Vladimir Kara-Murza am Ort der Ermordung von Boris Nemcov
Vladimir Kara-Murza am Ort der Ermordung von Boris Nemcov

Im Namen des Volks

Vladimir Kara-Murza: 25 Jahre Lager für 25 Jahre Politik

Vera Čeliščeva, 21.4.2023

Vladimir Kara-Murza engagiert sich seit seinem 18. Lebensjahr unermüdlich für sein Land. Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Russland stehen für ihn über allem. Er kämpfte gegen Wahlfälschung, politische Verfolgung und Straflosigkeit von Mördern in Uniform, musste die Ermordung seines Mitstreiters und Freundes Boris Nemcov erleben und überstand zwei Giftanschläge knapp. Nach Russlands Überfall auf die Ukraine rief er gemeinsam mit anderen die internationale Gemeinschaft dazu auf, die politische Führung Russlands wegen des Befehls zum Einmarsch in der Ukraine zu Kriegsverbrechern zu erklären. Jetzt wurde Kara-Murza zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Das Regime will seinen politischen und physischen Tod. Sein Kampf geht weiter – bis zu seiner Rehabilitierung im Namen des Volks in einem demokratischen Russland.

Das Fundament

Vladimir Kara-Murza stammt aus einer Historikerfamilie. Einer seiner Vorfahren war Nikolaj Karamzin, Verfasser einer zwölfbändigen „Geschichte des Russischen Staats“. Kara-Murza ist ein Name turksprachiger Herkunft, Karamzin eine russifizierte Variante, die Bedeutung ist: Schwarzer Fürst. Vladimirs Großvater Aleksej Kara-Murza war Historiker und Frontberichterstatter, er hat Stalingrad erlebt. Vor dem Krieg saß er im Lager. Der Urgroßvater Sergej Kara-Murza hatte noch zu zarischen Zeiten ein Studium der Rechtswissenschaft absolviert, arbeitete als Anwalt und Publizist und war Vorsitzender der Russländischen Gesellschaft der Bücherfreunde. Im Zentrum von Moskau hängt in der Mjasnickaja-Straße an einem Gebäude, das heute zur Wirtschaftshochschule gehört, eine Gedenktafel, die an Vladimirs Groß- und Urgroßvater erinnert. Ein Urgroßvater aus der mütterlichen Linie war der lettische Revolutionär Woldemar Bisenieks. Er wurde 1938 auf dem Höhepunkt des Stalinschen Terrors erschossen. Ein Urgroßonkel aus derselben Linie war der lettische Diplomat Georg Bisenieks, der 1934 der Mittäterschaft an der Ermordung Kirovs sowie der Spionage für den lettischen und den britischen Geheimdienst beschuldigt wurde. Auch er wurde erschossen. Vladimirs Vater, Vladimir Kara-Murza sen. war Historiker und ein bekannter Fernsehjournalist. Als der für seine Kritik an dem seit gut einem Jahr amtierenden Präsidenten Vladimir Putin bekannte Fernsehkanal NTV im Jahr 2001 an einen vom Kreml bestimmten Eigentümer geht, verlässt Vladimir Kara-Murza sen. gemeinsam mit anderen Redaktionsmitgliedern aus Protest den Sender. Versuche, seine Arbeit bei neuen unabhängigen Sendern fortzusetzen, scheitern, da diese ebenfalls geschlossen werden. Eine Zeit lang verdingt er sich sogar als Heizer in einem Kraftwerk. Dann kehrt er in den Journalismus zurück und arbeitet für Radio Svoboda und Ėcho Moskvy.

Seine Schulbildung verlief für einen russländischen Politiker äußerst ungewöhnlich: Seine Eltern schickten ihn auf eine französische Schwerpunktschule, wo die Lehrer sogar zu sowjetischen Zeiten mit ihren liberalen Ansichten nicht hinterm Berg hielten und ihre Schüler zu Freisinn, kritischem Denken und geistiger Unabhängigkeit erzogen. An dieser Schule lernte er in der fünften Klasse auch seine spätere Ehefrau Evgenija kennen. Nach der Schule ging Kara-Murza jun. ans Trinity College in Cambridge, wo er ein Masterstudium in Geschichte abschloss.

