Drohnenangriff auf eine der Bojko-Plattformen. Screenshot aus einem Video des ukrainischen Geheimdienstes SBU
Drohnenangriff auf eine der Bojko-Plattformen. Screenshot aus einem Video des ukrainischen Geheimdienstes SBU

Gefahrenzone Lyman

Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 169. Kriegswoche

Nikolay Mitrokhin, 16.6.2025

Russlands Truppen setzen die Angriffe im Norden der Ukraine fort. Die Lage der ukrainischen Armee im Gebiet Sumy ist nicht katastrophal, verschlechtert sich aber kontinuierlich. Auch im Raum Lyman haben die Verteidiger Probleme. Nach Wochen mit massiven Luftangriffen beider Seiten hat die Intensität des Luftkriegs nachgelassen.

Russland und die Ukraine haben die gegenseitigen Luftangriffe in der 169. Kriegswoche deutlich reduziert. Um die Attacken mit gleicher Intensität wie in den Wochen nach den ergebnislosen Waffenstillstandsverhandlungen fortzusetzen, fehlt es beiden Seiten offenbar an Raketen und Drohnen. Eine Rolle spielt möglicherweise auch, dass neue Gespräche geplant sind, bei denen es um mehr als um den Austausch von Kriegsgefangenen und die Übergabe von getöteten Soldaten gehen soll. Solche hat der ukrainische Präsident Zelens’kyj für die zweite Junihälfte angekündigt. Nach den Übereinkommen in humanitären Fragen soll nun auch wieder über eine Waffenruhe gesprochen werden. Moskau hat sich dazu bislang nicht geäußert. Zelens’kyjs Ziel ist es, die USA und andere westliche Staaten zu schärferen Sanktionen gegen Russland zu bewegen. Seit Israel Mitte Juni begonnen hat, militärisch gegen das iranische Atomprogramm vorzugehen, ist allerdings Russlands Krieg gegen die Ukraine auf der internationalen Agenda nach hinten gerückt. Im Anschluss an die ersten israelischen Angriffe erklärte der ukrainische Präsident, diese absehbare Aktion sei der Grund gewesen, warum die USA zuvor 20 000 ursprünglich für eine Übergabe an die Ukraine vorgesehene Luftabwehrraketen nach Israel geliefert habe.

Davon unabhängig überstellte Russland gemäß einer in Istanbul erzielten Übereinkunft die Leichen von 3600 getöteten Soldaten und Zivilisten an die Ukraine. Zudem tauschten die beiden Seiten ca. 120-150 Kriegsgefangene aus. Die Behörden gaben keine Zahlen bekannt, veröffentlichte Bildaufnahmen erlauben jedoch eine Schätzung. Unter den Freigekommenen befanden sich auf ukrainischer Seite u.a. Angehörige der Bautruppen, von denen sich viele seit den ersten Wochen des Krieges in Gefangenschaft befunden hatten, daneben Schwerverwundete, junge Soldaten sowie Offiziere. Obwohl es fast täglich Nachrichten über neue freigelassene Männer gibt, ist es bis zu der nach den Gesprächen in Istanbul genannten Zahl von je 2500 Soldaten noch weit hin.

Die Lage an der Front

Die Situation im Norden der Ukraine hat sich nach ukrainischen Angaben stabilisiert. Präsident Zelens’kyj hat verkündet, die Aufregung der vorhergehenden Wochen sei übertrieben gewesen. Die Okkupationsarmee habe im Gebiet Sumy nirgendwo mehr als sieben Kilometer vordringen können.

Karten, die russländische Kriegsberichterstatter veröffentlichen, zeigen ein etwas anderes Bild. Einen wirklichen Durchbruch der Moskauer Truppen weisen auch diese nicht aus. Aber Russlands Armee bewegt sich, wenngleich langsam, so doch auf breiter Front weiter vorwärts und hat erneut einige Dörfer eingenommen. Das Kreiszentrum von Junakivka, wo sich ein Knotenpunkt der ukrainischen Verteidigung im Raum nördlich von Sumy befand, ist bereits zu Teilen unter Kontrolle der Besatzungstruppen, ebenso die westlich der Siedlung von Sumy kommende Straße. Dies bedeutet, dass die ukrainische Armee sich dort auf die dritte Verteidigungslinie zurückziehen musste. Spätestens Ende Juni werden die Besatzer die Anhöhen um Junakivka unter ihre Kontrolle gebracht haben, von wo sie die Stadt Sumy beschießen können.

