„Ich bitte alle Bürger der Ukraine um Verzeihung“

Am 6. März 2024 hat ein Gericht in Korolev bei Moskau den 50-jährigen Journalisten Roman Ivanov zu sieben Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Er hatte in drei Posts in sozialen Netzwerken über die Verbrechen der russländischen Armee im ukrainischen Buča, über einen Bericht der Vereinten Nationen zu Kriegsverbrechen der russländischen Armee und über die Bombardierung ziviler Infrastruktur in der Ukraine geschrieben. Am 11. April 2023 wurde er nach einer Hausdurchsuchung verhaftet und wegen „Verbreitung von Falschnachrichten über die russländische Armee“ angeklagt. Wir dokumentieren sein am 5. März gehaltenes Schlusswort vor Gericht.

Euer Ehren, ich habe kein Schlusswort vorbereitet. Daher werde ich einfach sagen, was mir durch den Kopf geht.

Ich möchte hier nicht über die Arbeit von Journalisten sprechen und über die Schwierigkeiten, die sie in Russland haben. Denn es gibt in Russland keinen Journalismus mehr. Ich will kein Urteil über das Justizwesen und über dieses Gericht abgeben, denn ein Justizwesen, das nach rechtsstaatlichen Prinzipien verfährt, gibt es in Russland nicht mehr. Ich will nicht über Politik sprechen, denn eine solche gibt es in Russland auch nicht mehr. Ich will einfach von uns sprechen, von den Menschen in Russland. Davon, dass wir alle glücklich sein wollen.

So ist der Mensch geschaffen, er träumt davon, glücklich zu sein. Sind diejenigen glücklich, die diesen Strafprozess gegen mich angestrengt haben, die ein Urteil über mich sprechen, die mich bewachen? Während ich unglücklich bin und meine Familie unglücklich ist? Natürlich nicht. Die Frage lautet also, warum wir um uns herum Schmerz und Leid verbreiten, warum unser Land sich in eine Lawine verwandelt hat, die alles unter Schmerz und Leid vergräbt.

Als unabhängiger Journalist in Korolev habe ich versucht, jedes menschliche Leid wahrzunehmen, allen zu helfen, die ein Problem haben. Eine der schrecklichsten Folgen dieses Prozesses wird für mich wohl sein, dass ich nicht mehr über die Probleme der Menschen in Korolev berichten kann. Dass ich ihnen nicht mitteilen kann, was in der Stadt vor sich geht.

Vielleicht rede ich ein wenig wirr. Ich habe vom Glück gesprochen. Glück kann sich nur im Umfeld von Menschen verbreiten, die selbst glücklich sind. Ich betrachte mich als einen glücklichen Menschen, weil ich Freunde habe, die jederzeit bereit sind, mir zu helfen. Ich habe eine Familie, mit der ich jedoch seit zehn Monaten nicht mehr sprechen kann. Ich habe eine Frau, die ich liebe. Ich bin der glücklichste Mensch auf der Welt, weil sie meine Frau werden wollte. Sie versuchen, mich unglücklich zu machen. Ich weiß nicht, wozu Ihnen das dient. Mir tut meine Familie leid, meine Frau. Denn wir hatten gemeinsame Pläne, Familienpläne. Wir wollten Eltern werden. Jetzt ist ungewiss, was daraus wird.

Ich weiß nicht, warum ich unglücklich gemacht werden soll. Ich verstehe das nicht. Ich werde trotzdem glücklich sein. Und als glücklicher Mensch um mich herum Güte und Glück verbreiten. Ich zürne niemandem. Auch nicht jenen, die die Tür zu meiner Wohnung aufgebrochen und dort alles durchwühlt haben. Ich zürne niemandem. Zürnen ist falsch.

Ich habe von Beginn an gesagt, dass die Spezialoperation ein Verbrechen ist. Vom ersten Tag an habe ich den Menschen gesagt, dass sie nichts als Unglück und Leid bringt. Vermutlich haben wir alle als Kinder Maeterlincks „Blauen Vogel“ gelesen. Dort geht es um die Suche nach dem Glück. Darum, diesen Vogel in der Hand zu halten. Der schrecklichste Moment in diesem Buch ist, als Tyltyl den Blauen Vogel im Palast der Königin der Nacht sucht. Dazu muss er eine Tür zu jener Höhle öffnen, hinter der sich der Krieg befindet. Er öffnet sie nur für eine Sekunde und schlägt sie sofort wieder zu. Etwas Schrecklicheres hat Tyltyl noch nie im Leben gesehen. Diese Tür ist heute nicht nur einen Spalt breit geöffnet, sie steht sperrangelweit offen.

Wenn ich unglücklich bin, wird auch meine Familie unglücklich sein. Und dieses Schicksal wird früher oder später jeden in diesem Land ereilen. Das Unglück verbreitet sich heute wie eine Lawine.

Zum Schluss will ich von einem ganz gewöhnlichen Ereignis erzählen, das mich im Herz und in der Seele ergriffen hat.