In einem Brief aus dem Gefängnis an die Novaja Gazeta Evropa schreibt Kara-Murza:

„Historiker bin ich schon in dritter Generation und Journalist sogar in vierter. Lustigerweise, daran erinnere ich mich genau, wollte ich in dem Alter, als es um Studium und Berufswahl ging, genau zwei Dinge nicht werden: Historiker und Journalist. Wie viele Generationen denn noch? Offenbar kommt man aber gegen die Gene nicht an. Natürlich haben das historische Wissen meines Großvaters und meines Vaters und meine eigene Ausbildung in Cambridge mich sehr geprägt. Geschichtswissenschaft ist meiner Ansicht nach die beste Grundlage für jeden Journalisten und Politiker. Sie erweitert den Horizont und hilft, Entscheidungen zu treffen. Vor allem ermöglicht ein solches Studium, den Verlauf der Ereignisse zu prognostizieren und die Folgen von Entscheidungen (der eigenen oder der von anderen) abzuschätzen. Ključevskij hat zwar gesagt: „Die Geschichte lehrt nichts, sie bestraft nur für nicht gelernte Lektionen“, trotzdem kann man sehr wohl etwas lernen bei ihr. Für mich hat diese Ausbildung einen unmittelbaren praktischen Nutzen. In meiner Diplomarbeit in Cambridge ging es um die Erste (vorrevolutionäre) Staatsduma, später habe ich mich unter anderem auf die Geschichte der Dissidentenbewegung in der Sowjetunion spezialisiert. Gerade letzteres ist heute besonders aktuell.“

Der Journalist

Bereits während seines Studiums schreibt Vladimir Kara-Murza journalistische Texte. Sein erster Artikel erscheint in einer englischen Zeitung. Thema ist die Jagd auf die Füchse, die wie herrenlose Hunde durch London ziehen. Kara-Murza ruft dazu auf, sie zu schützen, statt sie zu erschießen.

Bald darauf schreibt er für die Moskauer Novye Izvestija, dann wird er Korrespondent des Kommersant und sogar Chefredakteur der Russian Investment Review. 2004 erhält er im Alter von 23 Jahren das Angebot, das Washington-Büro des Fernsehsenders RTVi zu leiten, der zu dieser Zeit dem ehemaligen Besitzer von NTV, Vladimir Gusinskij gehört. Auch ins Fernsehmetier arbeitet Vladimir sich wie sein Vater schnell ein. Als einzigem russländischen Journalisten gelingt es ihm, die Übergabe der Gerichtsakten zum Fall Jukos an den damaligen Finanzminister Aleksej Kudrin zu filmen. Später führt er als erster ein Fernsehinterview mit dem Unternehmer Sergej Kolesnikov, in dem dieser von „Putins Palast“ am Schwarzen Meer erzählt.

Bis zu seiner Verhaftung schrieb er für die Washington Post, das Wall Street Journal und die Financial Times, für die N’ju tajms und die Novaja Gazeta.

Der Politiker

Mit 18 trat Vladimir Kara-Murza der wirtschaftsliberalen Partei Demokratische Wahl Russlands (Demokratičeskij vybor Rossii) bei, die bald in der ähnlich ausgerichteten Union der rechten Kräfte (Sojuz pravych sil, SPS) aufgeht. Dort lernte er Anfang der 2000er Jahre Boris Nemcov kennen, der zu dieser Zeit Fraktionsvorsitzender der SPS in der Duma war, nachdem er in den 1990er Jahren als jüngster Gouverneur Russlands dem Gebiet Nižnij Novgorod vorgestanden und in den Jahren 1997–1998 einige Regierungsämter übernommen hatte. Die Bekanntschaft mit Nemcov sollte Kara-Murzas Leben verändern.

Im Jahr 2003 – Vladimir Putin ist bereits drei Jahre im Amt – tritt Vladimir Kara-Murza erstmals bei Wahlen zur Duma an. Zum ersten Mal macht er Bekanntschaft mit den „administrativen Ressourcen“. Er tritt im Süden Moskaus im Wahlkreis Čertanovo an, wo der Gegenkandidat von der Partei der Macht Einiges Russland (Edinaja Rossija), Vladimir Gruzdev, Kara-Murzas Ausschluss von der Wahl betreibt. Bei den City-Light-Postern mit seinen Wahlkampfslogans fällt unentwegt der Strom aus, und bei Fernsehdebatten wird mehrfach „aus technischen Gründen“ der Ton abgeschaltet, sobald er zu Wort kommt. Am Wahltag werden bezahlte „Wahltouristen“ eingesetzt, die von Wahllokal zu Wahllokal ziehen und ungehindert mehrfach für denselben gewünschten Kandidaten stimmen. Der Kandidat des Kreml gewinnt den Wahlkreis.

