Größte Geländegewinne für Russland seit Mitte März 2022
Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 141. Kriegswoche
Nikolaj Mitrokhin, 14.11.2024
Die Kämpfe um Kurachove und Pokrovs’k spitzen sich weiter zu, beide Städte trotzen aber noch den russländischen Truppen. Im Gebiet Kursk steht die Ukraine vor der schwierigen Entscheidung, rund 45 000 feindliche Soldaten außerhalb des eigenen Territoriums zurückzuhalten oder aber den Kampf bei Kurachove und Pokrovs’k zu verstärken. Neue Zahlen zeigen gleichzeitig, wie hoch die russländischen Verluste in Kursk sind. Zu den nordkoreanischen Soldaten, die in der Frontzone sein sollen, gibt es viele Berichte – von angeblicher Pornosucht über Alkoholexzesse und hochrangige Generäle bis zu ersten Gefallenen. Ein Video als Beweis dafür, dass sie wirklich dort sind, fehlt indes. Der Luftkrieg erlebt nach zwei Monaten verhältnismäßiger Ruhe eine neue Eskalation. Und die Russen setzen diverse neue und gefährliche Militärtechnik ein.
Die Lage an der Front
Die Situation entwickelt sich weiter gegen die Ukraine, wenngleich es zuletzt auch noch schlimmer hätte kommen können. Der russländischen Armee ist es in der vergangenen Woche nicht gelungen, den Kessel um Kurachove zu schließen, obwohl die Okkupationstruppen von mehreren Seiten in Richtung der Stadt vorrücken. Westlich von Selydove durchbrechen die Angreifer allmählich die ukrainischen Verteidigungsanlagen. Die russländische Armee konnte ihren Vorstoß im Kursker Gebiet bei Sudža nicht vorantreiben, dafür hat sie die ukrainischen Truppen teilweise aus dem Bezirk Gluškovskij gedrängt. Die Offensive auf Kupjans‘k verläuft langsam, aber die Führung des Gebiets Charkiv war gezwungen, die Evakuierung von zehn Siedlungen einer Gemeinde am Fluss Oskil zu verkünden. An den übrigen Frontabschnitten setzt sich der Abnutzungskampf im Schlamm fort, begleitet von sporadischen und verspäteten Meldungen über große Verluste auf Seiten der Angreifer. Dennoch ist die ukrainische Armee auf dem Rückzug. Nach Berechnungen von The Telegraph hat Putins Armee im Oktober 490 Quadratkilometer okkupiert. Das ist mehr als in jedem anderen Monat seit Mitte 2022. Die ukrainische Führung scheint daher beschlossen zu haben, ihre Prioritäten zu ändern und ihre Aktivitäten in der Region Kursk schrittweise zu reduzieren und besser ihre Positionen im Donbass zu sichern.
Kampf um Kurachove und Pokrovs’k
Am schwierigsten ist die Lage nach wie vor im „Sack“ von Kurachove, der sich im Laufe des vergangenen Monats gebildet hat. Der Raum für die Abteilung der ukrainischen Armee, die die Stadt und die umliegenden Dörfer verteidigt, wird immer enger. Die Ränder des „Sacks“ verlängern sich allmählich nach Westen hin, und der „Boden“ desselben verschiebt sich auch in diese Richtung. Die russischen Truppen sind in der vergangenen Woche von Südosten aus am Südufer des Kurachove-Stausees entlang in Richtung Kurachove vorgedrungen und haben die Kleinstadt von der Nordwestseite des Stausees aus umgangen. Nachdem sie von Cukuryne aus durchgebrochen sind, sind sie in das Dorf Sonceve eingedrungen. Wenn Sonceve fällt, ermöglicht das den Zugang für die Russen zum Ternivka-Staudamm in der Nähe des Dorfes Starye Terny. Das würde auch bedeuten, dass die ukrainischen Truppen an der Nordseite des Staudamms eingekesselt würden. Am Montagmorgen wurde eben jener Staudamm ukrainischen Medienberichten zufolge von Kiew teilweise gebrochen. Der Wasserstand des Flusses Vovcha soll um einen Meter gestiegen sein, erste Siedlungen wurden überflutet. 24 Stunden lang, bis zum Morgen des 12. November, gaben die ukrainischen Behörden der russischen Seite die Schuld an der Explosion. Erst dann übernahmen die Behörden selbst die Verantwortung mit der Zusicherung, dass die flussabwärts gelegenen Siedlungen umgesiedelt worden seien. Das Schicksal der ukrainischen Verbände am Nordufer des Stausees hängt weiterhin davon ab, ob die Einheiten den russischen Durchbruch bei Sonceve aufhalten und so den einzigen Weg aus einem ziemlich großen Kessel offenhalten.
