Angriff auf die historische Markthalle "Privoz" in Odessa in der Nacht auf den 24. Juli 2025
Angriff auf die historische Markthalle "Privoz" in Odessa in der Nacht auf den 24. Juli 2025

Im Osten nichts Gutes

Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 175. Kriegswoche

Nikolay Mitrokhin, 30.7.2025

Russlands Krieg gegen die Ukraine geht unvermindert weiter. Erneute Verhandlungen in Istanbul blieben weitgehend ergebnislos. Russlands Forderungen sind für die Ukraine inakzeptabel. Im Osten der Ukraine rücken die Besatzungstruppen weiter an mehreren Frontabschnitten langsam vor. Auch der von beiden Seiten geführte Luftkrieg zur Schwächung des militärischen und wirtschaftlichen Potenzials des Gegners geht weiter.

Die Ukraine und Russland haben die Gespräche in Istanbul wieder aufgenommen. Auf Betreiben des US-Präsidenten Donald Trump trafen sich die Delegationen Moskaus und Kiews am 23. Juli. Doch außer einer Vereinbarung über einen weiteren Austausch von Kriegsgefangenen sowie von Leichen getöteter Soldaten hat das Treffen keine Ergebnisse gezeitigt. Ein baldiges erneutes Treffen ist jedoch wahrscheinlich, denn Trump hat unerwartet seine Frist für eine Einigung von 50 Tagen heruntergesetzt, gäbe es in „10–12 Tagen“ eine solche nicht, würden die USA Strafzölle gegen Russland und dessen Handelspartner erheben.

Unmittelbar nach dem Treffen vom 23. Juli überstellten die Kriegsparteien je 250 gefangene Soldaten an die gegnerische Seite. Kiew erklärte, damit seien im Sommer 2025 nach zehn Gesprächsrunden 1000 ukrainische Kriegsgefangene freigekommen. Obwohl ursprünglich die Rückführung von je 2300 Personen geplant war, hieß es nun, der vor einigen Wochen vereinbarte Austausch sei damit abgeschlossen. Allerdings gaben die Parteien gleichzeitig bekannt, man habe sich auf einen weiteren Austausch von je 1200 Personen – Soldaten und Zivilisten – geeinigt. Weshalb die ursprüngliche Abmachung nicht vollständig umgesetzt wurde und wozu es einer neuen Übereinkunft bedurfte, die auf das gleiche hinausläuft wie eine Umsetzung des ersten Abkommens, ist unklar. Möglicherweise hat es damit zu tun, dass es beiden Seiten vor allem darum geht, Donald Trump ihre angebliche Verhandlungsbereitschaft zu demonstrieren.

Real erhebt Russland weiter seine für die Ukraine unerfüllbaren Territorialforderungen. Und da beide Seiten ihre konkreten Vorstellungen zu Formen des Waffenstillstands aus ihren Kriegszielen ableiten, gibt es auch hierzu keine Einigung. Die Ukraine fordert eine generelle Einstellung der Kämpfe, Russland hingegen eine 2–3tägige Feuerpause an ausgewählten Frontabschnitten. Da eine solche Waffenruhe unverkennbar nicht nur der Evakuierung verletzter und getöteter russländischer Soldaten dienen würde, sondern auch der Versorgung der Sturmtruppen an vorderster Front, lehnt die Ukraine dieses Ansinnen Moskaus ab.

Unvereinbar bleiben auch die Positionen zum Verhandlungsprozess selbst. Die Ukraine setzt sich für ein möglichst rasches Treffen zwischen Zelens’kyj und Putin ein, der Kreml hingegen will in ein solches erst einwilligen, wenn Kiew in Arbeitsgruppen dem von Moskau erwünschten Resultat zugestimmt hat, das die Präsidenten dann nur noch besiegeln.

Dies hat auch mit dem Selbstverständnis der beiden Präsidenten zu tun. Putin sieht sich als imperialer Herrscher, der auf die Kapitulation der „aufständischen Provinz“ wartet, die er dann gnädig akzeptiert. Zelens’kyj hingegen betrachtet sich zurecht als Oberhaupt eines unabhängigen Staats – und vertraut auf sein Charisma bei direkten Verhandlungen. Zelens’kyjs Erwartung hat ihre Logik auch deswegen, weil dem Krieg u.a. ein persönlicher Konflikt zwischen den beiden Präsidenten vorausging – das Vorgehen Kiews gegen die Medien des Putinvertrauten Medvečuk. Fest steht jedoch, dass Putin von Zelens’kyj erwartet, dass dieser seine tatsächliche Bereitschaft zu Verhandlungen demonstriert und ein Zeichen setzt, indem er etwa eine Einstellung der Kampagne gegen die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK) anordnet oder eine symbolische Erklärung in Sachen Schutz der russischen Sprache abgibt. Das reale Vorgehen der ukrainischen Behörden in den vergangenen Wochen weist jedoch in eine andere Richtung. So haben diese etwa dem Oberhaupt der Ukrainischen Orthodoxen Kirche Metropolit Onufrij (Berezovs’kyj) die Staatsbürgerschaft entzogen. In Černivci sollte die Kathedrale der UOK enteignet werden, wo Onufrij 20 Jahren als Bischof amtierte. Und der Mitte Juli ernannte neue Ombudsmann für Sprachpolitik Taras Mel’nyčuk hat, kaum im Amt, erklärt, der „Sonderstatus“ des Russischen müsse durch eine Verfassungsänderung beseitigt werden. Offenbar sieht Kiew hier Verhandlungsmasse und gibt zu verstehen, dass – im Unterschied zu der Forderung nach einem vollständigen Abzug der russländischen Truppen – Spielraum für eine Einigung bestünde.

Die Situation an der Front

Nach zwei Wochen der Stabilisierung bei anhaltend bedrohlicher Lage hat sich die Situation für die ukrainischen Truppen in der 175. Kriegswoche wieder deutlicher verschlechtert. Das unablässige Anrennen der Besatzungstruppen zeitigte an mehreren wichtigen Frontabschnitten Erfolge. So mussten die ukrainischen Medien vermelden, dass russländische Einheiten in einem großen Abschnitt von Norden in die Stadt Kupjans’k im Gebiet Charkiv eingedrungen sind. Im Jahr 2024 war ihnen dies bereits schon einmal gelungen, jedoch nur auf einer einzigen Achse, bevor die ukrainische Armee sie nach vier Wochen wieder aus der Stadt vertreiben konnte.

Westlich von Torec’k haben die Okkupationstruppen nicht nur die Siedlung Ščerbynivka, sondern nach mehrwöchigen Kämpfen auch die weiter westlich gelegene große Ortschaft Oleksandro-Kalynove und das angrenzende Jablunivka erobert, wo die ukrainische Armee einen Stützpunkt hatte. Dies bringt die gesamte ukrainische Verteidigung in diesem Frontabschnitt in Gefahr.

Weiter südwestlich setzen die Okkupationstruppen die Belagerung der Agglomeration von Pokrovs’k fort. Nach russländischen Angaben würde im südlichen Bereich der Siedlung Novoekonomične gekämpft, wo die Ukraine die Nordflanke der Verteidigung von Pokrovs’k absichert. Das Zentrum der Ortschaft sei bereits unter russländischer Kontrolle und bald beginne der Sturm auf das westlich gelegene Myrnohrad. Noch weiter südwestlich ist die Besatzungsarmee in das der eigentlichen ukrainischen Verteidigungslinie vorgelagerte Dorf Zelenyj Haj vorgerückt.

Im Gebiet Zaporižžja finden im Bereich des früheren Ufers des abgeflossenen Kachovka-Stausees heftige Kämpfe statt. Die Ukraine hat die große Siedlung Kamjans’ke verloren, die russländischen Truppen sind in nördliche Richtung bis zum Rand der Ortschaft Stepnohirs’k vorgerückt. Dies verschafft der Besatzungsarmee theoretisch die Möglichkeit, die gut 25 Kilometer nördlich gelegene Großstadt Zaporižžja mit Artillerie zu beschießen.

Erfolge konnte die ukrainische Armee nur im Gebiet Sumy vermelden. Dort haben sie am 25. Juli die Siedlung Kindrativka befreit. Dort seien drei Bataillone des Gegners vernichtet worden.

Der Luftkrieg

Die Ukraine hat erstmals seit längerer Zeit die Krim und Sevastopol’ mit einer größeren Anzahl von Drohnen attackiert. Die 36 unbemannten Kleinflugzeuge einer ersten Angriffswelle seien nach russländischen Angaben alle abgefangen worden, angeblich seien lediglich „Trümmer“ auf verschiedene Gebäude gestürzt. Wenige Stunden später erfolgte eine zweite Attacke, ebenfalls mit Drohnen vom Typ „Ljuty“. Diese flogen aus östlicher Richtung über das Schwarze Meer Soči an, die Auswirkungen sind ebenfalls unklar. In den russländischen Medien ist ebenfalls nur von herabstürzenden Teilen abgeschossener Flugkörper die Rede, doch es kursieren Videos, die Explosionen am Boden zeigen. Am 25. Juli griffen ukrainische Drohnen Rüstungsbetriebe im weit hinter der Front gelegenen Stavropol’ an. Getroffen wurde ein Gebäude des Unternehmens Signal, das Funktechnik für Militärflugzeuge und die elektronische Kriegsführung herstellt und daher auf den Sanktionslisten der westlichen Staaten steht. Nach ukrainischen Angaben sei eine Halle getroffen worden, in der schwer zu beschaffende ausländische Bauteile gelagert worden seien.

Am 27. Juli hat die Ukraine bei einem Angriff mit mindestens 99 Kampfdrohnen versucht, den Bahnverkehr im Gebiet Volgograd lahmzulegen. Die dortigen Strecken werden genutzt, wenn die übliche Verbindung aus Zentralrussland und dem Ural in den Nordkaukasus unterbrochen ist.

Russland hat nach den äußerst massiven Angriffen der vorhergehenden Wochen die Intensität der Drohnenattacken leicht reduziert. Gleichwohl erfolgte am 27. Juli eine große Attacke mit 309 Drohnen und zwei Raketen. Auch an anderen Tagen wurden Charkiv, Odessa, mehrere Städte in den Gebieten Dnipropetrovs’k und Sumy zum Ziel von Angriffen mit Drohnen und Gleitbomben. In Odessa brannte die historische Markthalle „Privoz“ ab, in Sumy fiel nach einem Einschlag in einer Umspannstation der Strom in Teilen des Gebiets der Stadt aus. Am 27. Juli schlug nördlich von Sumy eine russländische Drohne in einen Bus ein, in dem sich 39 Zivilisten auf dem Weg in die evakuierte Siedlung Junakivka befanden. Drei Menschen starben, 19 wurden verletzt.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https:// t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.