Ins Schwarze
Nikolay Mitrokhin, 23.1.2024
Ukrainische Erfolge im Luftkrieg, düstere Aussichten am Boden – die 100. Kriegswoche
Die Ukraine hat in der 100. Kriegswoche zwei große Erfolge im Luftkrieg erzielt. Der Abschuss eines russländischen AWACS-Flugzeugs schwächt die Luftraumüberwachung des Gegners empfindlich. Ein Drohnenangriff auf das Erdgasterminal im Hafen Ust‘-Luga bei Petersburg hat gezeigt, dass auch dieser Exportumschlagplatz nicht mehr sicher ist. Doch die Versuche, mit einem neuen Gesetz mehr Soldaten in die Armee zu bringen, sind im Parlament gescheitert. Dabei braucht die ukrainische Armee dringend neue Soldaten, wenn die Bodenverhältnisse es Russland ab Mai gestatten, eine Sommeroffensive zu starten.
Russlands Besatzungsarmee ist in der 100. Kriegswoche an mehreren Stellen der Front vorgerückt. Sie hat im nördlichen Abschnitt der 1000 Kilometer langen Linie bei Sivers’k sowie bei Svatove zwei Dörfer eingenommen und südlich von Avdijivka die ukrainische Verteidigung durchbrochen, so dass sie nun auch aus dieser Richtung in die fast vollkommen zerstörte Stadt eindringen kann.
Auch der ukrainische Brückenkopf am linken Ufer des Dnipro ist in Bedrängnis, weil der Eisgang auf dem zufrierenden Fluss die Versorgung der Soldaten – 300 nach westlichen und ukrainischen Angaben, 80 nach russländischen – mit Lebensmitteln und Munition per Boot verhindert, so dass diese nur noch mit Drohnen stattfinden kann.
Im Zuge ihrer Winteroffensive könnte die russländische Armee auch eine neue Front eröffnen und erneut von Norden in die Ukraine einfallen. Ein solches Szenario beschwören die russischen Militärkanäle. „Dva majora“ nennt sogar ein konkretes Ziel: die Schaffung einer 20 Kilometer tiefen Pufferzone auf ukrainischem Territorium, die es der ukrainischen Armee erschweren soll, die angrenzenden russländischen Gebiete zu beschießen.
Tragische Folgen hatte ein Artillerieangriff der ukrainischen Armee auf Donec’k am 21. Januar. Die Raketen, die am Vormittag auf ein Marktgelände niedergingen, töteten mindestens 18 Menschen. Die ukrainische Presseagentur meldete den Beschuss und schrieb ihn auch nicht der Besatzungsarmee zu, gab jedoch den Behörden der besetzten Stadt die Schuld, weil sie die Bevölkerung nicht rechtzeitig vor der Raketengefahr gewarnt hätten. Inwiefern es sich bei dem Markt um ein militärisches Ziel gehandelt haben soll, ist nicht erkennbar. Russland beschießt fast täglich Charkiv, dort sterben ständig Menschen, die Zahl der zerstörten oder stark beschädigten Gebäude im Stadtkern wird immer größer.
Ukrainische Erfolge in der Luft
Im Kampf gegen die russländischen Luftangriffe hat die Ukraine am 14. Januar einen großen Erfolg erzielt. Mit amerikanischen Patriot-Raketen, deren mobile Abschussrampen unweit der Front im Gebiet Zaporižžja standen, schoss die ukrainische Armee über dem Asowschen Meer unweit von Berdjans’k ein Flugzeug vom Typ A-50 ab, ein fliegendes Radarsystem der russländischen Armee, mit 13 Mann an Bord. Ein halbe Stunde später wurde ein weiteres, der Luftraumüberwachung dienendes Flugzeug vom Typ IL-22M getroffen, der Pilot starb, der Ko-Pilot konnte die schwer beschädigte Maschine bei Anapa landen.
Bereits zuvor war es der Ukraine gelungen, mit Patriot-Raketen Jagd auf russländische Militärmaschinen zu machen, die sich im Luftraum über dem Hinterland der Front befanden. Doch zuvor waren stets Maschinen abgeschossen worden, über die Russlands Luftwaffe in relativ großer Zahl verfügt. Von den extrem teuren AWACS-Flugzeugen hat diese hingegen lediglich acht. Auch die IL-22M-Propellermaschinen sind recht selten, von ihnen hatte Russland im Jahr 2022 12 im Einsatz, daneben weitere Flugzeuge modifizierten Typs. Nur eine einzige von ihnen hat die Ukraine bislang beschädigen können, eine weitere war von den aufständischen Wagner-Truppen während ihres Aufstands im Juni 2023 abgeschossen worden.