Einige Monate nach der Wahl gründete Kara-Murza gemeinsam mit Nemcov, dem ehemaligen Schachweltmeister Garri Kasparov, Oppositionspolitikern wie Vladimir Ryžkov und Irina Chokomada sowie einigen Intellektuellen das „Komitee ‚Freie Wahlen 2008‘“, dessen Ziel freie und faire Präsidentenwahlen im Jahr 2008 sind. Das Komitee löst sich jedoch rasch wieder auf.

Danach entschloss Kara-Murza sich zu einem ungewöhnlichen politischen Schritt. Er initiierte eine Kandidatur des sowjetischen Dissidenten Vladimir Bukovskij bei der Präsidentschaftswahl 2008. Doch die Zentrale Wahlkommission unter Vladimir Čurov verweigerte Bukovskij die Registrierung.

Bald darauf zerfiel die SPS: Die Partei vereinte sich mit dem Kreml-Projekt Rechte Sache, Nemcov und Kara-Murza traten unter Protest aus. Nemcov gründete daraufhin die Bewegung Solidarität, in der Kara-Murza in führender Position mitwirkte.

Das Magnitsky-Gesetz

Am 16. November 2009 starb im Moskauer Untersuchungsgefängnis „Matrosskaja tišina“ der Jurist und Finanzprüfer Sergej Magnickij, der für die Consulting-Firma Firestone Duncan gearbeitet hatte. Seine Kollegen veröffentlichten daraufhin Dokumente, die zeigen, dass Magnickij kurz vor seiner Verhaftung ein Netzwerk von Beamten aus verschiedenen Ministerien entdeckt hatte, die sich mittels unrechtmäßiger Steuerrückerstattung in großem Maßstab öffentliche Gelder aneigneten. Doch statt Untersuchungen gegen die betreffenden Personen einzuleiten, verhafteten die Behörden Magnickij und klagten ihn wegen angeblicher Beihilfe zur Steuerhinterziehung an. Das Untersuchungsverfahren wurde in die Hände genau jener Männer gelegt, die im Verdacht der Korruption standen.

Magnickijs Gesundheitszustand verschlechterte sich in der Untersuchungshaft zusehends, trotzdem wurde ihm systematisch medizinische Hilfe verweigert. Er starb wenige Tage vor Auslaufen der angeordneten Untersuchungshaft. Eine unabhängige Kommission zum Schutz der Rechte von Menschen in Haftanstalten stellte fest, dass er wenige Minuten vor seinem Tod mit Knüppeln geschlagen worden war.

Dass der US-Kongress drei Jahre später mit einem Gesetz auf diesen Vorfall reagierte, ging zu einem erheblichen Teil auf eine gemeinsame Initiative von Vladimir Kara-Murza und Boris Nemcov zurück. Das Gesetz ermöglichte erstmals personenbezogene Sanktionen gegen konkrete Beamte eines anderen Staats, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind oder waren. Auf der Basis dieses sogenannten Magnitsky-Gesetzes wurden mehrere Personen, die an der Inhaftierung und am Tod Magnickijs beteiligt waren, mit einem Einreiseverbot in die USA und Kontensperrungen belegt. Dies war ein schmerzhafter Schlag für die an vollständige Straffreiheit gewöhnten russländischen Funktionäre in Anzug und Uniform.

Kara-Murza, der zu diesem Zeitpunkt mit seiner Familie in den USA lebte, erreichte, dass in die letzte Fassung des Gesetzentwurfs ein Verweis auf „die Meinungsfreiheit, die Vereinsfreiheit, die Versammlungsfreiheit und das Recht auf einen fairen Prozess sowie freie Wahlen“ aufgenommen wurde.