Der Dammbruch lindert die schwierige Lage indes im Sinne einer Palliativmaßnahme nur für einige Tage. Das Wasser wird relativ schnell Richtung Dnepr durch das Gebiet Donec'k und Dnipropetrovs'k abfließen. Das Loch im Staudamm ist zudem nicht so groß, dass es unmöglich wäre, es mit einem Ponton oder einer Planke zu schließen. Am wichtigsten ist jedoch, dass die russischen Streitkräfte ihre Landoffensive aus dem Südosten und Südwesten der Stadt Kurachove fortsetzen. Im Südwesten schaffen es die Verteidiger zwar, die Offensive zu verlangsamen. Am 10. November gab es etwa „in Richtung Zaporižžja“ einen per Video bestätigten Bericht über die Zerstörung von sechs Militärfahrzeugen, darunter vier gepanzerte Mannschaftstransportwagen mit Fallschirmjägern. Jedoch droht die gesamte Gruppe in Kurachove eingekesselt und einfach von der Nachschublinie abgeschnitten zu werden.
Von Südosten wiederum näherten sich die russischen Streitkräfte von Maksymil‘janivka bis Dal‘nje und bildeten einen „Mini-Kessel“ um die ukrainischen Streitkräfte, die den Südosten der Stadt verteidigen. Die Angreifer schafften es am 11. November, in die östlichen Straßen von Kurachove einzudringen. Ukrainischen Angaben zufolge wurden hier auch gepanzerte Fahrzeuge vollständig zerstört. Eine Videobestätigung dafür fehlt bisher. Laut russischen Berichten vom Abend des 12. November kämpften die russischen Streitkräfte am nordöstlichen Stadtrand, nachdem sie eine Brücke über einen kleinen Fluss zerstört hatten, um einen ukrainischen Gegenangriff zu verhindern.
Insgesamt sieht es so aus, als ob Kurachove bis Ende des Monats von den ukrainischen Streitkräften aufgegeben wird, und das höchstwahrscheinlich ohne ernsthafte Kämpfe in der Stadt selbst. Bemerkenswert ist, dass erst am 11. November durch das Wall Street Journal bekannt wurde, dass die Ukraine das Wärmekraftwerk Kurachove demontiert hat, um andere Kraftwerke wiederaufzubauen. Diese Arbeiten begannen im Frühjahr und endeten im Sommer. Die Demontage ermöglichte es dem Betreiber DTEK, etwa 60 Prozent ihrer durch die russischen Angriffe beschädigten Kapazität wiederherzustellen.
Gleichzeitig rückte die russländische Armee in der vergangenen Woche vom westlichen Stadtrand von Selidove einige Kilometer weiter vor und nahm mindestens zwei Dörfer ein. Das bringt die nordwestliche Verteidigung von Kurachove und die südöstliche Flanke von Pokrovs‘k gleichermaßen in Gefahr. Hier ist die potenziell gefährlichste Stelle für einen Durchbruch. Wenn dieser gelingen sollte, wäre bereits das nur wenige Kilometer entfernte Gebiet Dnipropetrovsk bedroht.
