlov bei einem Angriff mit fünf Drohnen ein Öllager in Brand zu setzen.

Nach der kurzen Pause nahm Russland bereits gegen Ende der 82. Kriegswoche die Angriffe wieder mit der gleichen Intensität auf und attackierte wieder Nacht für Nacht mit rund 20 Angriffsdrohnen Ziele in der Ukraine. Rund drei Viertel konnte die ukrainische Luftabwehr abfangen, die übrigen schlugen u.a. bei L’viv und Chmel’nyc’kyj ein, wo sie Lagerhallen zerstörten, in denen sich nach ukrainischen Angaben humanitäre Hilfsgüter befanden, nach Moskauer Angaben Munition.

Seit August greift Russland regelmäßig ukrainische Häfen im Donaudelta an. Bereits mehrfach sind bei diesen Angriffen Teile abgeschossener Drohnen auf rumänischem Gebiet niedergegangen. Darüber hinaus sind jedoch auch Drohnen auf der rumänischen Donauseite explodiert, über die die russländische Armee die Kontrolle verloren hatte. Die Überreste einer Drohne wurden recht weit von der Donau entfernt auf rumänischem Gebiet gefunden, was davon zeugt, dass Russland den rumänischen Luftraum am Unterlauf der Donau zum Anflug auf Ziele in der Ukraine nutzt. Die rumänischen Behörden haben bekanntgegeben, dass sie Schutzkeller für die Bewohner grenznaher Gebiete errichten lassen wollen und sogar eine Evakuierung erwogen. Nun hat Bukarest erklärt, russländische Drohnen über rumänischem Gebiet würden abgeschossen. Stellt Russland die Angriffe auf die grenznahen Häfen nicht ein und Bukarest bleibt bei seiner Ankündigung, wird Rumänien das erste NATO-Land, das unmittelbar in Kampfhandlungen dieses Kriegs eingreift. Für die Ukraine hieße dies, dass die Sicherheit der Häfen, Brücken und anderer Infrastruktur an der Donau sich erhöht. Dies ist nicht zuletzt deswegen von Bedeutung, weil die Gegend um den Unterlauf der Donau in diesem Krieg eine besondere Bedeutung für die Versorgung der ukrainischen Armee mit Treibstoff und für den Export von ukrainischem Getreide und anderen Agrargütern erlangt hat.

Neue Angriffe auf die Krim und die Schwarzmeer-Flotte

Die ukrainische Armee greift weiter erfolgreich militärische Ziele auf der Krim und im Schwarzen Meer an. Ziel ist es, der russländischen Schwarzmeer-Flotte größtmöglichen Schaden zuzufügen, den Luftraum über der Krim für Angriffe ukrainischer Drohnen und Raketen zu öffnen und einen sicheren Korridor für Schiffe zu schaffen, die Agrarprodukte oder Metalle von ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer und an der Donau über rumänisches Hoheitsgewässer in Richtung Bosporus und auf den Weltmarkt befördern.

Am 13. September beschädigten Raketen vom Typ Storm Shadow in den Trockendocks des Marinehafens von Sevastopol‘ das große Landungsschiff „Minsk“ und das U-Boot „Rostov-na-Donu“. Die Raketen wurden von ukrainischen Flugzeugen abgeschossen, ihre Flugbahn nach Angaben des Nachrichtendiensts des ukrainischen Verteidigungsministeriums von Soldaten korrigiert, die unweit von Sevastopol‘ von Booten abgesetzt worden waren. Sieben der zehn abgefeuerten Raketen wurden abgefangen, die übrigen drei richteten erhebliche Schäden an. Ein Großbrand zerstörte die Aufbauten des Landungsschiffs, auch auf dem U-Boot brach Feuer aus. Die „Minsk“, die zur baltischen Flotte der russländischen Marine gehört und im Februar 2022 nach Sevastopol‘ verlegt worden war, ist mindestens das vierte Landungsschiff, das seit Februar 2022 schwere Schäden erlitt. Die Schwarzmeer-Flotte verfügt höchstens noch über drei von ursprünglich sechs Schiffen dieses Typs. Dabei sind es genau diese Schiffe, auf die Russlands Armee für den Fall einer ernsthaften Beschädigung der Krim-Brücke setzt.