Im Sommer 2012 verlor Vladimir Kara-Murza seinen Posten bei RTVi. Kurz zuvor hatte Vladimir Gusinskij den Fernsehsender verkauft, neuer Besitzer wurde der ehemalige Leiter der staatlichen Medienholding Zvezda Ruslan Sokolov. Bald darauf wurde Kara-Murza auf persönliche Veranlassung des russländischen Botschafters in den USA Sergej Kisljak die Akkreditierung entzogen. Der Pressesprecher der Botschaft erklärte, Kara-Murza sei kein Journalist mehr.

Die Anweisung zur Entlassung von Kara-Murza hatte laut Informationen von Boris Nemcov zufolge kein geringerer als der erste stellvertretende Leiter der Präsidialadministration Aleksej Gromov gegeben. Derselbe Gromov soll auch sämtlichen Medien in Russland mit „Schwierigkeiten“ gedroht haben, falls sie Kara-Murza beschäftigen würden. Auch Kara-Murza selbst sprach seinerzeit von einer „schwarzen Liste“: „Sämtliche Chefredakteure, mit denen ich redete – einige davon hatten mir kurze Zeit vorher noch von sich aus Angebote gemacht – erklärten höflich, dass eine Zusammenarbeit momentan nicht möglich sei. Gründe nannten sie verschiedene. Nur einer erwähnte eine ,Belastung', die mit meinem Namen verbunden sei.“

Ermordung Boris Nemcovs, Vergiftung Kara-Murzas

Februar 2015. Auf einer Brücke über die Moskva in unmittelbarer Nähe des Kreml wird Boris Nemcov mit vier Schüssen in den Rücken ermordet. Acht Jahre danach sind die Auftraggeber und Hintermänner des Mordes noch immer nicht gefunden, obwohl die Anwälte der Familie Nemcov mehrfach Hinweise vorgelegt haben, die zu hohen tschetschenischen Beamten aus dem engsten Umfeld von Ramzan Kadyrov führen.

In seinem Brief aus der Haft schreibt Vladimir Kara-Murza über seinen ermordeten Kollegen und Freund:

„Ohne Boris wäre ich nicht der geworden, der ich bin. Vieles von dem, was ich in meinem Leben getan habe, hätte ich ohne ihn nicht gemacht. Ich war 18, als wir uns kennenlernten. Während des Wahlkampfs vor den Dumawahlen 1999 habe ich für ihn gearbeitet. Von da an standen wir Seite an Seite über all die Jahre, bis zu seinem Tod. Wahlen, Demonstrationen, Engagement in demokratischen Parteien und Bewegungen. Parlamentsarbeit (ich war bei ihm als Berater angestellt, als er Duma-Abgeordneter war) und außerparlamentarische Opposition, die uns fast zu Dissidenten machte. Gemeinsam haben wir in den USA das Magnitsky-Gesetz angestoßen. Ich bin dankbar für jeden Tag, den ich in diesen Jahren in seiner Gesellschaft verbringen durfte. Boris war für mich nicht nur ein Mitstreiter, er war ein erfahrener Kollege, ein Lehrer, ein Freund und schließlich auch Taufpate meiner jüngeren Tochter. Das wichtigste, was er mich gelehrt hat (auf die einzig mögliche Weise: durch sein persönliches Vorbild), ist dies: Saubere Politik ist möglich. Nemcov verstand Politik in der gleichen Weise wie Václav Havel: als angewandte Moral. Er sagte immer, was er dachte. Tat, was er versprochen hatte. Er verriet nie seine Überzeugungen, hinterging nie seine Freunde. Tat immer das, was er für richtig hielt, nicht das, was ihm Vorteile verschafft hätte, was leicht und bequem gewesen wäre. Und das vielleicht wichtigste: Er hegte eine aufrichtige, echte Menschenliebe. In der heutigen russischen Politik fehlt das sehr. Und auch Boris selbst fehlt sehr.“

An einem Tag im Mai 2015, vier Monate nach dem Mord an Boris Nemcov, verliert Vladimir Kara-Murza plötzlich das Bewusstsein. Damals ist er bereits als Koordinator bei der heute zur „unerwünschten Organisation“ erklärten Stiftung Offenes Russland von Michail Chodorkovskij tätig. Bei einem Gespräch mit Kollegen wird ihm plötzlich übel, sein Herz beginnt zu rasen, dann muss er sich immer wieder übergeben. Als der Notarzt eintrifft, kann er sich kaum noch bewegen. Die erste Diagnose: Herzinfarkt. Noch am Abend soll er operiert werden. Doch der bekannte Herzchirurg Michail Alšibaj, der Kara-Murza am selben Tag untersucht, stoppt die Kollegen: „Was macht ihr da? Das Herz ist in Ordnung, er hat eine Vergiftung!“

