Gefahr nicht gebannt
Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 132. Kriegswoche
Nikolay Mitrokhin, 10.9.2024
Die Ukraine hat den Vorstoß der Okkupationstruppen bei Pokrovs’k aufgehalten. In großer Bedrängnis ist sie nun allerdings im Raum Vuhledar. Dort droht auf einem größeren Frontabschnitt die Einkreisung von Verteidigungsanlagen. Im Gebiet Kursk sind die Kämpfe abgeflaut, die neue Frontlinie stabilisiert sich. Russland setzt seine massiven Luftangriffe fort.
Der Ukraine ist es in der ersten Septemberwoche gelungen, den Vormarsch der russländischen Truppen im Donbass aufzuhalten. Sie setzt alle verfügbaren Reserven ein, um die Lage bei Pokrovs’k zu stabilisieren. Allerdings wachsen die Probleme weiter südlich, insbesondere im Raum Vuhledar. Dort zeichnet sich ab, dass die Besatzungsarmee versucht, die ukrainischen Truppen im Frontabschnitt zwischen Selydovo und Prečystivka einzukreisen. Im Gebiet Kursk sind die Kämpfe abgeflaut, weil es der Ukraine für eine Ausweitung des von ihr gehaltenen Gebiets an Artillerieunterstützung mangelt und keine neuen Reserven herangeführt werden.
Die Stabilisierung der Lage östlich von Pokrovs’k ist der Ukraine vor allem dank Gegenangriffen der dorthin verlegten Einheiten gelungen: der Brigade „Kara-Dag“ der Nationalgarde, der 12. Azov-Brigade und der 93. Mechanisierten Sonderbrigade. Ihnen ist es bis zum 5. September gelungen, östlich von Pokrovs’k und Myrnohrad eine stabile Verteidigungslinie zu errichten. Der Schwerpunkt der Kämpfe verlagerte sich daraufhin auf das südöstlich von Pokrovs’k gelegene Selydovo. Nachdem die russländischen Truppen die nahezu unbeschädigte Kleinstadt Novohrodivka mit einst 19 000 Einwohnern hatten einnehmen können, drangen sie in den Nordteil von Selydovo ein. In Novohrodivka ist die Lage jedoch instabil, die Zahl der russländischen Soldaten ist gering, ukrainische Drohnen hängen weiter über der Stadt. Die örtliche Bevölkerung, die sich einer Evakuierung durch die ukrainischen Behörden entzogen hat, wird nun wohl nach Donec’k gebracht.
In Selydovo wird gekämpft, ebenso weiter südlich, wo die russländischen Truppen versuchen, die recht gut ausgebauten ukrainischen Verteidigungsanlagen im Raum um Pervomajs’ke und Karlivka einzunehmen und sie zugleich von Südosten einzukreisen. Eine kritische Gefahr besteht hier für die Ukraine allerdings bislang nicht.
Anders ist dies noch weiter südlich in dem Bereich, in dem der Frontabschnitt im Gebiet Donec’k auf jenen im Gebiet Zaporižžja trifft. Dort sind die russländischen Truppen östlich von Vuhledar in den vergangenen drei Wochen kontinuierlich vorgerückt und haben Verteidigungsanlagen eingenommen, die die Ukraine über zwei Jahre lang gehalten hatte. Am 5. September fiel die große Siedlung Prečystivka in die Hand der russländischen Truppen, nachdem diese zuvor die ukrainischen Stellungen mit schweren Flammenwerfern angegriffen hatten und anschließend mit einer Panzerkolonne vorgerückt waren. Warum dieser Vorstoß anders als zahlreiche frühere Versuche nicht mit Panzerabwehrraketen und Artillerie gestoppt werden konnte, ist unklar.
Die Einnahme von Prečystivka bestätigt, dass die russländische Armee sich nicht bei der Einnahme Dutzender kleiner Dörfer in der Gegend zerreiben lassen will, sondern die ukrainischen Truppen einkesseln oder sie zumindest in eine unhaltbare Lage bringen und so zu einem Abzug zwingen will. Die Zangenbewegung verläuft zwischen Selydovo im Norden und dem Luftlinie gut vierzig Kilometer entfernten Velyka Novosilka im Süden (oder das knapp 20 Kilometer östlich davon gelegene Prečystivka). Um dies zu erreichen, versuchen die russländischen Truppen, die ukrainischen Einheiten mit Angriffen an verschiedenen Stellen auseinanderzuziehen. Genau in der Mitte dieses Abschnitts verläuft die wichtige Straße von Zaporižžja in Richtung Donec’k. Die Gefahr, dass es den russländischen Truppen gelingt, zumindest so nahe an diese Straße heranzurücken, dass sie sie permanent unter Beschuss nehmen können, scheint gering. Andererseits lag auch Pokrovs’k noch im Mai in sicherem ukrainischem Hinterland und ist heute unmittelbare Frontstadt.
Im dortigen Landkreis ebenso wie im benachbarten Kreis Kramators’k haben sich die ukrainischen Behörden mittlerweile zu einer Zwangsevakuierung aller Kinder entschlossen. Diese wurde am 4. September angeordnet, nachdem sich trotz zahlreicher Aufrufe Anfang September immer noch 26 000 Menschen in Pokrovs’k aufhielten, darunter mehr als 1000 Minderjährige.
Vor diesem allgemeinen Hintergrund gibt es einige kleinere gute Nachrichten für die Ukraine. Die Kämpfe in der Agglomeration Torec’k sind abgeflaut, Teile des Siedlung Nju-Jork konnten zurückerobert und Soldaten aus einer Einkesselung befreit werden. Im Gebiet Luhans’k, wo die Kämpfe seit dem Vordringen der ukrainischen Truppen in das Gebiet Kursk vollkommen zum Erliegen gekommen waren, ist es der Ukraine gelungen, vier moderne Panzer des Typs T-80BPM zu zerstören oder schwer zu beschädigen. All dies ändert jedoch nichts an der Gesamtlage an der Front im Osten des Landes.
