Der Nebel von Pokrovs'k
Der Nebel von Pokrovs'k

Im Kessel von Pokrovs‘k

Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 188.–189. Kriegswoche

Nikolay Mitrokhin, 11.11.2025

Die Schlacht um Pokrovs’k ist noch nicht zu Ende. Eine Einkesselung der im Stadtgebiet kämpfenden ukrainischen Einheiten ist möglich, ebenso könnten diese die Versorgungslinien der russländischen Soldaten abschneiden. Auch an anderen Frontabschnitten steht die ukrainische Armee stark unter Druck, hält diesem aber stand. Das nächste Ziel der Okkupationsarmee ist Kramators’k, das bereits heute mit Gleitbomben und Kampfdrohnen angegriffen wird.

Der ukrainischen Armee ist es nach den Erfolgen der russländischen Armee im Oktober in den ersten beiden Novemberwochen gelungen, die Situation an drei besonders gefährdeten Frontabschnitten zu stabilisieren. Dies gilt für die Schlüsselabschnitte Kupjans’k, Pokrovs’k und den Raum nördlich von Huljaj-Pole im Gebiet Zaporižžja.

Die internationale Aufmerksamkeit ist weiter auf Pokrovs’k und die leicht östlich davon gelegene Kleinstadt Myrnohrad gerichtet. Dort findet die „Schlacht des Jahres“ statt. Noch Ende Oktober sah es so aus, als würden die ukrainischen Verteidiger der Agglomeration ihre Positionen unweigerlich aufgeben müssen und den schmalen Flaschenhals nördlich von Pokrovs’k als letzte Möglichkeit für eine Evakuierung nutzen. Doch die Situation hat sich geändert. Am 1. November erklärte das 7. Korps der Luftsturmtruppen, die taktische Lage habe sich in einigen Stadtvierteln verbessert. Im Zuständigkeitsbereich des Korps seien 1320 gegnerische Soldaten ausgeschaltet worden. Zudem wurden Spezialtruppen des Geheimdienstes des ukrainischen Verteidigungsministeriums (Holovne Upravlinnja Razvedky, HUR) sowie weitere Reserven in die Stadt gebracht. Die folgenden Kämpfe in den ersten Novembertagen beschreibt der ukrainische Militärblogger Roma Kyndratjuk so:

„In Pokrovs’k schwingt die Höllenschaukel hin- und her. Weder der Feind noch wir kontrollieren die Stadt. Gekämpft wird in einer riesigen Grauzone. […] Am schwierigsten für den Feind ist das Gebiet nördlich der Bahnlinie. Dort werden sie vom Nachschub abgeschnitten und unsere Kämpfer machen Druck. Südlich der Bahnlinie haben es unsere Leute schwerer. Aber die Luftsturmtruppen, die Sondereinsatzkräfte und die Sturmbrigaden machen eine sehr gute Arbeit, sie schlagen immer wieder Korridore und greifen den Feind von den Flanken her an. Pokrovs’k kann dem Anschein nach zu einem zweiten Bachmut werden. Aber was jetzt real passiert, ist etwas ganz anderes. In Bachmut gab es kein kontrolliertes Chaos auf beiden Seiten. Friendly Fire ist jetzt in Pokrovs‘k eine große Gefahr. Außerdem tarnen die Feinde sich oft als Zivilisten oder mit ukrainischen Uniformen. Dass sich in Pokrovs’k weiter einige Tausende Zivilisten befinden, macht es den Verteidigern noch schwerer.“

Das gleiche Bild zeichnet der russländische Militärblogger Aleksandr Charčenko:

„Nein, die russländische Armee ist nicht an der ukrainischen Verteidigung zerschellt. Im Raum Pokrovsk stehen Zehntausende Soldaten. […] Auf den Aufnahmen der Drohnenkameras aus der Stadt selbst sind hingegen kaum Soldaten zu sehen. Es finden Kämpfe statt, aber Dauerfeuer gibt es dort nicht. Nur sehr selten sind Maschinengewehrsalven zu hören. Beide Seiten halten ihre Hauptkräfte zehn Kilometer außerhalb der Stadt. Alle Zufahrten werden von Drohnen kontrolliert und nur die durchgeknalltesten Draufgänger schaffen es lebend durch diese Barriere. Deswegen kämpfen in Pokrovs'k nur Bruchteile der Armeen, die jenseits der Stadt stehen. Ein Sturm wie in Bachmut wird es nicht mehr geben. In der Stadt sind weniger Soldaten als Zivilisten. Ein Straßenzug kann von drei Soldaten eingenommen werden – ihnen stehen nur drei Soldaten gegenüber, die diesen zu halten versuchen. Und all das vor den Augen der Rentner, die die Stadt nicht verlassen wollten.“

Unzweifelhaft ist allerdings, dass die südliche Hälfte von Pokrovs’k fast vollständig unter Kontrolle der Besatzungsarmee steht. In der Nacht auf den 10. November konnte diese sogar im Schutze dichten Nebels mit zahlreichen Fahrzeugen in die Stadt gelangen.

