Massiver Druck
Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 171. Kriegswoche
Nikolay Mitrokhin, 30.6.2025
Russlands Truppen rücken an mehreren Frontabschnitten weiter vor. Die bislang kaum beschädigte Stadt Sumy im Norden der Ukraine könnte bald unter Artilleriebeschuss geraten. Im westlichen Teil des Gebiets Donec’k droht der Ukraine ein Verlust der wichtigen Städte Pokrovs’k und Kostjantynivka. Auch den Luftkrieg hat Russland stark ausgeweitet. Von einem Zusammenbruch des ukrainischen Verteidigungswillens ist nichts zu spüren.
Nach Beendigung des zwölftägigen Kriegs zwischen Israel und dem Iran ist die Ukraine wieder etwas stärker in den Fokus der internationalen Aufmerksamkeit gerückt. Auf dem NATO-Gipfel in Den Haag am 25. Juni stand sie zwar anders als bei dem Treffen ein Jahr zuvor in Washington nicht im Zentrum. Gleichwohl kann sie mit dem Verlauf des Gipfels zufrieden sein. Sie hat neue Hilfszusagen erhalten, insbesondere für die Erhöhung der Kapazitäten zur Drohnenproduktion. Die Mittel sollen an ukrainische und westeuropäische Unternehmen gehen. Insgesamt soll sich die finanzielle Unterstützung der NATO-Staaten im Jahr 2025 auf 50 Mrd. US-Dollar belaufen.
Nachdem noch vor wenigen Monaten ein öffentliches Treffen zwischen dem ukrainischen Präsidenten und dem US-Präsidenten im Weißen Haus wenig glücklich verlaufen war, hat Trump Zelens’kyj nun bei einer Zusammenkunft hinter verschlossenen Türen offenbar Hoffnung auf die Lieferung weiterer Patriot-Luftabwehrsysteme gemacht.
Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Den Haag ordnete Zelens’kyj an, in den Haushaltsplan für die Jahre 2026–2028 eine Steigerung der Ausgaben für Wehrsold und den Rüstungssektor aufzunehmen. Hieraus kann man schließen, dass die Ukraine von den NATO-Staaten nicht unerhebliche Zusagen erhalten hat.
Nicht unmittelbar kriegsrelevant aber doch von großer politischer Bedeutung ist die Unterzeichnung eines Abkommens zwischen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und der Ukraine über die Schaffung eines Sondertribunals, das russländische Politiker wegen des Angriffskriegs gegen die Ukraine nach dem Völkerstrafrecht belangen kann.
Gleichzeitig lassen neuerliche Äußerungen aus Kiew und Moskau zum Thema Waffenstillstandsgespräche erkennen, dass ein solcher frühestens Mitte Oktober möglich werden könnte, wenn der Laubfall und der einsetzende Herbstregen Russlands Angriffe erschweren. Einstweilen sieht der Kreml keinen Anlass für eine Waffenruhe, da die Kriegsziele Moskaus nicht erfüllt sind und seine Armee gegenwärtig täglich kleine Erfolge vermelden kann.
Die Lage an der Front
Die Lage der ukrainischen Armee im Donbass hat sich in der letzten Juniwoche erheblich verschärft. Russland hat die Ukraine mit dem Angriff von Norden dazu gezwungen, erhebliche Kräfte in das Gebiet Sumy zu verlegen. Jetzt führt Moskau neue Kräfte in den mittleren und südlichen Frontbereich herein. Neben dem Durchbruch der Okkupationstruppen bei Lyman im nordöstlichen Frontabschnitt haben die ukrainischen Verteidiger nun auch massive Probleme im Raum Kostjantinyvka westlich von Donec’k und im Raum Novopavlivka, wo sie sich schneller zurückziehen müssen, als dies noch vor kurzem zu erwarten war. Nach einer längeren Pause greift Russland auch die Dörfer im Umland von Pokrovs’k wieder an, welche die Stadt bislang vor einem direkten Angriff schützen. Insgesamt sind in einer Woche rund zehn Siedlungen unter Kontrolle der Moskauer Truppen gelangt.
