Geringe Mittel, großer Effekt

Nikolay Mitrokhin, 30.5.2023

Die 66. Kriegswoche (25.5.2023-30.5.2023)

Die ukrainische Gegenoffensive hat noch immer nicht begonnen. Mit dem Vordringen eines kleinen Trupps ins russländische Gebiet Belgorod hat die Ukraine Russland jedoch gezwungen, die äußerst knappen Reserven an Soldaten, Fahrzeugen und Munition für die Sicherung und Verteidigung eines noch größeren Front- und Grenzabschnitts einzusetzen. Gleichzeitig setzten beide Seiten die Luftschläge gegen Fabriken und Nachschubwege tief im Hinterland des Gegners fort. Kiew hat mehrere Nächte mit massiven Angriffswellen erlebt.

Grajvoron und der Beschuss des Gebiets Belgorod

In der 66. Kriegswoche drangen Einheiten der ukrainischen Armee in den an der Staatsgrenze gelegenen Kreis Grajvoron des russländischen Gebiets Belgorod ein und brachten drei Dörfer unter ihre Kontrolle. Die rund 100 Mann starken Einheiten, die sich als „Russischer Freiwilligenkorps“ (Russkoj dobrovol’českij korpus, RDK) und „Legion Freies Russland“ (Legion Svobodnaja Rossija) ausgaben, überschritten ohne Gegenwehr auf einer großen Straße die Grenze nach Russland, griffen mit Hilfe von Panzern ein Zollgebäude an, zwangen die Grenzer und einen Zug motorisierter Schützen zum Rückzug und stießen anschließend ungehindert acht Kilometer auf russländisches Territorium bis zur Stadtgrenze von Grajvoron vor. Dort begannen Gefechte mit einem Bataillon eines motorisierten Schützenregiments. Einer der Kämpfer erklärte in einem Interview mit der Novaja Gazeta, ein Angriff mit der doppelten Zahl an Kämpfern sei vorgesehen gewesen, die Hälfte der von ihnen genutzten gepanzerten Jeeps aus US-amerikanischer Produktion sei jedoch in der regendurchtränkten Schwarzerde steckengeblieben. Daher sei es nicht zur geplanten Einnahme der Kreisstadt Grajvoron gekommen. Wäre dies gelungen, hätte die Stadt, die in einer Ausbuchtung des russländischen Staatsgebiets liegt und von drei Seiten von ukrainischem Territorium umgeben ist, mit Hilfe ukrainischer Artillerie leicht gehalten werden können.

Stattdessen zogen sich die Kämpfer nach Angriffen der russländischen Luftwaffe sowie der im Laufe des Tages herangeeilten Truppen zum Grenzübergang zurück. Dort lieferten sie sich noch bis zum nächsten Morgen Kämpfe mit den russländischen Truppen, bevor sie sich „siegreich“ zurückzogen. Russländische Staatsangehörige befanden sich unter dem Kommando offenbar nur sehr wenige. Bei diesen handelt es sich, soweit bekannt, zum einen um eingeschworene Neonazis, die das Land in den 2010er Jahren in Richtung Ukraine verlassen haben, um sich langjährigen Haftstrafen nach schweren Verbrechen zu entziehen. So etwa der Anführer des RDK Denis Kapustin (Tichonov), der vor seiner Übersiedelung in die Ukraine in Deutschland als Neonazi und Gewaltverherrlicher von sich reden gemacht hat. In Russland hatte er zum engsten Umfeld von Maksim Marcinkevič, genannt „Tesak“, gehört. Der hohen Gefängnisstrafe, die allen drohte, die mit „Tesak“ zu tun hatten, entkam er im Jahr 2001 durch Auswanderung nach Deutschland, die ihm auf der Basis des Gesetzes über jüdische Kontingentflüchtlinge möglich war. 2017 musste er Deutschland verlassen und ließ sich in Kiew nieder, wo er Mixed Martial Arts-Kämpfe für ultrarechte Gruppen ausrichtete. Oder Aleksej Levkin, „Künstlername“: „Hitlers Hammer“, Sänger und Gründer des größten Neonazi-Labels im sozialen Netzwerk „Vkontakte“. Zum anderen um russländische Staatsbürger, die aus unpolitischen Gründen seit langer Zeit in der Ukraine leben. Doch auch zusammengenommen hätten diese keine Einheit der genannten Größe stellen können. Die Mehrheit der Kämpfer stammte offenbar aus anderen ukrainischen Einheiten.

Die unmittelbare militärische Bilanz der Aktion ist wenig beeindruckend. Zwei zurückgelassene gepanzerte Humvees gegen ein oder zwei reparaturbedürftige gepanzerte Transporter, zwei getötete Angreifer bei einem getöteten Verteidiger und einem verschleppten und in Kriegsgefangenschaft genommenen russländischen Soldaten. Vielleicht geht noch der Abschuss eines Hubschraubers in einem anderen Landkreis des Gebiets Belgorod auf diese Attacke zurück.