Unterdessen bringt die russländische Offensive riesige Verluste mit sich. Aleksandr Charčenko, ein russischer Kriegsreporter, schildert seine Erlebnisse mit eindrücklichen Worten: „Waren Sie schon einmal auf der Todesstraße? Nein, nicht durch die irakische Weite, sondern in Richtung Pokrov’sk. Dort stehen die Wracks zerschossener Panzerfahrzeuge in Fünfergruppen, 100 Meter weiter die nächsten. Es ändern sich lediglich die Fahrzeugarten und der Grad ihrer Zerstörung. Ein ähnliches Bild bot sich mir auch auf meinem Weg nach Selydove. Wir fuhren in einem UAZ „Buchanka Kabriolet“ und ich sah etwa zehn ähnliche Fahrzeuge und fünf Motorräder. Alle waren zerstört, und es lagen Sachen, Lebensmittel und Reste von zerrissenen Uniformen herum. Man fährt an einem ähnlichen Motorrad vorbei, dem zweiten… Und nach dem dritten wird dir klar, dass du dich nicht von denen unterscheidest, die ihre irdische Reise hier beendet haben. Dieselben Räder, derselbe Rahmen und dieselbe Panzerung.“
Kursker Gebiet
Das zweitwichtigste Gebiet des Kampfes ist nach wie vor die Sudža-„Blase“ in der Region Kursk. Dort haben die russischen Streitkräfte am 7. November eine Offensive in mehreren Gebieten wieder aufgenommen, vor allem an der Westgrenze der „Blase“, um die ukrainischen Streitkräfte im nördlichen Teil unter Druck zu setzen. Die ukrainischen Verbände antworten ihrerseits mit aktiver Verteidigung. Unbestätigten Berichten zufolge werden schwere Gegenangriffe mit aktivem Einsatz von gepanzerten Fahrzeugen geführt, während die Schlachtfelder im Schlamm versinken. Einem Bericht russischer Quellen vom 11. November zufolge leistet der Feind heftigen Widerstand und schickt Eliteeinheiten der Fallschirmjäger und der Marine in die Schlacht.
Die russischen Truppen schlagen ihrerseits zurück. Am 7. November griff eine Einheit der 810. Garde-Marineinfanterie-Brigade in gepanzerten Mannschaftsfahrzeugen das Dorf Pogrebki im äußersten Nordosten der Sudža-„Blase“ an. Dabei verlor sie etwa ein Dutzend Fahrzeuge in einem Minenfeld, bevor sie das Dorf erreichte, und ebenso viele weitere, nachdem sie in das Dorf eingedrungen war. Seit dem 11. November ist bekannt, dass Russlands Armee für die Befreiung von zwei kleinen Dörfern innerhalb weniger Tage insgesamt 28 gepanzerte Fahrzeuge und mindestens 200 Soldaten ausgetauscht hat. Die Ukraine setzt Attrappen von gepanzerten Fahrzeugen ein, um russische Drohnen anzulocken und abzulenken. Am 12. November folgten unbestätigte Informationen über die Niederlage einer weiteren Einheit der 810. Brigade in der Nähe des Dorfes Kaučuk im Nordosten der „Blase“. Derweil gelang es den russischen Streitkräften bis zum 6. November im Bezirk Gluškovskij, im Bereich der Ortschaft Novij Put‘, die ukrainischen Truppen vom russischen Territorium zu verdrängen. Es gelang, bis zur zweiten Verteidigungslinie in Veseloe vorzudringen. Am 11. November wurden jedoch neue ukrainische Angriffe im selben Gebiet gemeldet. Etwas weiter östlich gibt es weiterhin ukrainische Übergriffe auf russisches Territorium in der Gegend von Medvež‘e.