Der nördliche Frontabschnitt
Im Gebiet Sumy hat die Ukraine zwar den russländischen Vormarsch fürs erste gestoppt. Gleichwohl kommen von dort weiter schlechte Nachrichten. Am 22. und 23. Juni beschoss Russlands Armee erstmals mit Kanonenhaubitzen vom Typ Giazint das Dorf Piščane, das sich nur einen Kilometer vor der Stadtgrenze von Sumy befindet. Dieses Artilleriegeschütz hat eine Reichweite von 33–40 Kilometern und eine erhebliche Zerstörungswirkung. Wenn Russland es wagt, diese Haubitzen so nah an die Front heranzuführen, dann ist die Gefahr ukrainischer Drohnenangriffe offenbar zurückgegangen. Dies bedeutet, dass Russland schon bald mit einer systematischen Zerstörung der Stadt Sumy beginnen könnte, die bislang nicht evakuiert wurde.
Ukrainische Soldaten berichten indes weitere Einzelheiten über den Zustand der Verteidigungslinien im Grenzgebiet. Offenbar wurden dort während der Monate, in denen die ukrainische Armee aus dem Gebiet Kursk zurückgedrängt wurde, weder ein größeres Grabensystem errichtet noch Minen verlegt. Jetzt müssen die zurückweichenden Truppen die Gräben unter Beschuss errichten. Einer Schätzung zufolge hat Russland an diesem Frontabschnitt 50 000 Soldaten zusammengezogen, während die ukrainische Verteidigung über weniger als 20 000 Soldaten verfügt. Obwohl Russland jeden Tag zwischen 300 und 400 Mann verliere, werden immer neue Soldaten an die Front geworfen.
Der zentrale Frontabschnitt
Die kleinen Geländegewinne der Okkupationstruppen im Raum Kostjantynivka seit Mitte Mai haben dazu geführt, dass die Stadt, die mit rund 60 000 Einwohnern im Jahr 2020 zu den größten im westlichen Teil des Gebiets Donec’k gehörte und ein wichtiger Logistikknotenpunkt der ukrainischen Armee ist, zur Hälfte eingekreist ist. Von Nordosten nähern sich die Besatzungstruppen aus dem bereits zur Hälfte eingenommenen Časiv Jar, von Osten aus dem praktisch vollständig eingenommenen Torec’k und von Südosten aus Richtung der von Konstantynivka nach Pokrovs’k führenden Straße. Die Front verläuft in einer Entfernung von zehn, mancherorts sogar nur noch drei Kilometern. Die Stadt ist in Reichweite der russländischen Artillerie, jede Bewegung wird mit Drohnen erfasst und im gesamten Stadtgebiet kommt es immer wieder zu Attacken mit FPV-Drohnen. Die Lage erinnert an jene, in der sich das 50 Kilometer südlich gelegene Avdijivka befand, bevor es im Februar 2024 nach mehrmonatiger Belagerung eingenommen wurde. Der Ostzipfel der langgezogenen Stadt Konstantynivka ist bereits von drei Seiten eingekesselt. Die nördliche Flanke wird bislang noch von Časiv Jar geschützt, doch die russländische Armee umgeht diese Kleinstadt von Westen und Osten und steht auch kurz vor der Eroberung des Zentrums. Ein rascher Fall von Kostjantynivka ist nicht zu erwarten, doch der gegenwärtigen Entwicklung nach zu urteilen, wird bereits im August auf dem Stadtgebiet gekämpft werden.
Pokrovs’k und der Raum Novopavlivka
Am 27. Juni verkündete der Oberkommandierende der ukrainischen Armee Oleksandr Syrskyj, Russland habe bei Pokrovs’k 111 000 Soldaten zusammengezogen. Es ginge dem Feind darum, zur Grenze des Gebietes Dnipropetrovs’k vorzustoßen, um einen weiteren Pseudosieg zu verkünden und propagandistisch auszuschlachten. Syrskyj reagierte möglicherweise auf eine Nachricht des unabhängigen Diensts Deepstate vom Vortag, in der es hieß, im Südosten des Gebiets Donec’k stehe die ukrainische Verteidigung – konkret: die Gruppe „Vuhledar“, die seit Oktober 2024 40 Kilometer westlich der unter dem Druck der russländischen Truppen aufgegebenen Bergarbeiterstadt kämpft – vor der Auflösung.