Die Operation wird abgesagt und Kara-Murza auf die Intensivstation des Pirogov-Krankenhauses verlegt. Zu diesem Zeitpunkt leidet er schon an multiplem Organversagen: beide Lungenflügel, Herz, Nieren und Leber sind betroffen. Der bekannte Intensivmediziner Denis Procenko versucht Kara-Murzas Leben zu retten. Zeitweilig ist er an acht Apparate zur künstlichen Lebenserhaltung gleichzeitig angeschlossen. Erst einen Monat später ist Vladimir transportfähig und wird in ein Krankenhaus in den USA verlegt, wo seine Familie lebt. Dort wird er weitere sechs Monate behandelt.

Ein französisches Labor stellt in einer Gewebeprobe eine erheblich erhöhte Schwermetallkonzentration in Kara-Murzas Körper fest. Eine gerichtsmedizinische Untersuchung in Russland ergibt jedoch angeblich keine Hinweise auf eine Vergiftung, die Untersuchungsbehörde lehnt die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens wegen versuchten Mordes ab.

Als es seine Gesundheit wieder zulässt, beginnt Kara-Murza, der weiter am Stock geht, wieder nach Russland zu reisen. Eine Zeit lang leitet er die von Boris Nemcovs Tochter Žanna gegründete Nemcov-Stiftung, zusätzlich dreht er einen Dokumentarfilm über seinen ermordeten Freund und Kollegen und reist nach der Fertigstellung durch Russland zu Vorführungen des Films.

Im Februar 2017 wird er nach der Rückkehr von einem Aufenthalt in Kazan’ ein zweites Mal mit den schon bekannten schweren Vergiftungssymptomen ins Moskauer Judin-Krankenhaus eingeliefert. Chef der Klinik ist Denis Procenko, der Kara-Murza zwei Jahre zuvor das Leben gerettet hat und auch diesmal den Tod des Patienten abwenden kann. Blut-, Haar- und Nagelproben werden zur Analyse an mehrere Labors geschickt.

Im Februar 2021 veröffentlichte das Rechercheteam Bellingcat gemeinsam mit Investigativjournalisten von The Insider und des Spiegel einen Bericht über die Vergiftung von Vladimir Kara-Murza. Die Untersuchung zeigt, dass der Politiker von derselben FSB-Einheit überwacht worden war wie Aleksej Naval’nyj. Wie diesem folgten die Geheimdienstleute auch Kara-Murza auf Reisen in verschiedene russländische Städte, unter anderem auch auf den beiden Reisen im Jahr 2015 und 2017, in deren Folge Kara-Murza zusammenbrach. Beteiligt waren wie im Falle Naval’nyjs Mitarbeiter des Instituts für Kriminalistik des FSB und der Zweiten Abteilung des Dienstes.

Beweise für seine Vergiftung erhoffte sich Kara-Murza von den US-Laboren, denen seine Frau die Blut- und Gewebeproben übergeben hatte. Doch das FBI verweigerte die Veröffentlichung. Kara-Murza zog sogar unter Berufung auf das Gesetz über Informationsfreiheit vor Gericht, erreichte jedoch lediglich, dass ihm Auszüge aus dem Gutachten übergeben wurden. Teile blieben aus „Gründen der nationalen Sicherheit“ unter Verschluss. Auf den Seiten, die Kara-Murza übergeben wurden, ist von einer „gezielten Vergiftung“ die Rede. Welche Substanz nach Ansicht des Labors zum Einsatz kam, ist diesen Auszügen nicht zu entnehmen. Ebenfalls geht aus den veröffentlichten Dokumenten hervor, dass im Januar 2018 der Besuch einer Person aus Russland erwartet wurde, die um ein Gespräch mit dem FBI-Direktor Christopher Wray gebeten hatte. In diesem Zeitraum waren FSB-Chef Aleksandr Bortnikov, der Leiter der Auslandsaufklärung SVR, Sergej Naryškin, und der Chef des militärischen Geheimdienstes GRU Igor’ Korobov in den USA. Kara-Murza selbst sowie das Team um Bellingcat gehen davon aus, dass die Veröffentlichung der kompletten Laborberichte aufgrund einer Übereinkunft zwischen dem FBI und einem der russländischen Geheimdienste verweigert wurde.