Im östlich gelegenen Myrnohrad wird an mindestens zwei Stellen im Ostteil der Ortschaft gekämpft. Und doch ist es der ukrainischen Armee und den Sondereinheiten in der gleichen Nacht ebenfalls im Schutze des Nebels gelungen, was ihr zuvor mehr als einen Monat lang nicht mehr möglich gewesen war: die abgekämpften Truppen samt der Verwundeten durch dem Flaschenhals abzuziehen und frische Kräfte samt neuer Waffen und Munition in den Kessel von Pokrovs’k hineinzuführen.

Nach dieser Rotation ist es möglich geworden, dass die ukrainischen Drohnenpiloten die Zugänge zu der Stadt von Süden wieder blockieren, so dass die eingedrungenen russländischen Soldaten von Nachschub abgeschnitten und einer Rückzugsmöglichkeit beraubt sind. Befinden sie sich in einer solchen Falle, kann die ukrainische Armee sie mit Drohnen und Artillerie unter Beschuss nehmen. Die ein- oder zweistöckigen Häuser der Stadt bieten zwar ein Versteck gegen die in der Luft hängenden Kleindrohnen, jedoch keinen Schutz gegen solche Angriffe. Zugleich ist auch das umgekehrte Szenario möglich: Die russländischen Einheiten nehmen die nördlichen Teile der Stadt ein und schließen von dort den Kessel, so dass sich die ukrainischen Soldaten in einer Falle befinden.

Erfolgreiche Verteidigung bei Kupjans’k und Huljaj-Pole

Verfrüht waren Erfolgsmeldungen des russländischen Generalstabschefs Gerasimov über die Lage in Kupjans’k. Dieser hatte um den 20. Oktober davon gesprochen, die ukrainischen Truppen in der Stadt und am Ostufer des Oskil seien eingeschlossen. Russländische Militärkanäle wie Rybar‘ sprachen hingegen von „Problemen“. Sie hatten allerdings ebenfalls auf veröffentlichten Karten Bereiche im Südwestteil sowie westlich der Stadt als „unter Kontrolle Russlands“ ausgewiesen, die nun ohne weitere Erklärung wieder als ukrainisch kontrolliertes Gebiet auftauchen. Die Versuche, ukrainische Einheiten südlich der Stadt bei Kupjans’k-Vuzlovyj an einer Überquerung des Oskil zu hindern, sind ebenfalls gescheitert.

Im Raum Huljaj-Pole ist es der Ukraine weitgehend gelungen, den gefährlichen Durchbruch bei Velykomichajlivka zu stoppen, wo die Okkupationstruppen auf die Kleinstadt Pokrovs’ke im Gebiet Dnipropetrovs’k vorrückten, die vor 2022 rund 10 000 Einwohner hatte. Allerdings öffnet sich der Raum, in dem die Besatzer die Frontlinie durchstoßen haben, in die Breite. Auch hat die Armeegruppe Ost der russländischen Armee Anfang November einen Vorstoß in die entgegengesetzte Richtung unternommen und ist von Nordosten kommend in Richtung Huljaj-Pole vorgestoßen. Am 7. November hat sie die Ortschaft Uspenivka (1500 Einwohner vor 2022) und zwei benachbarte Dörfer eingenommen und am 9. November die einige Kilometer westlich gelegenen Siedlungen Solodke und Nove. Bis Huljaj-Pole, dem Zentrum der ukrainischen Verteidigung im Übergangsbereich zwischen den Gebieten Zaporižžja und Dnipropetrovs’k sind es noch 15 Kilometer.

Die ukrainische Verteidigung unter Druck

An anderen Brennpunkten hat sich die Lage der ukrainischen Truppen in der ersten Novemberhälfte deutlich verschlechtert. Im Norden des Gebiets Sumy waren die Besatzungstruppen länger in der Defensive, nun konnten sie wieder zum Angriff übergehen. Bislang konnte die ukrainische Armee ein Vorrücken verhindern.