Zuvor hatten die Besatzungstruppen im Raum Novopavlivka mehrere Siedlungen entlang der gesamten dortigen Front eingenommen. Auch in den Folgetagen setzte sich diese Entwicklung fort. Unter anderem hat die russländische Armee die rund 50 Quadratkilometer große „Tasche“ aufgelöst, welche die ukrainische Armee zuvor noch hatte halten können. Nun steht sie vor der Kette von Siedlungen entlang des Flusses Solona, deren größte Novopavlivka mit rund 2000 Einwohnern ist.
Besonders kritisch ist, dass die Besatzungstruppen nun wieder Pokrovs’k angreifen, wo vor dem Krieg 60 000 Menschen lebten (einschließlich der Siedlungen in der Agglomeration 380 000). Den vorherigen Attacken hatte die ukrainische Armee im Winter 2024/25 trotzen können. Nun haben die russländischen Truppen den fünf Kilometer südlich der Stadt gelegenen Ort Ševčenko, den die Ukraine zunächst verloren und dann zurückerobert hatte, erneut eingenommen. Sie stehen bereits einen Kilometer vor den Toren von Pokrovs’k. Es droht ein ähnliches Muster wie bei vielen Städten zuvor: Ist es den Besatzungstruppen gelungen, in bebautes Gebiet vorzudringen, dauert es noch 1–2 Monate, bis die Stadt fällt.
Kritisch ist zudem die Lage im westlichen Abschnitt der durch das Gebiet Zaporižžja verlaufenden Front. Russland konnte offenbar frische Kräfte dorthin verlegen und den Angriff auf die Siedlung Orechiv intensivieren.
Der Luftkrieg
Der Ukraine ist es erneut gelungen, dem Gegner mit Drohnenangriffen auf Flugplätze Schaden zuzufügen. Am 28. Juni wurden auf den Luftwaffenstützpunkten Marinovka im Gebiet Volgograd und Kirovskoe im Landkreis Džankoj auf der Krim vier Flugzeuge, drei Hubschrauber und ein Flugabwehrsystem Pancir‘ zerstört oder beschädigt. In der gleichen Nacht wurden in Brjansk Verwaltungsgebäude der Raketenartillerietruppen getroffen.
In der folgenden Nacht führte Russland den massivsten Luftschlag seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine. In nur einer Nacht schoss die Armee 537 Flugkörper – davon 488 Kampfdrohnen und 60 Raketen unterschiedlichen Typs – auf Ziele in der Ukraine ab. Nach ukrainischen Angaben hielten sich die Folgen in Grenzen. In Mykolajiv und in Drohobyč im Westen des Gebiets L’viv kam es nach Attacken auf Umspannwerke zu Stromausfällen. Schwerpunkt der Angriffe waren Städte, die zuvor seit langer Zeit nicht mehr angegriffen worden waren, etwa Lemberg und Smila im Gebiet Čerkassk. Kremenčuk hingegen war bereits das sechste Mal im Juni Ziel einer nächtlichen Angriffswelle. Zivile Opfer gab es nur wenige. Die Ukraine verlor jedoch einen weiteren F-16-Kampfjet, den mittlerweile vierten, der zuvor sieben anfliegende Objekte zerstört hatte. Der Pilot kam ums Leben. Der genaue Hergang ist unklar. Die Maschine könnte von der eigenen Luftabwehr getroffen worden sein oder bei der Zerstörung eines Flugkörpers von der Druckwelle erfasst worden sein. Der Verlust ist schmerzlich, denn die Zahl der aus dem Westen übergebenen Kampfjets (rund 50) sowie der an ihm ausgebildeten ukrainischen Soldaten ist nicht groß.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.