Kommt die Feuerwalze zum Stehen?

Die militärische Lage in der Ukraine, 29.7.2022

Nico Lange

Russland erzielt im Donbass kaum noch Landgewinne. Die Ukraine versucht Voraussetzungen für Gegenangriffe zu schaffen. Wie ist die Lage und was wird von uns gebraucht?

Russland hat seit Anfang Mai in 80 Tagen unter extrem hohen Verlusten etwa 50 km Territorium erobert. Sah es noch vor Wochen so aus, als würde Russland getrieben von massiver Artillerie und Raketenartillerie langsam aber sicher vorankommen, steckt der Angriff jetzt fest.

Nach dem langen Kampf um Severodonec’k und der Eroberung von Lysyčans’k ist Russland seit drei Wochen nicht dazu in der Lage, wenige Anhöhen bei der Kleinstadt Sivers’k zu erobern und die Straße zwischen Sivers’k und Bachmut unter seine Kontrolle zu bringen.

Feuerte Russland im Mai noch mehr als 20 000 Artilleriegranaten pro Tag ab, sind es jetzt 5000 und weniger. Die Ukraine nahm durch Angriffe mit HIMARS und weitreichender 155mm Artillerie auf Depots, Führungs- und Kommunikationseinrichtungen dem russischen Angriff die Wucht.

Die von Russland angewandte Methode, zuerst mit Artillerie alles dem Erdboden gleichzumachen, dann Söldner der Wagner-Gruppe und zwangsrekrutierte Fußsoldaten aus besetzten Gebieten vorzuschicken, um danach die regulären Streitkräfte nachzuziehen, kommt an ihr Ende.

Auf der ukrainischen Seite fallen noch immer etwa 30 Soldaten am Tag, aber eben nicht mehr 100 bis 200 wie im Mai und Juni. Leider gibt es für die ukrainischen Soldaten noch immer zu wenig geschützten Transport an der Front – die gepanzerten Fahrzeuge reichen nicht aus.

Weil die „Feuerwalze“ zum Stehen kommt, muss sich Russland in den eroberten Gebieten nördlich von Charkiv, im Donbass, südlich von Zaporižžja und am südwestlichen Ufer des Dnipro in den Verteidigungsmodus begeben.

Gleichzeitig wendet Russland dort das bekannte Drehbuch aus 2014 an: Besatzer verordnen den Rubel als Währung, schaffen Abhängigkeiten von „Hilfslieferungen“, bereiten „Referenden“ vor und kündigen die Abtrennung von Luhans’k, Donec’k, Cherson und Zaporižžja von der Ukraine an.

Die Ukraine versucht unterdessen, Voraussetzungen für Gegenangriffe zu schaffen. Kiew spricht seit Monaten von einer Offensive zur Rückeroberung Chersons, bisher gab es an der Front am südwestlichen Ufer des Dnipro aber nur wenig Bewegung.

Der aktuelle Beschuss der Antonov-Brücke bei Cherson und weiteren Brücken sowie die Drohungen gegen die Brücke von Kertsch können als Angriffsvorbereitungen gedeutet werden – aber auch als Ablenkungsmanöver.

Denkbare Szenarien sind neben der Rückeroberung von Cherson auch ein Stoß nach Nova Kachovka und ein Angriff der Ukraine von Zaporižžja nach Melitopol’ in Richtung Schwarzes Meer, um die russischen Kräfte im Süden zu teilen und eine Befreiung der Südukraine vorzubereiten.

Die vom Westen gelieferten etwa 300 weitreichenden 155mm-Artilleriesysteme mit Munition, davon 10 deutsche PzH 2000, und die US-amerikanischen HIMARS-Systeme machen in der Verteidigung einen Unterschied. Für Angriffe wird andere Hilfe benötigt.

Bisher reichen Kampfpanzer, gepanzerte Fahrzeuge und Flugabwehr der Ukraine in der weiträumigen Steppe im Süden nicht aus, um Übergewichte für erfolgreiche Angriffe zu bilden.

Auch verfügt die Ukraine für einen Gegenangriff noch nicht über genügend Mittel gegen die leistungsstarke elektronische Kampfführung der Russen. Mehr gesicherte Kommunikationsmittel und radarsuchende Raketen (ARM) und Munition werden gebraucht.

Die gerade aus Polen gelieferten modernisierten T-72 (PT-91 Twardy) Panzer sind eine Verstärkung. Doch kommen Teile der angekündigten Hilfe für die Ukraine später als erwartet oder sind aufgrund der notwendigen Vorläufe für Ausbildung und Logistik noch nicht einsatzbereit.

Alle Unterstützer der Ukraine haben ähnliche Probleme. Viele haben selbst wenig Material, nehmen vorübergehend eine geringere Einsatzbereitschaft in Kauf, planen wochenlange Vorläufe für Ausbildung und Logistik ein und kennen die langen Produktionszeiten der Industrie.

Weil es eilt und „can do“-Geist geboten ist, haben viele pragmatische Lösungen zur Lieferung gepanzerter Fahrzeuge gefunden, von niederländischen YPR-765 über britische Mastiff, dänische und portugiesische M113 bis zu französischen VAB, kanadischen ACSV und australischen Bushmaster.

Dagegen verliert Deutschland in den Augen der Ukrainer und vieler Partner durch die im Friedens- und Verwaltungsbetrieb fest eingeübten, prozess- und detailverliebten Diskussionen von Eventualitäten wertvolle Zeit.

Auf britischen Truppenübungsplätzen werden Ukrainer unterdessen auf gepanzerten Fahrzeugen ausgebildet, und bis zu 10 000 ukrainische Soldatinnen und Soldaten erhalten eine Spezialgrundausbildung, um die ukrainischen Streitkräfte zu entlasten.

Auch Instandsetzung von Waffensystemen auf EU-Gebiet an den Grenzen zur Ukraine wären eine sinnvolle Unterstützung.

Mit der mindestens vorläufigen Schwäche des russischen Angriffs ist der weitere Kriegsverlauf offen und durch unser Handeln beeinflussbar: Wird es ein anhaltender niederschwelliger Grabenkrieg? Kann Russland sich erholen, neu aufstellen und eine neue Angriffswelle starten? Oder kann die Ukraine mit entschlossener, starker und schneller Hilfe die Initiative gewinnen und die Russen zurückdrängen?

Es wäre ein strategischer Fehler, Putin nach dem gescheiterten Angriff auf Kiew und dem sich abzeichnenden Steckenbleiben im Donbass, durch Zögerlichkeit und Langsamkeit einen dritten Anlauf zu ermöglichen. Mit richtiger Unterstützung für die Ukraine können wir das verhindern.

Nico Lange (1975), Politikwissenschaftler, Publizist und Politikberater