Viel relevanter sind die mittelbaren Folgen für den gesamten Krieg. Der Ausfall hat gezeigt, dass Russland seine Grenze so schlecht gesichert hat, dass nicht nur kleine Trupps sie überschreiten können – seit Anfang März sind mindestens drei Mal Kämpfer des „Russischen Freiwilligenkorps“ in grenznahen Dörfern des Gebiets Brjansk aufgetaucht. Vielmehr kann eine ganze Kolonne ukrainischer Militärfahrzeuge ungehindert über die Grenze fahren – und dies nicht irgendwo in den Wäldern des Gebiets, sondern auf einer Haupttrasse unweit des Kampfgebiets. Dies bedeutet, dass die russländische Führung die Grenzsicherung zumindest an den wichtigsten Stellen erheblich verstärken und im Grunde auch Zehntausende Bewohner grenznaher Dörfer evakuieren muss. Diese Aufgabe könnte der 30. Division übertragen werden, die zur Vertreibung der eingedrungenen Kämpfer von der Front im Gebiet Luhans’k herbeigeführt worden ist. Der Ausfall hat jedoch gezeigt, dass das „Loch“ im Sicherheitssystem so groß ist, dass weder eine noch zwei Divisionen und insbesondere nicht die von der Gebietsverwaltung sofort gegründeten „Selbstverteidigungseinheiten“ es stopfen können. Geschieht dies nicht, könnte die ukrainische Armee bei einem weiteren Vorstoß in nur einem Tag nach Belgorod oder Kursk eindringen oder mindestens große grenznahe Kreisstädte einnehmen. Oder die auf ukrainischem Gebiet verlaufende Front mit einem Ausfall, etwa in Richtung des östlich von Charkiv gelegenen Valujki, umgehen und von hinten aufrollen. Niemand kann garantieren, dass die ukrainische Armee keine Gebiete auf russländischem Territorium besetzt, um einen Rückzug von einem Rückzug russländischer Truppen aus ukrainischem Gebiet abhängig zu machen. Gemessen an der Häufigkeit und Intensität des Beschusses grenznaher Dörfer wächst die Wahrscheinlichkeit eines solchen Vorgehens nicht mit jedem Tag, sondern mit jeder Stunde. Die grenznahe Stadt Šebekino im Gebiet Belgorod mit rund 40 000 Einwohnern wird bereits täglich von der ukrainischen Artillerie beschossen und mit Raketen attackiert. Am 27. Mai brannten zwei Betriebe ab, ein Mann starb, einen Tag später geriet der Gouverneur unter Beschuss. Sie hätte längst evakuiert werden müssen und könnte jeden Tag zur Kampfzone werden.

Dies alles bedeutet, dass die äußerst knappen Kräfte, die zur Abwehr der erwarteten ukrainischen Gegenoffensive bereitstehen, über einen noch größeren Raum verteilt werden müssen. Auch eine weitere Mobilisierung kann keine Abhilfe schaffen, denn es mangelt am Nötigsten, vor allem an gepanzerten Fahrzeugen, an Granaten und an Luftabwehrgeschützen, also am Essentiellen jeder erfolgreichen Kampfführung.

Die ukrainische Gegenoffensive

Die vielfach angekündigte ukrainische Gegenoffensive hat noch immer nicht begonnen. Neben weiteren entsprechenden Ankündigungen kann das Wiederauftauchen in der Öffentlichkeit des Oberkommandierenden der ukrainischen Armee Valerij Zalužnyj so gedeutet werden. In der Ukraine wird dies als Zeichen verstanden, dass die von ihm geleiteten Vorbereitungen abgeschlossen sind. Zudem wurde auf seinem Telegram-Kanal ein professionell produziertes Video mit einem Gebet für die Kämpfer veröffentlicht. Auch hat die Ukraine an nahezu allen Frontabschnitten die Testangriffe eingestellt, lediglich in der Gegend von Bachmut haben ihre Truppen die Front um 300 Meter verschoben. Die russländischen Militärblogger sprechen davon, dass ein versuchtes Vordringen im Kreis Pologov zu erwarten sei mit Stoßrichtung Berdjans’k, von wo ein weiteres Vorrücken sowohl in Richtung Mariupol’ als auch in Richtung der Landbrücken auf die Krim möglich wäre.

Einfluss auf die ukrainische Entscheidung haben sicher zwei Faktoren. Zum einen immer noch der Zustand der Böden. Bilder aus Grajvoron und Bachmut zeigen, dass dort schwere Fahrzeuge noch immer Gefahr laufen, abseits befestigter Wege im Schlamm steckenzubleiben. Im südlichen Frontabschnitt hat sich dies sicherlich bereits geändert. Die Einschränkungen im Norden bedeuten jedoch, dass Russlands Armee ihre Kräfte auf den Süden konzentrieren kann.