Am Vorabend des Kriegs

Nach seiner zweiten Vergiftung wird Kara-Murza im Juli 2019 Vize-Präsident der in den USA registrierten Stiftung Freies Russland, die im selben Monat in Russland zur „unerwünschten Organisation“ erklärt wird. Zudem dreht er den Dokumentarfilm Objazannost’ ne molčat’ (Die Pflicht, nicht zu schweigen) über Georgij Ėdel’štejn, einen für seine geistige Unabhängigkeit bekannten Priester der Russisch Orthodoxen Kirche (ROK) aus dem Dorf Karabanovo im Gebiet Kostroma. Ėdel’štejn hatte in den 1990er Jahren die Bischöfe der ROK dazu aufgefordert, öffentlich Reue für die Zusammenarbeit mit der kirchenfeindlichen Sowjetmacht und dem KGB zu bekunden. 2012 war er einer der wenigen Priester der ROK, die sich für die angeklagten Mitglieder der Gruppe Pussy Riot einsetzten und den Patriarchen für seine Nähe zur Staatsmacht kritisierten.

Kara-Murza reiste erneut in zahlreiche Städte Russlands zu Vorführungen des Films und öffentlichen Diskussionen. Er versuchte, vor Gericht zu erstreiten, dass die Untersuchungsbehörde ein Verfahren zu den beiden Giftanschlägen auf ihn aufnehmen muss. Für den Radiosender Ėcho Moskvy leitete er in der Nachfolge seines 2019 nach langer Krankheit verstorbenen Vaters die Sendung „Grani nedeli“ (Wegmarken der Woche) und organisierte im Sacharov-Zentrum Gesprächsrunden zum Thema Politische Gefangene in Russland.

Mitte Februar 2022 stellt sich die Lage in Russland so dar: Aleksej Naval’nyj sitzt seit einem Jahr in Haft. Der ehemalige Direktor von Offenes Russland (Otkrytaja Rossija) Andrej Pivovarov ist seit Ende Mai 2021 ebenfalls in Untersuchungshaft. Memorial, die älteste Menschenrechtsorganisation Russlands, ist seit zwei Monaten zwangsaufgelöst. Doch Kara-Murza reist immer noch nach Russland.

Krieg und Verhaftung

Unmittelbar nach dem Angriff auf die Ukraine gründet Kara-Murza mit einer Gruppe von Politikern, Geschäftsleuten und Wissenschaftlern das „Russländische Komitee gegen den Krieg“ (Antivoennyj komitet Rossii). Sie organisieren humanitäre Hilfe für die Ukraine und helfen Menschen, die aus Russland ins Exil gegangen sind. Vor allem rufen sie die internationale Gemeinschaft dazu auf, die politische Führung Russlands wegen des Befehls zum Einmarsch in die Ukraine zu Kriegsverbrechern zu erklären. Nur Kara-Murza hält sich noch teilweise in Russland auf, alle anderen Mitglieder sind in der Emigration: Michail Chodorkovskij, Garri Kasparov, Evgenij Čičvarkin, Sergej Aleksašenko, Sergej Guriev u.a.

Mitte März 2022 ist Kara-Murza in den USA und tritt im Repräsentantenhaus von Arizona auf. Er spricht über das Putin-Regime und die Bombardierung von Wohnvierteln, Krankenhäusern und Schulen in der Ukraine. Am 4. April nimmt er an einer Anhörung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats teil und berichtet dort über die politischen Gefangenen in Russland und wiederum über den Krieg. Trotzdem kehrt er nach Moskau zurück. Ihm ist vollauf bewusst, welche neuen repressiven Gesetze in Russland in den vorhergehenden Wochen verabschiedet wurden und dass bereits viele Menschen auf deren Basis verhaftet worden sind.