Der Abschuss solcher Flugzeuge hat erhebliche Folgen. Die Ukraine verfolgt systematisch das Ziel, die gesamte russländische Luftabwehr auf der Krim zu zerstören. Ein wichtiger Erfolg war im August 2023 die Ausschaltung eines S-400-Luftabwehrsystems auf der Tarchankut-Halbinsel im Westen der Krim. Russland verfügt nur über eine begrenzte Zahl von Systemen, die Drohnen und westliche Raketen bereits in großer Entfernung aufspüren können – und ein großer Teil von ihnen wird auf der Krim eingesetzt, wo sie ukrainischen Angriffen ausgesetzt sind. Daher sind fliegende Radarsysteme wie die A-50 für eine permanente Überwachung des Luftraums äußerst wichtig. Nur sie sind in der Lage, aus der notwendigen Entfernung zum Beispiel ukrainische Jagdbomber zu entdecken, die sich ihrem Ziel zunächst in geringer Höhe nähern und dann scharf in die Höhe ziehen, um große Ziele wie Schiffe, Stabsquartiere, Kommunikationszentralen und Luftwaffenstützpunkte auf der Krim mit westlichen Raketen zu beschießen. Die Technik an Bord der A-50 Flugzeuge kann diese Maschinen in einer Entfernung von 200 Kilometern aufspüren. Wenn ein solches AWACS-Flugzeug aus dem tiefen rückwärtigen Raum zu seinem Einsatzort über dem Schwarzen Meer oder dem Asowschen Meer fliegen muss, kann es dort etwa acht Stunden kreisen, bevor es zurückkehren muss. Das bedeutet, dass für eine 24-Stunden-Überwachung drei solcher Flugzeuge im täglichen Einsatz benötigt werden, und wenn über beiden Meeren je eines benötigt wird, sind es schon sechs. Zwei weitere Flugzeuge diesen Typs überwachen den Luftraum über den Gebieten Donec’k und Luhans’k. Der Verlust bereits einer solchen Maschine – von denen Russland bislang nur alle anderthalb Jahre ein neues in Dienst stellen konnte – bedeutet also, dass die Luftraumüberwachung stark geschwächt wird, was ukrainische Luftangriffe erleichtert. Zugleich wird Russland nach einem solchen Abschuss das Einsatzgebiet der verbliebenen Flugzeuge noch weiter in den rückwärtigen Raum verlegen, so dass angreifende Drohnen und Raketen später erkannt werden.
Die Umsetzung der ukrainischen Strategie einer schrittweisen Zerstörung der Verteidigung der Krim gegen Angriffe aus der Luft und von Seeseite schreitet also voran. Vielleicht werden jetzt nach dem Abzug der wichtigsten Schiffe der russländischen Schwarzmeer-Flotte von der Krim verschiedene weitere Einheiten aus dem nördlichen und westlichen Teil der Krim abgezogen, wo sie besonders leicht ukrainischen Luftangriffen zum Opfer fallen können. Dass die Ukraine bereits vor dem Abschuss der AWACS-Maschine solche Angriffe mit Erfolg führte, zeigen Fotos früherer Treffer, die erst jetzt bekannt wurden, etwa das eines zur Seite gesunkenen Luftkissenboots im Hafen von Sevastopol’.
Der Raketen- und Drohnenkrieg
Es wäre zu erwarten gewesen, dass Russland nach einem so schmerzhaften Nadelstich wie dem Abschuss des AWACS-Flugzeugs mit einer Intensivierung der Raketenangriffe auf die Ukraine reagiert. Dies hatte es Ende Dezember nach der Versenkung des Schiffes „Novočerkassk“ getan. Offenbar fehlte es dazu nun an Raketen und Drohnen, denn die Angriffe auf Ziele in der Ukraine blieben in jenem Umfang, den sie im Herbst gehabt hatten, also bis zu maximal 20 Drohnen und 1-2 Raketen pro Nacht. Die Raketenangriffe der 100. Kriegswoche zielten vor allem auf die Stadt Dnipro, wahrscheinlich auf das Unternehmen Južmaš und andere Betriebe, die am ukrainischen Raketenprogramm beteiligt sind.
Die Ukraine hat ihrerseits die Zahl der Raketen, mit denen sie Belgorod und andere Städte des umliegenden Gebiets beschießt, deutlich reduziert. Sie greift jedoch weiter intensiv Städte in Zentralrussland mit Drohnen an. Meldungen über – oft abgefangene – Drohnen gehören mittlerweile nicht nur in den an der ukrainischen Grenze gelegenen Gebieten Belgorod, Brjansk, Kursk und Rostov zum Alltag, sondern auch in den Gebieten Smolensk, Orel, Tula, Tambov und Saratov. Am 19. Januar etwa brannte es nach einem Angriff auf ein Öllager in Klincy im Gebiet Brjansk dort mehrere Stunden. Weniger Erfolg hatte ein Drohnenangriff auf eine Munitionsfabrik in Kotovsk im Gebiet Tambov am gleichen Tag. Am 21. Januar hingegen schlug in Tula in dem Betrieb Ščeglovskij val, wo das Flugabwehrsystem „Pancir‘“ hergestellt wird und Panzerfahrzeuge modernisiert werden, eine ukrainische Drohne ein. Die im Internet kursierenden Videos zeigen eine heftige Explosion, die eher an einen Raketeneinschlag denken ließ. Einige ukrainische Drohnen sind bereits mit Raketenantrieb ausgestattet, doch wie und wann sie zum Einsatz kommen, ist unklar.
Während am 17. Januar drei in der Nähe des Hafen von Sankt Petersburg abgefangene ukrainische Drohnen noch für eine kleine Sensation, nicht aber für Schaden sorgten, löste vier Tage später ein Angriff auf den Hafens von Ust‘-Luga im Gebiet Leningrad einen Großbrand in einem Erdgasterminal des Unternehmens Novatek aus. Der ukrainische Geheimdienst SBU hat erklärt, er habe den Angriff ausgeführt. Wie bei dem Abschuss des AWACS-Flugzeugs handelt es sich nicht um ein Ereignis unter vielen. Russland hatte zuvor die Häfen im Gebiet Leningrad als absolut sicher präsentiert. Von dort könnten ungefährdet Güter – in erster Linie Erdöl und Erdgas – verschifft werden. Damit ist es nun vorbei. Dort müssen nun Luftabwehrgeschütze und Einheiten der elektronischen Kampfführung stationiert werden. Doch nachdem die Ukraine nun bewiesen hat, dass sie über Drohnen verfügt, die einen großen Sprengsatz über eine so große Entfernung tragen können, gilt nun auch für die Sicherheit dieses Hafens: ohne Gewähr.
Widerstand gegen Mobilmachung
Die Versuche der ukrainischen Führung, mit einer Änderung des Gesetzes über die Mobilmachung mehr Soldaten einziehen zu können, sind vorerst gescheitert. Der Änderungsentwurf hatte zu heftigen politischen Debatte geführt, jetzt wird er überarbeitet und die Initiatorin, Mar’jana Bezuhla könnte ihren Posten als stellvertretende Vorsitzende des Verteidigungsausschusses in der Verchovna Rada verlieren. Bezuhla, die im November während der öffentlichen Konfrontation zwischen dem Oberbefehlshabenden der Armee Zalužnyj und Präsident Zelens’kyj den General heftig kritisiert hatte, wurde zweifellos von der Präsidialadministration unterstützt. Doch in der Verchovna Rada konnte Bezuhla keine Mehrheit für die Gesetzesänderung organisieren, nach der u.a. auch Frauen grundsätzlich von den Wehrämtern erfasst werden sollten. Auch die Armee hat sich in Gestalt von Zalužnyj persönlich, der vor der Rada sprach, gegen das Änderungsgesetz ausgesprochen. Zalužnyj erklärte, die Armee sei gar nicht in der Lage, die 500 000 neuen Männer aufzunehmen, die zu rekrutieren Ziel der Gesetzesänderung war. Am 21. Januar erklärte dann auch Zelens’kyj, er persönlich sehe keine Notwendigkeit, eine halbe Million Mann zu rekrutieren.
Auch ein anderes umstrittenes Vorhaben hat die Ukraine vorerst aufgegeben. Präsidentenberater Podoljak hatte erklärt, die im Ausland lebenden ukrainischen Männer im Wehralter sollten von den Aufnahmestaaten zur Rückkehr veranlasst werden. Zwar hatten sich einige Politiker in diesen Staaten positiv zu dem Ansinnen geäußert, doch als die Regierungen darauf verwiesen, dass die Ausübung von Druck zu diesem Zweck rechtswidrig sei, gab die Ukraine das Projekt rasch auf.
Die Ukraine hat damit weiter kein Konzept, wie sie neue Soldaten rekrutieren kann, um die Getöteten zu ersetzen und jene rund 180 000 Mann zu entlasten, die seit fast zwei Jahren unter permanenter Lebensgefahr das Land an der Front verteidigen. Zwar endet im Süden der Front bereits in einem Monat der Winter und bald darauf auch im Norden. Und die mit dem Tauwetter einhergehenden Bodenverhältnisse werden ein Vorrücken der russländischen Armee bis mindestens Ende April verhindern. Doch wenn die Ukraine die verbleibende Zeit nicht nutzen kann, um die Armee zu stärken, könnte sie im Sommer große Probleme bekommen.
Ausdruck dieser Lage ist auch das Vorgehen des Geheimdiensts gegen jene, die Informationen verbreiten, wie sich Männer der Vorladung durch die Wehrämter entziehen können. Gerade wurde ein weiterer Telegram-Kanal geschlossen und das Strafmaß für solche Tätigkeit auf 15 Jahre angehoben.
Aus dem Russisch von Volker Weichsel, Berlin
Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).
Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.
Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.
Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.