Problematisch ist die Lage für die Ukraine auch im Raum Lyman. Hier – an der Schnittstelle der Gebiete Donec’k, Luhans’k und Charkiv – beginnt ein großes Waldgebiet, das sich bis nach Izjum und Svjatohirs’k zieht. Im April 2022 waren die russländischen Truppen von Norden aus dem Gebiet Charkiv kommend dort bis Kreminna und Lysyčans’k vorgerückt und hatten diese wichtige Agglomeration im Gebiet Luhans’k unter ihre Kontrolle gebracht. Im August und September 2022 hatten die ukrainischen Truppen von Slovjans’k und Svjatohirs’k kommend bei einer Gegenoffensive Lyman befreit. In den vergangenen Monaten haben die Besatzungstruppen nun von Kreminna aus die ukrainische Armee nördlich von Lyman zurückgedrängt und am Fluss Žerebec’ befestigte Stellungen errichtet. Der Ukraine droht ein erneuter Verlust von Lyman, das nach zweimaliger Erstürmung und drei Jahren Beschuss vollkommen in Ruinen liegt. Besonders bedrohlich ist jedoch, dass die russländischen Truppen nun einen Durchbruch im Zentrum dieses Waldgebiets erzielt und dort die Siedlung Ridkodub unter ihre Kontrolle gebracht haben. Gelingt es der Ukraine nicht, den Gegner von dort wieder zu vertreiben, droht ein Vorstoß in Richtung Svjatohirs’k oder in Richtung Izjum. Sollte dies geschehen, würde die Ukraine nicht nur jene Gebiete, die sie im Spätsommer 2022 befreit hat, erneut verlieren. Die Lage der Armee würde sich an diesem Frontabschnitt insgesamt deutlich verschlechtern. Bislang ist der Durchbruch sehr klein und die Ukraine könnte ihn durch Heranführung von Reserven abschneiden – so sie denn über freie Truppen verfügt.

Im zentralen Frontabschnitt stellt sich die Lage aktuell stabiler dar. Die Besatzungstruppen haben in der 169. Kriegswoche lediglich eine Siedlung nördlich der Agglomeration von Pokrovs’k einnehmen können. Ukrainische Medien berichteten vor allem über den Beschuss einer russländischen Kolonne mit Himars-Raketen. Im 80 Kilometer hinter der Front gelegenen besetzten Makijivka seien drei Busse und ein Kamaz-Transporter getroffen und zahlreiche Soldaten getötet worden, die sich auf dem Weg an die Front befunden hätten. Russländische Kriegsblogger sprechen von einem getöteten Ehepaar aus der Gegend, doch die veröffentlichten Aufnahmen der ausgebrannten Busse sprechen eher für die ukrainische Darstellung.

Im südlichen Frontabschnitt hat der Verband „Osten“ der russländischen Armee an der Schnittstelle der Gebiete Dnipropetrovs’k, Zaporižžja und Donec’k am 13. Juni „nach langen und schweren Kämpfen“ die Siedlung Komar eingenommen, wo sich eine größere ukrainische Verteidigungsstellung zum Schutz des Gebiets Dnipropetrovs’k befand. Doch Stellungen dieser Art gibt es in diesem Raum Dutzende.

Kampf um die Bojko-Türme

In den ersten beiden Juniwochen flammte der Kampf um die „Bojko-Türme“ genannten Öl- und Erdgasförderanlagen im nordwestlichen Abschnitt des Schwarzen Meers erneut auf. Die vier, überwiegend in einer Entfernung von 50–70 Kilometer westlich der Krim gelegenen Plattformen sind im Jahr 2014 im Zuge der Besatzung der Krim unter die Kontrolle Russlands gelangt. Die Förderung ist seit dem Jahr 2022 eingestellt. Stattdessen installieren beide Seiten dort immer wieder Aufklärungstechnik, zudem versuchen Spezialtruppen, von den Plattformen ins Hinterland des Feinds vorzudringen oder die Türme für die Navigation von Aufklärungs- und Angriffsdrohnen zu nutzen. Daher wechselte die Kontrolle über die vier Anlagen mehrfach. Da die Objekte jedoch leicht mit Kampfflugzeugen, Hubschraubern sowie auf Schiffen oder an Land stationierten Raketen angegriffen werden können, war die Einnahme nie von Dauer.