Die Situation im Gebiet Kursk
Im Gebiet Kursk gibt es kaum noch ukrainische Geländegewinne, die Truppen konzentrieren sich darauf, den eingenommenen Bereich von günstigen Positionen aus zu verteidigen. Russland unternimmt kleinere Versuche, das ukrainisch besetzte Sudža einzunehmen, ukrainische Einheiten haben weiter die Kreisstadt Korenevo im Visier, doch die Intensität der Kämpfe hat deutlich nachgelassen. Beide Seite befürchten jedoch, dass der Gegner an Stellen vorstoßen könnte, die bislang noch kein Kampfgebiet sind und evakuieren teilweise von dort die Bevölkerung. Die ukrainischen Behörden haben angekündigt, die nordwestlich des Vorstoßraums an der Staatsgrenze gelegene Stadt Hluchiv im Gebiet Sumy zu evakuieren. Dort lebten vor dem Februar 2022 rund 30 000 Menschen. Auf russländischer Seite rufen die Behörden die Menschen aus dem Landkreis Ryl’sk, die im August ihre Häuser verlassen haben, dazu auf, nicht zurückzukehren, weil die Lage nicht vollkommen unter Kontrolle sei.
Der Luftkrieg
Russland hat seine mit Drohnen und Raketen geführten massiven Luftangriffe auf die Ukraine in der 132. Kriegswoche fortgesetzt. Die Ukraine hat ihre Angriffe hingegen stark reduziert, eine Attacke auf ein Waffenlager im Gebiet Voronež löste allerdings einen Brand aus, nach ukrainischen Angaben wurden ballistische Raketen zerstört, die Russland aus Nordkorea bezogen hatte.
Bei einem russländischen Angriff mit zwei ballistischen Raketen auf eine Ausbildungsstätte der ukrainischen Fernmeldetruppen wurden 58 Menschen getötet, 325 wurden verletzt. Dort hatte in Zusammenhang mit dem Beginn des Ausbildungsjahrs 2024/25 eine Veranstaltung stattgefunden, die ukrainische Staatsanwaltschaft ermittelt, ob die Leitung der Einrichtung vorgeschriebene Sicherheitsmaßnahmen vernachlässigt hat.
Am Morgen des 4. September flogen russländische Raketen und Drohnen in Richtung von Wohnvierteln in Kryvij Rih und Lemberg. Sieben von 13 Raketen und 22 von 29 Drohnen seien nach ukrainischen Angaben abgefangen worden. Im Lemberg waren Eisenbahnanlagen und ein sportmedizinisches Zentrum, wo mutmaßlich Soldaten zur Rehabilitation untergebracht waren, Ziel der Angriffe. Unter den sieben Todesopfern sind drei Schwestern im Alter von 7, 18 und 21 Jahren sowie ihre Mutter. Sie starben im Treppenaufgang eines Hauses, der Vater, der sich bei dem Raketeneinschlag noch in der Wohnung befand, überlebte verletzt. In Krivyj Rih wurden fünf Menschen verletzt, ein Dutzend mehrstöckiger Wohnhäuser sowie eine Schule und andere Einrichtungen beschädigt.
Auch in den folgenden Tagen griff Russland zahlreiche Städte in verschiedenen Landesteilen der Ukraine an. In Pavlodar im Gebiet Dnipropetrovs’k wurden bei einem Angriff mit drei Iskander-Raketen auf Industrieanlagen 82 Menschen verletzt. Wohnhäuser, ein Kindergarten und Geschäfte wurden beschädigt. In der Nacht auf den 7. September fielen in Kiew Trümmer einer abgeschossenen russländischen Drohne in unmittelbarer Nähe des Parlaments zu Boden.
Ein Ziel der massiven Angriffe ist es, die Abfangraketen der ukrainischen Luftabwehr zur Neige gehen zu lassen. Den westlichen Partnern der Ukraine ist grundsätzlich klar, dass das Land mehr Luftabwehr benötigt. Bundeskanzler Scholz hat Anfang September erklärt, Deutschland werde bei der Industrie 17 weitere IRIS-T-Systeme für die Ukraine bestellen, acht mit mittlerer (SLM) und neun mit kurzer Reichweite (SLS). Sieben Systeme sind bereits in der Ukraine im Einsatz und haben nach verschiedenen Angaben eine sehr hohe Trefferquote.
Eine andere Methode zur Bekämpfung von Drohnen ist, diese mit Quadrokoptern anzugreifen. Dies ist allerdings nur bei den langsam fliegenden Überwachungsdrohnen möglich. Die Ukraine vermeldete in der ersten Septemberwoche, es sei ihr auf diese Weise gelungen, eine in 3600 Meter Höhe fliegende russländische Drohne vom Himmel zu holen.
Zugleich geht der Rüstungswettlauf auch auf russländischer Seite weiter. Gerarde erst wurde bekannt, dass der Iran Russland 200 ballistische Raketen vom Typ Fath-300 übergeben hat, die eine Reichweite von gut 100 Kilometern haben. Dies ist eine schlechte Nachricht für alle Städte im Osten der Ukraine. Die Ukraine gab ihrerseits bekannt, dass sie die erste eigene Gleitbombe entwickelt habe. Die von Kampfflugzeugen gestartete Waffe habe eine Reichweite von 65 Kilometern, sei mit Raketenantrieb ausgestattet und werde eine Schlüsselrolle beim Angriff auf Militärobjekte des Gegners spielen.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.
Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden. Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.