Zum anderen beeinflusst der Stand der Heranführung westlicher Panzer, gepanzerter Fahrzeuge und Artilleriegeschütze die Entscheidung. Die russländischen Militärblogger berichten fast täglich von der Sichtung neuer Transporte auf der Schiene und der Straße. Ein Großteil der Raketen, die Nacht für Nacht Menschen in der Ukraine um den Schlaf bringen, zielt zweifellos auf Hallen, in denen Russland vorrübergehend untergestellte Fahrzeuge und Geschütze vermutet.

Der Angriff auf das Aufklärungsschiff Ivan Churs

Am Anfang der 66. Kriegswoche überraschte die Ukraine mit einem Angriff von Seedrohnen auf das Aufklärungsschiff Ivan Churs, das sich zum Zeitpunkt der Attacke unweit der Einfahrt in den Bosporus befand. Offiziellen Angaben zufolge habe es die dort am Meeresgrund in Richtung Türkei verlaufenden russländischen Erdgasleitungen überwacht. Anderen Angaben zufolge habe es Schiffe überwacht, die im Zuge des „Getreideabkommens“ ukrainische Häfen anlaufen sollten.

Das leichtbewaffnete Schiff, das erst 2018 vom Stapel gelaufen ist, gilt wegen der teuren Geräte an Bord als einzigartig. Es wurde von drei unbemannten, mit Sprengstoff beladenen Schnellbooten angegriffen. Zwei konnten kurz vor dem Zusammenstoß zerstört werden, eines raste in die Bordwand. Entweder versagte dann jedoch der Zünder oder die Sprengstoffmenge reichte nicht aus, um irgendwelche sichtbaren Schäden zu verursachen. Russland reagierte auf den Angriff mit einem Durchfahrtsverbot für eine Reihe türkischer Schiffe unter der Flagge verschiedener Staaten, die gemäß dem „Getreidedeal“ schon längere Zeit im Raum Mykolajiv erwartet worden waren, um über einen vereinbarten Korridor Weizen und Mais auf den Weltmarkt zu bringen.

Der Angriff war der erste, den die Ukraine auf offenem Meer gegen ein russländisches Kriegsschiff führte. Zugleich kamen erstmal unbenannte Schnellboote zum Einsatz, die deutlich größer sind als die zuvor eingesetzten Unterwasserdrohnen. Wenngleich die Attacke keinen Schaden anrichtete, heißt das nicht, dass dies beim nächsten Angriff so bleibt.

Der Luftkrieg

Gegeben ist dies allerdings nicht, wie die ukrainischen Drohnenangriffe zeigen. Kiew schickt immer wieder Gruppen von Drohnen aus chinesischer Produktion gegen Ziele auf der Krim, die sämtlich von der russländischen Luftabwehr abgefangen werden, teils durch Abschuss, teils durch Übernahme der Funkkontrolle über die Geräte. So scheiterte etwa ein Angriff mehrerer Drohnen auf eine Raffinerie im Gebiet Krasnodar. Nach einer Attacke im April, die etwas Schaden verursacht hatte, war Russland vorbereitet. Mit vier Drohnen konnte die Ukraine lediglich leichte Schäden anrichten.

Allerdings gelang es der Ukraine, mit Drohnenattacken je ein Verwaltungsgebäude in Krasnodar und im Gebiet Pskov und die Pumpstation einer Ölpipeline im Gebiet Tver’ zu zerstören oder zu beschädigen.

Das gleiche gilt für Russlands Drohnenangriffe. Alleine in der vergangenen Kriegswoche konnte die Ukraine 150 dieser Geräte abfangen, nicht zuletzt bei der massiven Angriffswelle auf Kiew in der Nacht vom 27. auf den 28. Mai, als 52 Shahed-Drohnen eingesetzt wurden. Da die iranische Militärindustrie aber offenbar in der Lage war, ihre Kapazitäten hochzufahren, kann Russland weiter die Menschen in der Ukraine, insbesondere in Kiew zermürben, die ukrainische Luftabwehr mit billigen Drohnen zum Einsatz der knappen und teuren Abwehrraketen zwingen und gelegentlich auch mal ein Ziel zerstören. Die Ukraine hält alle Informationen über die Schäden solcher Angriffe zurück. Aus den täglichen Lageberichten geht aber hervor, dass mindestens ein Zehntel der Drohnen nicht abgefangen wird. Dass es hin und wieder gelingt, ein größeres Lager mit Waffen oder Munition zu zerstören, ist nicht ausgeschlossen.

Parallel zu den Drohnenattacken gehen auch die Raketenangriffe weiter. Die ukrainische Armee beschoss Ziele in Berdjans’k und Mariupol’ mit schweren britischen Raketen, Russland nutzte offenbar Informationen aus dem Kanal einer ukrainischen Social-Media-Influencerin und Aktivistin, die Geld für verwundete ukrainische Soldaten sammelte und die Namen zweier Krankenhäuser in Dnipro nannte, in denen diese versorgt werden. Beide wurden kurz darauf von russländischen Raketen getroffen. Entsprechend groß war der ukrainische Ärger über die unbedachte Veröffentlichung.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.