In Vovčans’k haben sich die Einheiten der Ukraine in den südöstlichen Teil der von russländischen Bombenangriffen vollkommen zerstörten Stadt zurückgezogen. Weiter östlich ist die russländische Armee an einer weiteren Stelle entlang der Staatsgrenze auf ukrainisches Territorium vorgedrungen und hat eine Siedlung eingenommen. Auf diese Weise werden die ukrainischen Verteidigungstruppen im Gebiet Charkiv weiter zerstreut.

Auch bei Lyman verschlechtert sich die Situation der Ukraine. Die russländischen Truppen haben die Stadt faktisch von Svjatohirs’k abgeschnitten. Offenbar steht die Siedlung Jampil‘ östlich von Lyman bereits seit Ende Oktober unter Kontrolle der Besatzer. Auch bei Sivers’k steht die Okkupationsarmee am östlichen und nördlichen Stadtrand, wahrscheinlich wird bald auch in der Kleinstadt selbst gekämpft werden.

Im Visier: Kramators’k

Unterdessen diskutieren die Beobachter darüber, welches das nächste Ziel der – nach ukrainischen Angaben im Raum Pokrovs’k rund 150 000 Soldaten umfassenden – Okkupationsarmee sein wird. Am wahrscheinlichsten ist ein Vorstoß über Dobropillja in Richtung Kramators’k und Slovjans‘k. Dobropil’e hatte vor Februar 2022 rund 28 000 Einwohner, halb so viele wie Pokrovs’k. In Kramators‘k, wo vor der Großinvasion 150 000 Menschen lebten, befindet sich das Stabsquartier der ukrainischen Armeegruppe im Donbass. Slovjans‘k, das vor 2022 noch 54 000 Einwohner hatte, war im Jahr 2014 die westlichste Stadt im Donbass, in der russländische Sondereinsatztruppen und Geheimdienstler gemeinsam mit örtlichen Separatisten die Macht ergreifen konnten.
Eine Einnahme der beiden Städte könnte Putin daher als einen Sieg in diesem Krieg präsentieren.

Allerdings wird Russlands Besatzungsarmee alleine für die Einnahme des 20 Kilometer nördlich von Pokrovs’k gelegenen Dobropillja ein halbes Jahr benötigen, wenn die Ukraine ihre Verteidigung wie bisher aufrecht erhalten kann. Und von dort sind es weitere 50 Kilometer bis nach Kramators’k, auf denen mehrere Flüsse überwunden und die zur Agglomeration von Kostjantynivka gehörende Stadt Druživka eingenommen werden muss. Ein Sturm des von Hochhäusern und Industrieanlagen geprägten Kramators’k könnte so viele Opfer fordern wie die Einnahme von Mariupol‘. Im Zuge ihrer neuen Taktik wird die russländische Armee Kramators’k und Slovjans’k allerdings eher von Westen und Norden umgehen und einkreisen. Dies aber bedeutet, dass sie weitere 40 Kilometer überwinden muss.

Auch von Nordosten versucht die Besatzungsarmee über Lyman und Svjatohirs’k auf die beiden Städte vorzustoßen. Dort fließt allerdings der Sivers’kyj Donec', dessen hohes Westufer ein Hindernis ist, das die russländischen Truppen im Jahr 2022 nicht überwinden konnten.

Gleichwohl wird Kramators’k bereits heute aus der Luft angegriffen – mit Gleitbomben, schweren Angriffsdrohnen und FPV-Drohnen an Glasfaserkabeln, deren Reichweite mittlerweile häufig bis zu 40 Kilometer beträgt. Jüngst seien sogar aufgerollte Glasfaserkabel mit einer Länge von 60 Kilometern an russländische Einheiten geliefert worden. Die Drohnen sind augenscheinlich der Grund, warum der von Soldaten und Zivilisten genutzte Zug nach Kramators’k seit dem 5. November nicht mehr bis in die Stadt fährt. Die neue Endstation der aus Westen kommenden Züge ist nun Barvenkovo im Gebiet Charkiv. Faktisch ist dies der Auftakt zu weiteren Schritten: Kramators’k wird – wie zuvor zahlreiche andere Städte – zur Frontstadt erklärt, es folgt eine Evakuierung der Bevölkerung, die städtischen Behörden und andere Einrichtungen stellen ihre Tätigkeit ein und die Stadt wird auf die Verteidigung gegen den bevorstehenden Angriff vorbereitet.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.