Gleich am nächsten Tag erzielte die Ukraine weitere Erfolge. Am frühen Morgen des 14. September brachte sie mit einem Angriff von elf Drohnen des Typs „Bober“ um 5.30 Uhr ein bei Evpatorija auf der Krim stationiertes Flugabwehrsystem S-400 (nach russländischen Angaben: S-300) dazu, dass dieses alle verfügbaren Abwehrraketen verschoss. 20 Minuten später erfolgte ein Angriff mit einer Anti-Schiffs-Rakete vom Typ Neptun, bei dem mindestens drei der acht Fahrzeuge des Systems – der Feuerleitstand, der Kommandoposten mit Radar, sowie sechs mobile Abschussrampen – zerstört wurden. Russlands Armee verfügt lediglich über 56 solcher Systeme, die den Luftraum zwischen Kaliningrad und Kamtschatka schützen sollen. Die Zerstörung von zwei solcher Einheiten in nur einer Woche ist ein herber Verlust. Allerdings sind auf der Krim offenbar drei oder vier weitere Systeme stationiert, die die Ukraine bislang nicht ausschalten konnte. Unklar ist auch, welche Schäden genau und an welchen Fahrzeugen der Einheiten die erfolgreichen Angriffe der Ukraine bei Tarchankut und Evpatorija verursacht haben.

Ebenfalls am 13. und 14. September griff die Ukraine mehrfach die beiden gemeinsam nahe der Grenze zwischen ukrainischem und rumänischem Hoheitsgewässer kreuzenden Patrouillenschiffe „Vasilij Bykov“ und „Sergej Kotov“ an. Attacken auf diese Schiffe hat es seit Februar 2022 bereits mehrfach gegeben. Nun wurden zwar erneut elf der zwölf Seedrohnen von Bord der Schiffe sowie aus Hubschraubern abgewehrt. Eines der unbemannten, mit Sprengstoff beladenen Boote erreichte jedoch sein Ziel. Nach russländischen Angaben seien die Schäden „nicht kritisch“, die „Vasilij Bykov“ habe eigenständig in ihren Heimathafen zurückkehren können. Nach der Vertreibung der beiden Patrouillenschiffe konnte jedoch ein weiterer ukrainischer Frachter unkontrolliert aus Odessa rumänisches Hoheitsgewässer erreichen.

Größere Schäden erlitt ein anderes Schiff: die Raketenkorvette „Samum“, ein Luftkissenfahrzeug in Katamaranbauweise. Es wurde unweit der Reede von Sevastopol‘ von einem neuartigen ferngesteuerten ukrainischen Boot (Morskoj Malyš, Meerknabe) angegriffen, das über die Fähigkeit verfügen soll, sich bei hohem Seegang in Wellentälern vor dem feindlichen Radar zu verstecken. Das Drohnenboot raste in das Heck des Schiffes, dabei wurde die Steuerung beschädigt. Fotos von der Einfahrt in den Hafen zeigen das Schiff leicht zur Seite geneigt an der Leine eines Schleppers. Abgewehrt werden konnte dagegen ein ukrainischer Seedrohnenangriff auf den kleinen Raketenkreuzer „Askol’d“ am 15. September.

Legt man die ukrainische Erfolgsrate in den letzten sechs Wochen zugrunde, so hat die Ukraine gute Chancen, bis zum kommenden Sommer die gesamte russländische Schwarzmeer-Flotte zu versenken, es sei denn, die Schiffe verstecken sich in Buchten im Raum Soči oder suchen über den Volga-Don-Kanal das Weite.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.