Seine Frau Evgenija erinnert sich:

„Anfang März 2022 bat ich ihn, zum 16. Geburtstag unserer ältesten Tochter für einige Tage nach Hause zu kommen [in die USA –Red.]. Er kam – und dann fuhr er wieder zurück. Wir diskutieren schon lange nicht mehr über diese Frage. Im Grunde ist seit 2015 klar, dass ihm nicht nur Gefängnis droht. Dass sein Leben unmittelbar bedroht ist. Und trotzdem besorgte er sich 2015, sobald er vom Bett aufstehen konnte, einen Stock und humpelte damit nach Moskau. Das gleiche 2017, wieder hat er einfach weitergemacht. Volodja hat immer gesagt, dass es kein größeres Geschenk für die heutigen Machthaber gibt, als dass alle ihre Gegner ihre Sachen packen und gehen. Und dass er ihnen dieses Geschenk nicht macht, weil er ein echter Patriot ist.“

Am 11. April 2022 wird Vladimir Kara-Murza in Moskau verhaftet. Zunächst unter einem Vorwand: 15 Tage Arrest, weil er sich angeblich den Anweisungen eines Polizisten widersetzt habe. Die Verhaftung findet unmittelbar vor seinem Haus statt, wo bereits Stunden zuvor ein Kleinbus ohne Kennzeichen auf ihn gewartet hatte. Im Polizeibericht heißt es, Kara-Murza habe „beim Anblick der Polizisten rasch die Richtung gewechselt, seinen Gang beschleunigt und auf die Aufforderung stehenzubleiben, versucht zu fliehen“.

Es dauert nur wenige Tage, bis ein Strafverfahren gegen ihn eröffnet wird: wegen „Verbreitung von Falschaussagen über Russlands Armee aufgrund von politischem Hass“. Zur Begründung wird der Auftritt in Arizona herangezogen. Er wird aus der Arrestzelle zum Verhör in die Untersuchungsbehörde gebracht. Das berüchtigte Basmannyj-Gericht erlässt Haftbefehl, er kommt in Untersuchungshaft. Einige Tage später erklärt ihn das Justizministerium zum „ausländischen Agenten“.

Vier Monate danach wird eine zweite Anklage gegen ihn erhoben, wegen „Leitung einer unerwünschten Organisation“. Eine von ihm organisierte Konferenz zur Unterstützung von politischen Gefangenen im Herbst 2021 im Sacharov-Zentrum sei von der Free Russia Foundation finanziert worden. Kara-Murza hatte den Posten des Vizepräsidenten bei Free Russia bereits mehrere Monate vor der Konferenz aufgegeben, um auch nach der Einstufung der Stiftung als „unerwünscht“ in Russland weiterarbeiten zu können. Dem entsprechenden Gesetz zufolge entbindet die freiwillige Aufkündigung der Zusammenarbeit mit einer „unerwünschten Organisation“ deren ehemalige Mitarbeiter von strafrechtlicher Verantwortung. Doch im Fall von Vladimir Kara-Murza wird das Gesetz ignoriert.

Im Oktober 2022, in einer heißen Phase der Kämpfe in der Ukraine, kommt schließlich noch ein weiterer, besonders schwerwiegender Anklagepunkt hinzu: Staatsverrat. Kara-Murza habe „Organisationen aus NATO-Staaten Hilfe geleistet, zum Schaden der Sicherheit Russlands“. Ganz offensichtlich ist seine Tätigkeit in Zusammenhang mit der Ausarbeitung des Magnitsky-Gesetzes gemeint.

Im März 2023 beginnt der Prozess – hinter verschlossenen Türen. Dem dreiköpfigen Richtergremium sitzt Sergej Podoprigorov vor, ein Mann, der vor vielen Jahren auf Kara-Murzas Betreiben im Zusammenhang mit dem Tod von Sergej Magnickij von den US-Behörden auf die Sanktionsliste gesetzt wurde. Leiter des Untersuchungsgefängnisses „Vodnik“, in dem Kara-Murza sitzt, ist ein Mann namens Dmitrij Komnov. Auch er steht auf der Magnitsky-Liste, denn er leitete im Jahr 2009 die Butyrka-Haftanstalt, wo der Wirtschaftsprüfer im Jahr 2009 schwer erkrankte und ihm medizinische Betreuung verweigert wurde.