Gegen Ende der Woche verdichteten sich die Gerüchte, dass die ukrainische Führung Truppen aus der Region Kursk abziehen und Elitebrigaden in Richtung Pokrovs'k verlegen will. Aus dem offiziellen Kiew waren dazu jedoch nur Dementi zu hören. Es scheint, dass Präsident Zelens’kyj den gewissermaßen einzigen Erfolg seiner Armee im gesamten Jahr 2024 nicht aufgeben will. Am 11. November teilte Zelens’kyj mit, dass der Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee Oleksandr Syr’skyj entschieden habe, die Gebiete Kurachove und Pokrovs'k erheblich zu verstärken. Zelens’kyj schiebt somit die politische Verantwortung auf seinen Untergebenen. Gleichzeitig betonte Zelens’kyj: „Im Gebiet Kursk halten unsere Jungs weiterhin eine fast 50 000 Mann starke feindliche Gruppe außerhalb der Ukraine fest.“ Die ukrainische Führung hält also auch diese Operation weiterhin für erfolgreich.
Am 7. November gab Syr’skyj die Verluste der russischen Armee während der Kursk-Operation bekannt (Stand: 5. November): „Die feindlichen Verluste beliefen sich auf 20 842 Mann, davon wurden 7905 getötet, 12 220 verwundet und 717 gefangen genommen. Im gleichen Zeitraum wurden auch 54 Panzer, 276 gepanzerte Fahrzeuge, 107 Geschütze und Mörser, fünf Raketenwerfer und 659 weitere Fahrzeuge zerstört.“ Nach Angaben des Oberbefehlshabers stehen den ukrainischen Verbänden im Gebiet Kursk etwa 45 000 Soldaten gegenüber. Zu den ukrainischen Verlusten sagte Syr’skyj nichts.
Verteidigung von Kupjans‘k
Die Offensive der russischen Streitkräfte im Gebiet um die Stadt Kupjans‘k entwickelt sich langsam, aber stetig. Die größten Gefahren für die Bevölkerung und das ukrainische Militär sind der ständige Beschuss und die Drohnenangriffe. In diesem Zusammenhang kündigte die Militärverwaltung der Region Charkiv am 11. November die Evakuierung der gesamten erwachsenen Bevölkerung aus zehn Siedlungen in der Gemeinde Borova an, südlich von Kupjans‘k. In Kupjans‘k selbst, der größten Stadt im Nordosten der Region Charkiv, leben nach Angaben des Leiters der örtlichen Polizei, Konstantin Domrin, noch etwa 4000 Einwohner, wobei vor kurzem etwa ähnlich viele erst evakuiert worden seien. Vor dem Krieg zählte die Stadt etwa 25 000 Einwohner.
Der Einsatz nordkoreanischer Militärangehöriger in Russland
Trotz wiederholter Behauptungen des ukrainischen Geheimdienstes und internationaler Medien ist noch immer kein glaubwürdiges Video aufgetaucht, das beweisen würde, dass wirklich nordkoreanische Militärs an der Frontlinie oder auch nur in der Frontzone sind. Dennoch liest man weiter fast täglich unbestätigte Meldungen über ihre Anwesenheit. So meldete Reuters, dass drei Generäle mit nordkoreanischen Soldaten in Russland eingetroffen seien. Generaloberst Kim Yong-bok, Befehlshaber der Spezialeinheiten, habe jetzt eine Führungsrolle inne und sei der Vertreter von Diktator und Oberbefehlshaber der nordkoreanischen Streitkräfte Kim Jong-un. Bei den beiden anderen Generälen, die nach Russland gereist seien, handele es sich um den stellvertretenden Chef des Generalstabs und den Leiter des obersten Geheimdienstbüros.
Anderen Informationen zufolge kämpft die russische Armee mit einem drastischen Mangel an koreanischen Dolmetschern. Die Soldaten sollen in kleinen Gruppen zu den aktiven Armeeeinheiten gestoßen sein. Ohne Russischkenntnisse würden sie keine Befehle verstehen. Es wurde auch berichtet, dass nordkoreanische Soldaten süchtig nach Pornos sind, offenbar haben sie unterwegs russische Mobiltelefone gekauft. Es ist unklar, wie sie an die Telefone gekommen sein sollen, denn nach früheren Berichten des ukrainischen Verteidigungsministeriums sollten die Nordkoreaner am 31. Oktober mit Flugzeugen aus dem Fernen Osten direkt in das Kriegsgebiet verlegt worden sein. Auch sollen nordkoreanische Militärangehörige derselben schwergetroffenen 810. Marineinfanterie-Brigade im Gebiet Kursk an Alkoholvergiftung gestorben sein. Schriftliche Erklärungen des Divisionskommandeurs sollen dafür einen Beleg liefern. Diese Erklärungen sind offenbar in die Hände des ukrainischen Militärs gelangt. Zudem tauchte die Meldung auf, dass 51 koreanische Soldaten bei Kampfhandlungen ums Leben gekommen seien.
Von all diesen Nachrichten scheint nur eine Meldung zuverlässig zu sein. Am 11. November ratifizierte Nordkorea den Vertrag über eine umfassende strategische Partnerschaft mit Russland. Beide Länder verpflichten sich darin, im Falle eines bewaffneten Angriffs auf einen der Staaten sofortige militärische Hilfe zu leisten.
Luftkrieg
Nach rund zwei Monaten ohne größere Angriffe hat die vergangene Woche eine unerwartete Wende im Luftkrieg gebracht. Die russischen Streitkräfte hatten 68 Tage lang auf den aktiven Einsatz von Marschflugkörpern verzichtet. Die Angriffe mit ballistischen Raketen waren nicht eingestellt worden, diese haben aber nur eine begrenzte Reichweite. Nun aber begann eine neue Runde des Austauschs von vor allem ukrainischen Drohnen und Raketenwerfern und russländischen Marschflugkörpern.
Sie begann mit dem Angriff einer ukrainischen Langstreckendrohne vom Typ UJ-22 Airborne am 6. November auf den Hafen des Dagdizel-Werks in der Stadt Kaspijsk in der Republik Dagestan, wo sich der Hauptstützpunkt der Schiffe der russischen Kaspischen Flottille befand. Obwohl die Flottille relativ weit von der Frontlinie entfernt war, griff sie erstaunlich aktiv in das Kampfgeschehen ein. Ihre Schiffe haben Kalibr-Raketen auf Ziele in der Ukraine abgefeuert. Die Schiffe des dortigen hydrologischen Dienstes sind zudem am Abschuss von Raketen aus russischen Flugzeugen über dem Kaspischen Meer beteiligt. Darüber hinaus hat das 177. Marineinfanterieregiment der dazugehörigen Flottille an Gefechten in den Regionen Cherson und Zaporižžja teilgenommen.
Die Angriffe trafen mindestens zwei Ziele, insbesondere die Schiffe „Tatarstan“ und „Dagestan“. Wahrscheinlich wurden auch die kleinen Raketenschiffe des Projekts 21631 beschädigt. Der Angriff fand am Vormittag bei Tageslicht statt und wurde von zahlreichen Zeugen von verschiedenen Orten aus detailliert gefilmt. Spätere Satellitenbilder zeigten, dass die Flottille, die aus mehreren Dutzend Haupt- und Hilfsschiffen besteht, nach dem Angriff fast vollständig aus dem Hafen abgezogen wurde, vermutlich nach Astrachan'. Der Angriff auf Kaspijsk führte zu einer Intensivierung der schweren russischen Drohnenangriffe auf ukrainische Städte, vor allem auf Kiew. Luftverteidigung und elektronische Kriegsführung der Hauptstadt werden seit einigen Wochen offenbar nicht mehr mit den ständig modifizierten russischen Drohnen fertig.
So wurden etwa am 7. November nach offiziellen Angaben etwa 30 russische Drohnen gen Kiew geschickt. Darunter war auch eine Drohne, die das Dach eines Hochhauses traf, in dem die estnische Botschafterin Anneli Kolk lebt. Sie wurde jedoch nicht verletzt. Nach Angaben des Pressedienstes der Luftstreitkräfte wurden an jenem Tag 74 der 106 russischen Drohnen über der Ukraine abgeschossen. Weitere 25 Drohnen gingen in verschiedenen Regionen „örtlich verloren“. Die Drohnen trafen ein Umspannwerk und schalteten die Beleuchtung in drei zentralen Bezirken der Region Žytomyr aus. Zusätzlich zu den Drohnen bombardierten die russischen Luftstreitkräfte am selben Tag eine Tankstelle in der Gemeinde Jampil' in der Region Sumy mit sowjetischen KAB-Präzisionsbomben. Dabei wurde eine Mitarbeiterin getötet. In Zaporižžja wurden bei einem Luftschlag nach Angaben örtlicher Behörden zehn Menschen getötet und 41 verletzt (darunter zwei Sanitäter). In der Stadt wurde Staatstrauer ausgerufen.
In der Nacht zum 8. November übte die russische Luftwaffe Vergeltung für Kaspijsk. Die ukrainische Luftabwehr schoss 62 von 92 russischen Drohnen und vier Kh-59/69-Raketen ab, eine Iskander-Rakete fand hingegen ihr Ziel. Die ukrainische Armee reagierte ihrerseits mit einem Angriff auf die Öl-Raffinerie in Saratov, nachdem sie fast zwei Monate keine russischen Raffinerien mehr angegriffen hatte. In der Nacht zum 9. November antwortete die russische Armee mit einem schweren Angriff auf Wohngebiete in Odessa. Mehrere Hochhäuser, Einfamilienhäuser, Verwaltungsgebäude und Dutzende von Autos wurden beschädigt. Ein Lagerhaus brannte aus. Eine Person kam ums Leben, 13 wurden verwundet. Unter den Verletzten befinden sich zwei Kinder im Alter von vier und 16 Jahren. In derselben Nacht attackierten die ukrainischen Luftstreitkräfte mit Drohnen ein Chemiewerk in Aleksin in der Region Tula. Dieses Rostech-Werk produziert Munition, Schießpulver und weitere Materialien für den russischen militärisch-industriellen Komplex. Anwohner haben auf Videos hörbare Treffer und ein Feuer festgehalten.
Am Morgen des 10. November starteten die ukrainischen Streitkräfte den schwersten Drohnenangriff auf Flughäfen in der Region Moskau. 34 Drohnen attackierten die Stadtbezirke Ramenskoe, Kolomna und Domodedovo. Der regierungsnahe Telegram-Kanal Mash schrieb, dass ein Airbus A320 aus Buchara beinahe mit einer der drei Drohnen kollidiert wäre. Der Flugverkehr wurde im gesamten Moskauer Gebiet eingestellt. Ein Mi-24-Hubschrauber auf dem Flugplatz Klin-5 wurde zerstört. Dieser gehörte zur 92. Staffel des 344. Zentrums für Kampfeinsatz und Umschulung von Flugpersonal der russischen Armee. In derselben Nacht nahmen ukrainische Drohnen auch Kurs auf das 1060. Logistikzentrum der russischen Streitkräfte in Brjansk. Dort filmten lokale Blogger mindestens acht Explosionen und schweres Feuer an mindestens zwei Stellen mit anschließender Detonation.
Nach ukrainischen Berichten hat Russland in derselben Nacht 145 Ziele in der Ukraine aus der Luft angegriffen – eine Rekordzahl. 62 der Raketen wurden abgeschossen, 67 gingen „örtlich verloren“ und weitere zehn verließen den Luftraum in Richtung Moldova und Russland.
In Kryvyj Rih endete der Morgen des 11. November mit einer Tragödie: Eine russische Rakete schlug in einem fünfstöckigen Wohnhaus ein. Sie zerstörte nicht nur das Dachgeschoss, sondern brachte auch einen der Eingänge zum Einsturz. Eine Frau und zwei Kinder und ein Säugling kamen ums Leben. 14 weitere Personen wurden verletzt, darunter Kinder.
Neue Militärtechnik der russländischen Streitkräfte
„Der Lebenszyklus der Technologie an der Front beträgt im Wesentlichen zwei Monate. Spätestens zwei Monate, nachdem die Ukrainer neue Drohnen produziert und an ihre Streitkräfte geliefert haben, finden die Russen einen Weg, sie zu kontern. Eine zügige Innovation und Produktion und die Unterstützung der Bevölkerung sind also absolut entscheidend“, so drückte es der britische Verteidigungsminister John Healey in der vergangenen Woche im The Telegraph aus.
Und so haben die Russen in den vergangenen Wochen tatsächlich gleich mehrere Innovationen zur Tötung von Menschen und zur Zerstörung von Ausrüstung an der Front eingesetzt. Es war auch The Telegraph, der über die eingesetzten Grom-E1-Lenkbomben mit einer Reichweite von etwa 120 Kilometern berichtete. Dank eines eingebauten Raketentriebwerks statten diese Bomben die Kampfflugzeuge Su-30 und Su-34 mit der Möglichkeit aus, Angriffe zu fliegen, und außerhalb der Reichweite der meisten ukrainischen Luftabwehrsysteme zu bleiben. Die Ukraine antwortet mit französischen AASM-Bomben (Hammer) und amerikanischen präzisionsgelenkten Gleitbomben des Typs JSOW. Aufgrund ihrer halb so großen Reichweite von etwa 64 Kilometern befinden sich ukrainische Flugzeuge jedoch im Einzugsbereich der russischen Flugabwehrraketensysteme S-300 und S-400 sowie des Kampfflugzeugs Su-30 mit sowjetischen R-77-Raketen.
In den ukrainischen Medien wurde auch über eine Veränderung an der russischen Geran‘-2-Drohne (Shahed 136) berichtet. So erschien ein Video einer solchen Drohne mit einem thermobarischen Sprengkopf. Beim Aufprall versprüht sie ein brennbares Gemisch, das sich schnell entzündet und einen „Feuerball“ mit einer Brenntemperatur von etwa 2500℃ erzeugt. In geschlossenen Räumen ist diese Waffe besonders gefährlich und somit ideal für die Zerstörung von Industrieanlagen und Lagerhäusern. Zudem soll die Hälfte der Geran‘-2 mit Lüneberg-Linsen ausgestattet worden sein - zur Verzerrung der Radarsignatur. Sie sollen ukrainische Bodenluftraketen „entschärfen“, deren Munition durch westliche Lieferungen und die Produktionskapazitäten der NATO-Länder im Allgemeinen begrenzt ist. Dies könnte die fast ununterbrochenen Angriffe mit Geran-‘2 auf Kiew erklären. Ukrainische Medien haben festgestellt, dass die ukrainische Luftwaffe dazu neigt, Bodenluftraketen aufzusparen und stattdessen Drohnen mit Flugabwehr-Maschinengewehren zu bekämpfen. Dies hat sich allerdings als nicht besonders effektiv herausgestellt.
Am 12. November wurde bekannt, dass Russland bei Angriffen auf Charkiv den neuen Drohnentyp Molnija eingesetzt hat. Diese Drohnen sind kleiner und günstiger als die Geran‘-2. Sie sind aus Sperrholz und Kunststoff gefertigt. Ihre Reichweite ist mit etwa 40 Kilometern recht groß, ihre Traglast beträgt allerdings nur drei bis fünf Kilogramm.
Zudem gibt es Berichte über neue Taktiken beim Einsatz von FPV-Drohnen durch russische Truppen. Diese sind mitunter mit Sensoren ausgestattet, die große, sich bewegende Ziele erkennen. Die Drohnen fliegen zwölf bis 15 Kilometer hinter der Frontlinie, parken am Straßenrand und warten, bis ein Fahrzeug vorbeifährt, bevor sie explodieren.
Aus dem Russischen von Felix Eick, Berlin
Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.