Nach russländischen Angaben hat die Armee in der ersten Junihälfte von der Krim aus die Türme angegriffen, um ukrainische Aufklärungsanlagen zu beseitigen und eigene zu installieren. Die Armeeführung fürchtet, die Ukraine plane unter Nutzung der Bohranlagen eine große Landeoperation auf der Kinburn-Halbinsel. Diese hält Russland seit 2022 besetzt und blockiert damit die Ausfahrt von Schiffen aus den ukrainischen Häfen von Mykolajiv, Očakiv und Cherson. Moskauer Kriegsblogger berichten immer wieder, die Ukraine bereite eine solche Operation vor, doch bislang haben sich diese Behauptungen als falsch erwiesen. Die ukrainische Armee gab jüngst bekannt, dass sie mit auf unbemannten Kleinbooten stationierten Drohnen erfolgreich russländische Schiffe attackiert und so verhindert habe, dass Spezialtruppen neue Radaranlagen auf einigen der Türme anbringen. Russland setzt nun angeblich gegen die Kleinboote Drohnen mit automatischer Zielerfassung ein. Der Sprengkopf dieser „Klin“ (Keil) genannten Flugobjekte explodiere über dem Ziel, das anschließend durch Splitter zerstört werde. Einige russländische Kriegsblogger halten dies allerdings für bloße Behauptungen paramilitärischer Einheiten wie etwa der Marineabteilung der bekannten rechtsradikalen 88. Aufklärungs- und Sabotagebrigade des Freiwilligenkorps Espan’ola. Von dieser dem Verteidigungsministerium unterstellten Brigade heißt es in den russländischen Medien stets, sie sei „von Fußball-Ultras“ geschaffen worden. Welcher Gesinnung die Mitglieder der Brigade allerdings sind, verrät bereits ihr Name.

Der Luftkrieg

Beide Kriegsparteien setzten in der 169. Kriegswoche die Angriffe auf Energieinfrastruktur und Rüstungsunternehmen des Gegners fort – jedoch mit deutlich geringerer Intensität als in den vorhergegangenen Wochen. Offenbar haben sowohl Russland als auch die Ukraine in jüngster Zeit mehr Raketen und Drohnen eingesetzt, als sie in gleicher Zeit fertigen können. Am 14. Juni attackierte die Ukraine gleichwohl das im Gebiet Stavropol’ gelegene Chemieunternehmen „Nevinnomysskij Azot“, einen der größten Produzenten von Stickstoffdünger und Ammoniak in Russland. Ein anderer Angriff galt der „Katalysatorfabrik Novokujbyšev“ im Gebiet Samara, der einzigen Produktionsstätte von synthetischem Ethanol in Russland. Beide Betriebe seien nach ukrainischen Angaben wichtig für die Produktion von Sprengstoff.

Am 15. Juni griff die Ukraine mit unbemannten Kleinflugzeugen erneut die Drohnenfabrik in Alabuga an. Der Präsident der Republik Tatarstan gab bekannt, ein Mensch sei gestorben, 13 hätten Verletzungen erlitten. Militärblogger hingegen behaupteten, es seien lediglich auf dem Parkplatz vor dem Unternehmen einige Autos zerstört worden.

In Kiew ist bei einem russländischen Luftangriff offenbar das örtliche Büro von Boeing zerstört worden, das sich in einem Bürokomplex im Stadtzentrum befindet. Einen Großbrand hat ein Angriff auf eine Ölverarbeitungsanlage in Kremenčuk im Gebiet Poltava verursacht. Ob und wann die Anlage wieder in Betrieb gehen kann, ist unklar.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.