Meine Frau und ich sind im Sommer 2018 in die Ukraine gefahren, einfach mit dem Auto in den Urlaub in die Nähe von Odessa. Alle haben mir damals gesagt, dass man da nicht hinfahren kann, dass man mich als Russen erkennen und dann umbringen werde. Nichts dergleichen ist passiert. Wir sind an der Küste entlang durch das gesamte Gebiet Odessa gefahren, bis nach Viteev an der Grenze zu Rumänien. Wir hatten ein Zelt dabei und überall dort haltgemacht, wo Touristen dies eben tun. Es waren wahnsinnig viele Ukrainer aus vielen verschiedenen Städten da. Und selbst die Leute in Zelten mit Ukrainefahne haben nichts gesagt. Keinerlei Vorwürfe. Obwohl der Krieg schon in Gange war. In Donec’k, in Luhans’k. Wir waren überall willkommen, haben uns mit allen hervorragend verstanden. Weil wir nicht in einem Panzer dort hingefahren sind. Weil wir nicht mit dem Recht des Stärkeren kamen.

Ich war damals erschüttert, dass man in der Ukraine praktisch niemanden aus Russland traf. Der Sommer am Schwarzen Meer ist wunderschön, alle machen Urlaub – Ukrainer, Polen, Leute aus dem Baltikum, Moldauer aus Transnistrien. Aber fast niemand aus Russland. Es hat mir im Herzen wehgetan, dass dieses verbrecherische Regime unsere Völker, Menschen, die sich so nahe standen, auseinandergerissen hat.

Als wir unser Zelt in Lebedivka aufgebaut hatten, wo es sehr viele Camping-Touristen gibt, haben wir eine Familie aus der Nähe von Kiew kennengelernt, aus Bila Cerkva. Ein Paar mit zwei Kindern. Ein Junge, ungefähr dritte Klasse, und ein etwas jüngeres Mädchen. Wir haben uns angefreundet, zusammen Brettspiele gespielt, wir hatten viel Spaß. Aber mir ist aufgefallen, dass die Kinder ein wenig angespannt wirkten. Das erschien mir seltsam. Bis dies passierte, es war ein Schock: Der Junge fragte mich, ob wir wirklich aus Russland kommen. Wir sagten, ja, aus Russland, und er fragte: Wirklich aus Moskau? Ja, naja, nicht ganz, aus Korolev, einer Stadt in der Nähe von Moskau. Eine ganze Weile sagte er gar nichts und dann fragte er völlig ernst, ohne jeden Spaß: „Und Sie werden uns nicht umbringen?“ Es ist eine Untertreibung, wenn ich sage, dass ich schockiert war. Ich war erschüttert, von dem, was bereits passiert war und von dem Gedanken an das, was noch passieren konnte.

Ich habe mit den Eltern gesprochen, sie gefragt, warum die Kinder so etwas denken. Der Vater sagt: Na, wegen des Kriegs im Donbass, sie lernen in der Schule, dass Russland einen Angriff auf die Ukraine plant. Ich habe die Eltern gebeten, den Kindern zu erklären, dass gewöhnliche Russen, normale Menschen aus Russland, den Ukrainern nichts Böses wollen, dass das Problem bei Russlands oberster Staatsführung liegt.

Das ist einige Jahre her, jetzt sind wir im Jahr 2024, und mich quält der fürchterliche Gedanke, dass ich diese Kinder betrogen habe, als ich ihnen gesagt habe, sie sollen keine Angst haben, es wird nichts passieren, wir werden sie nicht umbringen. Wir bringen sie um, das ist eine bittere Tatsache. Ich weiß nicht, was mit dieser Familie passiert ist, nur dass auch auf Bila Cerkva Raketen niedergegangen sind. Aber ich werde für immer an sie denken. Ich vermute, wenn ich sie je wiedersehen sollte, wird es sehr schwer sein, sich mit ihnen zu unterhalten. Wie früher wird es nicht mehr sein.

Ich habe meinen ersten Post über Buča verschickt, damit die Menschen in Russland sehen, wie furchtbar der Krieg ist. Dass er nichts als Angst, Schmerz, Leid, Zerstörung und Verlust bringt. Über ein anderes Land und über unseres auch. Tausende Familien haben allernächste Angehörige verloren. Väter, Kinder, Söhne sind nicht zurückgekommen. Und in anderen Familien hat man jeden Tag Angst vor einer Todesnachricht.

Wir müssen verstehen, dass all das, was geschehen ist, unsere Schuld ist. Ich bekenne: Auch ich trage Schuld daran. Als Bürger Russlands, der dies zugelassen hat, der es dem Regime erlaubt hat, solche fürchterlichen Entscheidungen zu treffen. Als Journalist, der die Gesellschaft nicht erreicht hat, ihr nicht erklären konnte, dass das Recht des Stärkeren ins Mittelalter gehört, dass wir im 21. Jahrhundert leben und dass es schrecklich und primitiv ist, sich an tumben Gefühlen zu berauschen.

Was können wir jetzt noch tun? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Aber ich bitte alle Bürger der Ukraine, denen unser Land Leid gebracht hat, denen es Verwandte und Freunde geraubt hat, um Verzeihung. Ich bitte nicht im Namen des ganzen Landes, sondern als Bürger der Russländischen Föderation, Roman Viktorovič Ivanov. Ich knie nieder vor den Angehörigen der Ermordeten von Buča. Ich weiß nicht genau, wer diese Menschen ermordet hat, aber ihr Tod ist eine Folge der Entwicklung in unserem Land. Danke.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Quelle: Menschenrechtszentrum Memorial

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