Frontgewinne

Nikolay Mitrokhin, 4.10.2022

Die ukrainische Armee befreit mit immer größerer Geschwindigkeit ukrainisches Gebiet. Im Norden des Gebiets Cherson hat sie die russländischen Truppen gezwungen, sich auf eine 30 Kilometer südlich gelegene neue Verteidigungslinie zurückzuziehen, die leicht nördlich des zentralen Übergangs über den Dnipro bei Nova Kachivka verläuft. Nur mit diesem Rückzug verhinderten die russländischen Luftlandetruppen eine vollständige Einkreisung unter ukrainischen Beschuss entlang des Dnipro und im Kreis Davydiv Brid, der bereits seit einem Monat schwer umkämpft war. Die russländischen Kriegsberichterstatter versuchen, den Zusammenbruch zu erklären und geben dabei offene Geheimnisse der russländischen Verteidigung preis: Die meisten Dörfer werden von gerade einmal 15 Mann gehalten und zwischen diesen „Stützpunkten“ können die Sturmgruppen der ukrainischen Streitkräfte unbemerkt durchstoßen. Es fehlen Reservekräfte, um die Lücken zu schließen, ebenso verlässliche Drohnen. Die Soldaten halten die Frontlinie seit sieben Monaten, also seit dem Frühjahr, ohne ein einziges Mal abgelöst worden zu sein. Die neue Verteidigungslinie ist nicht stabil, es steht nicht einmal fest, ob es eine solche Linie tatsächlich oder nur in den Marschbefehlen für die rückwärtigen Truppen gibt.

An der Grenze der Gebiete Charkiv und Luhans‘k ziehen sich die russländischen Truppen im Raum des Flusses Oskil in Richtung der Kleinstadt Svatove im Gebiet Luhans’k zurück. Die ukrainischen Truppen befreien immer mehr Dörfer entlang des Flusses und auch bereits im Gebiet Luhans’k. Die russländischen Militärkorrespondenten beginnen bereits, nicht mehr von der Oskil-Front, sondern von der Lugansk-Front zu sprechen, da der ukrainische Durchbruch bald bereits über die Kontaktlinie hinausgehen könnte, an der sich die Truppen zwischen 2014 und Februar 2022 gegenübergestanden hatten.

Die Besatzungsbehörden haben die Bevölkerung am 3. Oktober dazu aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Die ukrainische Armee greift allerdings bislang weder Svatove noch das weiter südlich, zehn Kilometer nordwestlich von Severodonec’k gelegene Kreminna an. Die Straße zwischen den beiden Orten kann von den russländischen Truppen noch als Nachschublinie genutzt werden. Offensichtlich konzentriert sich die ukrainische Armee darauf, das große Gebiet zwischen den Flüssen Oskil und Žerebec‘ zu befreien und so Svatove von Süden und Norden einzukreisen, um die Stadt nicht stürmen zu müssen. Sehr vielsagend sind auch die zahlreichen Bilder von Menschen aus den Dörfern entlang des Flusses, welche die ukrainische Armee mit Fahnen begrüßen.

Insgesamt bricht die russländische Verteidigungslinie an verschiedenen Stellen zusammen und die russländischen Militärkorrespondenten wissen von keinen neuen Kräften zu berichten, die diese Verteidigungslinie verstärken könnten. Nicht zuletzt könnte die ukrainische Armee auch das linke Dnipro-Ufer im Gebiet Zaporižžja zurückgewinnen, wohin der Zugang nach dem erfolgreichen Vorstoß in Richtung Cherson freigeworden ist und wo es offensichtlich keine Verteidigungslinie gibt. Von frischen Reservetruppen geschützt ist offenbar erst die alte Kontaktlinie aus der Zeit vor dem Überfall im Februar 2022.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin