Kurze Atempause
Russlands Krieg gegen die Ukraine, die 138. Kriegswoche
Nikolay Mitrokhin, 23.10.2024
Russland setzt im Donbass an verschiedenen Frontabschnitten die Angriffe fort. Der nach dem Fall von Vuhledar befürchtete rasche Vorstoß ist allerdings ausgeblieben. Die ukrainische Verteidigung ist stark geschwächt, doch auch das Offensivpotential der Okkupationsarmee ist begrenzt. Einer der Gründe ist Munitionsmangel: Die Angriffe der Ukraine auf Waffenlager und Rüstungsfabriken zeigen Wirkung. Nordkorea hat 10 000 Soldaten nach Russland beordert. Moskau wird sie voraussichtlich zum Objektschutz einsetzen, um Soldaten der eigenen Armee an die Front verlegen zu können.
Russlands Armee versucht im Gebiet Kursk weiter, die Anfang August dorthin vorgestoßenen ukrainischen Truppen zurückzudrängen. Stellenweise ist ihr dies gelungen, gleichzeitig lancieren ukrainische Einheiten an immer neuen Stellen Vorstöße auf russländisches Territorium. Die Kiewer Armeeführung lässt nicht erkennen, dass sie das Vormarschgebiet aufgeben will, um die Truppen zur Verteidigung der Front im Donbass einzusetzen. Präsident Zelens’kyj hat erneut betont, es sei von großer Bedeutung, dass auch die Ukraine Territorium des Gegners besetzt halte, um bei Verhandlungen Putin auf Augenhöhe begegnen zu können.
Im Gebiet Charkiv sind die Okkupationstruppen nordöstlich und südöstlich von Kupjans’k bis zum Ufer des Flusses Oskil vorgerückt, die ukrainischen Truppen mussten sich vom Ostufer des Flusses zurückziehen. Doch ein weiteres rasches Vorrücken der Besatzer ist nicht zu befürchten. Der Oskil ist an dieser Stelle sehr breit – und auf der anderen Seite des Flusses befindet sich eine bewaldete, weglose Gegend. Kupjans’k liegt in einer Entfernung von 25 Kilometern. Auch weiter südlich sind die Erfolge der Okkupationsarmee minimal. Unter enormen Anstrengungen und hohen Verlusten erobern die russländischen Truppen hier die Ruinen von Dörfern, die keinerlei strategische Bedeutung haben.
Anders sieht es im Donbass aus. Bei Časiv Jar entwickelt sich die Lage bedrohlich. Mitte September war die Offensive der russländischen Truppen dort zum Stillstand gekommen, nun haben sie die Stadt südlich umgangen und dort die ukrainische Verteidigungslinie durchbrochen. Dieser Durchbruch ist ein typisches Beispiel für die neue Taktik, auf welche die russländischen Truppen unter den aktuellen Verhältnissen setzen. Die ukrainische Armee ist in der Lage, größere Einheiten und deren gepanzerte Fahrzeuge des Gegners mit Drohnen rasch zu zerstören. Frontalangriffe führen zu riesigen Verlusten. Daher durchbrechen die Angreifer – auch diese unter hohem Risiko und oft ebenfalls mit immensen Verlusten – die Front nur an einem kleinen Abschnitt. Da es der ukrainischen Armee jedoch an Soldaten und Fahrzeugen fehlt, kann sie keine Truppen heranführen, um einen solchen kleinen Durchbruch wieder zu schließen. Dies eröffnet der russländischen Armee zahlreiche Möglichkeiten, aus dem rückwärtigen Raum der ukrainischen Armee heraus in verschiedene Richtungen vorzustoßen, ohne dabei noch ernsthafte Verteidigungsstellungen des Gegners überwinden zu müssen. Hat sich das Vorstoßgebiet erst erweitert, gelingt es der Ukraine nicht mehr, eine neue stabile Verteidigungslinie zu errichten, die Dutzende Kilometer länger sein müsste als die vorherige. Dies bedeutet nicht, dass Časiv Jar vor dem Fall steht. Aber die Besatzungsarmee wird die über viele Jahre errichteten ukrainischen Verteidigungsstellungen im Raum westlich von Horlivka nun nicht mehr nur frontal angreifen, sondern auch von den ungeschützten Flanken. Und der Angriff auf Časiv Jar wird nicht mehr nur von Osten geführt werden, sondern auch von Süden und möglicherweise auch von Westen.
Ähnlich ist die Lage weiter südlich bei Pokrovs’k und Kurachove. Dort hat die Ukraine zwar in der dritten Oktoberwoche keine großen Verluste hinnehmen müssen. Doch die russländischen Truppen greifen gegenwärtig vor allem südöstlich der Siedlung Selydove an, die sie bereits seit Monaten von Norden und Nordosten belagern. Ziel ist es, Selydove südlich zu umgehen um dann von Norden auf Kurachove vorzustoßen. Diese südwestlich von Donec’k gelegene Kleinstadt sowie die umliegenden Siedlungen sind das Zentrum der ukrainischen Verteidigung im südöstlichen Abschnitt der Front im Gebiet Donec’k. Noch weiter südlich kann sich im Raum zwischen Vuhledar und Bohojavlenka die erschöpfte 72. Ukrainische Brigade besser halten, als es noch vor zwei Wochen zu befürchten stand.
Dass das Schlimmste einstweilen ausgeblieben ist und Russland nach dem Fall von Vuhledar in den vergangenen zwei Wochen nicht rasch weiter vorgerückt ist, hat zwei Gründe: zum einen der einsetzende Herbstregen, zum anderen Munitionsmangel. Hier zeigt sich die Bedeutung der ukrainischen Drohnenangriffe auf entsprechende Lager. Von einer Entspannung der Lage kann allerdings keine Rede sein.
Der Luftkrieg
Russland hat in der 138. Kriegswoche den Angriff mit Marschflugkörpern auf Ziele weit hinter der Front weitgehend eingestellt, die Attacken mit ballistischen Raketen auf frontnahe Städte aber fortgesetzt. Möglicherweise sammelt die Moskauer Armeeführung Marschflugkörper für einen massiven Schlag gegen das ukrainische Energiesystem zu Beginn der Heizperiode. Auch die Angriffe mit Kampfdrohnen gingen unvermindert weiter. Alleine in der Nacht auf den 18. Oktober setzte Russland 135 unbemannte Objekte vom Typ Geran‘ (Shahed) ein. Ein Teil der Drohnen war mit nach Russland geschmuggelten Starlink-Antennen ausgestattet. Offenbar sammelten die Drohnen beim Überflug Informationen und sendeten diese sofort an die Operatoren.
Die ukrainische Seite setzt ihre Angriffe auf Rüstungsunternehmen in Russland ebenfalls fort. In der Nacht auf den 19. Oktober trafen acht von mindestens 13 anfliegenden Drohnen in Brjansk eine Fabrikhalle von Kremnij Ėl. Das Unternehmen gilt als zweitgrößter Hersteller von Mikroelektronik in Russland und liefert 90 Prozent seiner Produktion an das Verteidigungsministerium. Bauteile von dort werden im Luftabwehrsystem Pancir‘ und in Iskander-Raketen eingesetzt. Das Unternehmen teilte mit, bei dem Angriff sei die Stromversorgung unterbrochen und Anlagen zerstört worden, die Produktion sei vorübergehend eingestellt.
In der Nacht auf den 20. Oktober flogen ukrainische Drohnen das Sverdlov-Werk in der Chemie-Monostadt Dzeržinsk im Gebiet Nižnij Novgorod an. Es handelt sich um den größten Sprengstoffproduzenten in Russland. Über Schäden gibt es keine genaueren Berichte. Der Gouverneur des Gebiets sprach allerdings von vier verwundeten Feuerwehrleuten, so dass es wohl mindestens einen Einschlag gegeben hat, der zu einem Brand führte. Ebenfalls unklar sind die Folgen eines Angriffs auf die Luftwaffenbasis Lipeck-2, wo Russland SU-34, SU-35 und MiG-31 Kampfflugzeuge stationiert hat. Das Moskauer Verteidigungsministerium gibt an, die Armee habe in dieser Nacht 110 Drohnen abgeschossen, u.a. über den Gebieten Kursk, Lipeck und Orel. Am Abend des gleichen Tages schlug im Hafengebiet von Odessa eine Rakete ein – offenbar ein Vergeltungsschlag für die ukrainischen Angriffe in der vorhergehenden Nacht.
Soldaten aus Nordkorea
Nach zahlreichen Gerüchten über Soldaten aus Nordkorea, die nach Russland geschickt wurden, haben investigativ arbeitende südkoreanische Journalisten, die unter anderem aktuelle Satellitenaufnahmen auswerten konnten, die Zahl von 12 000 Mann genannt. Diese wurden überwiegend auf Schiffen der russländischen Marine nach Vladivostok gebracht. Dies bestätigen nicht nur Satellitenbilder, sondern auch drei Handyvideos, die überraschte russländische Soldaten unabhängig voneinander aufgenommen haben. Die nordkoreanischen Soldaten sind auf dem Gelände der erst im Jahr 2022 errichteten Kaserne Nr. 44980 untergebracht. Ukrainische Medien behaupten immer wieder unter Berufung auf den Geheimdienst, es seien bereits nordkoreanische Soldaten an der Front gesichtet worden. Auf einer Abraumhalde im Raum Pokrovs’k sei auch eine nordkoreanische Flagge entdeckt worden. Diese Informationen sind mit großer Wahrscheinlichkeit falsch. Die nordkoreanischen Soldaten werden voraussichtlich nicht an der Front eingesetzt, sondern zur Bewachung von Objekten in Russland. Gleichwohl werden auf diese Weise Kräfte frei, die zum Kampfeinsatz geschickt werden können.
Relevant könnte die Reaktion Südkoreas werden. Das Land hat bislang keine Rüstungsgüter an die Ukraine geliefert, jetzt aber angekündigt, „entschiedene Schritte zur Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft“ zu unternehmen. Sollte damit gemeint sein, dass die Ukraine Waffen erhält, wäre dies von erheblicher Bedeutung. Südkorea ist ein großer Rüstungsproduzent, nicht zuletzt die polnische Armee ist mit Panzern aus dem südostasiatischen Land ausgestattet.
Austausch von Gefangenen und toten Soldaten
Am 18. Oktober haben Russland und die Ukraine erneut bei einem Austausch je 95 Gefangene freigelassen. Zahlreiche Ukrainer, die in ihre Heimat zurückkehren konnten, waren in Russland von Gerichten zu langen Haftstrafen verurteilt worden, darunter dem bekannten Menschenrechtler Maksym Butkevič. Er hatte sich jahrelang vor allem für Flüchtlinge und Migranten aus Zentralasien eingesetzt. Nach Russlands Überfall auf die Ukraine meldete er sich als Freiwilliger zur Armee und geriet im Juni 2022 im Gebiet Luhans’k in Kriegsgefangenschaft. Im März 2023 verurteilte ihn das sogenannte „Oberste Gericht der Volksrepublik Lugansk“ wegen versuchten Mordes und Kampfführung ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu 13 Jahren Lagerhaft. Russland hat „wertvolle“ Gefangene wie Butkevič offenbar freigelassen, weil die Ukraine im Austausch junge Wehrpflichtige übergab, die im Gebiet Kursk gefangengenommen worden waren. Unmittelbar zuvor hatte die Ukraine bekanntgegeben, dass Russland die Leichen von 501 Soldaten überstellt habe, die an verschiedenen Abschnitten der Front gefallen waren. Die Ukraine überstellte 89 Leichen, doch in den offiziellen Medien war in Russland davon nichts zu erfahren.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.