Während des Prozesses geschehen Dinge wie dies: Der Staatsanwalt Boris Loktionov zieht aus seinen Unterlagen ein Bild hervor, das den verstorbenen Boris Nemcov auf einer Demonstration zeigt. Nemcov hat auf dem Bild einen Arm erhoben, der Staatsanwalt erklärt: „zum Hitlergruß“. Kara-Murza sagt: „Sie sollten sich schämen“, der Richter weist ihn zurecht. Kara-Murzas Antrag auf ein gerichtlich an­ge­ordnetes medizinisches Gutachten lehnt Podoprigorov ab, obwohl der Angeklagte im Verlauf der Untersuchungshaft immer öfter unter Taubheit in den Zehen und den Fingern leidet und die Gefängnisärzte eine Polyneuropathie diagnostiziert haben und ihn sogar an mehreren Gerichtsterminen für verhandlungsunfähig erklärt haben. Der Richter weiß: Eine ärztlich bestätigte Polyneuropathie gehört zu den Diagnosen, die eine Verbüßung der Strafe in Haft ausschließen.

Anfang April fordert der Staatsanwalt Loktionov 25 Jahre Lagerhaft unter strengen Bedingungen. In seinem Plädoyer nennt er Kara-Murza einen „Volksfeind“. Am 17. April ergeht das Urteil. Das Gericht folgt dem Antrag des Staatsanwalts.

In seinem Brief an die Novaja Gazeta kurz vor der Urteilsverkündung schreibt Kara-Murza:

„Die Geschichte meiner Familie ist leider typisch für die sowjetische Epoche. Ein Urgroßvater und ein Urgroßonkel wurden erschossen, mein Großvater saß im Gulag. Natürlich alle nach Artikel 58, Konterrevolution. Und natürlich wurden alle später rehabilitiert, wegen Fehlen eines Tatbestands. Vor einigen Jahren habe ich in einem Archiv ihre Untersuchungsakten gelesen. Darunter das schrecklichste Dokument, das ich je im Leben gesehen habe: die Bestätigung der Erschießung meines Urgroßvaters. Ein Zettel, ein Drittel A4-Blatt. Unterschrift des Vollstreckers, Name, Datum. Wie ein Gehaltszettel aus der Buchhaltung. Das Leben eines Menschen. Mein Großvater Aleksej Sergeevič Kara-Murza dagegen hat das Lager überlebt und anschließend noch den ganzen Krieg durchgemacht. Er war 1937 verhaftet worden, wegen „feindlicher Äußerungen über die Parteiführung und die Regierung“. Er saß im Amurlag und im Bamlag, baute gemeinsam mit den anderen Häftlingen die Bajkal-Amur-Magistrale. Das einzige, was er seiner Familie über die Zeit im Lager erzählt hat, war die Sache mit den roten Schienen: Im Frühjahr leuchteten die Schienen der BAM bei Sonnenaufgang in grellem Rot. Das kam von den Wanzen, die sich über Nacht vollgesogen hatten und jetzt aus den Baracken krochen, um sich zu wärmen. Menschen, die im Lager gesessen haben, wollen selbst in Gedanken nicht dorthin zurückkehren, das weiß man ja. Meine Großmutter, die deutlich jünger als ihr Mann war und heute 90 ist, hat daher erst von mir die ganze Geschichte erfahren, nachdem ich seine Akte im Archiv gelesen hatte. Als ich im vergangenen Frühjahr verhaftet wurde, hat sie meinen Anwalt Vadim Prochorov angerufen und gesagt: Wie sich der Kreis in diesem Land schließt. Mein Enkel sitzt mit dem gleichen Paragraphen wie mein Mann. Soviel zum Thema nichtgelernte Lektionen. Ich weiß genau, dass ich die Höchststrafe erhalte. Das war mir schon vor einem Jahr klar, am 11. April, als ich die Männer mit den schwarzen Masken hinter meinem Auto sah. Dies ist ein Schauprozess, und entsprechend demonstrativ muss das Urteil ausfallen. Aber ich weiß auch, dass das Urteil nichts mit der Realität zu tun hat. Bei politischen Gefangenen hängt die Haftzeit von der politischen Situation ab. Und die neigt in unserem Land dazu, sich zu ändern, und zwar überraschend.“

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Der Text erschien am 13.4.2023 auf der Internetseite der Novaya Gazeta Evropa.

Wir danken der Autorin und der Redaktion für die Genehmigung zur Veröffentlichung unter neuem Titel in leicht gekürzter deutscher Fassung.