Memorial unter Druck

Irina Ščerbakova

in: Osteuropa, 3–4/2020, S. 215–228

In Russland verschlechtert sich die Lage für Nichtregierungsorganisationen. Der Staat agiert zunehmend repressiv und unterwirft sie einer immer engeren Kontrolle. Darunter leidet auch Memorial. Mehrere Regionalgruppen wurden zu „ausländischen Agenten“ erklärt, willkürlich überprüft, angeklagt und zu Geldstrafen verurteilt. Der Leiter des Menschenrechtszentrums Memorial in Tschetschenien wurde nach einer Justizfarce verurteilt, gegen den Leiter von Memorial in Karelien läuft der zweite Prozess auf der Basis manipulierter Zeugenaussagen. Ziel des repressiven Staates ist es, Memorial zu diskreditieren, zu diffamieren und zu zerstören. Doch dies ist nicht gelungen. Die Solidarität ist ungebrochen.

Es ist nicht leicht, in eigener Sache sine ira et studio zu berichten. Es geht um den Druck, den der Staat in Russland auf NGOs ausübt, um kafkaeske Gerichtsverfahren und um Strafzahlungen, mit denen Memorial International seit September 2019 konfrontiert ist. der Handlungsspielraum von NGOs wurde in den vergangenen 20 Jahren unter der Herrschaft Putins immer geringer, der Staat überzieht sie mit Überprüfungen und Strafen. Dies war bereits in den 2000er Jahren so und mit dem berüchtigten „Agentengesetz“ aus dem Jahr 2012 hat die Lage sich nochmals verschlechtert.[1] Betroffen sind nicht nur Menschenrechtler, sondern höchst unterschiedliche NGOs, darunter solche, die AIDS-Prävention betreiben, Diabetiker unterstützen, sich für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen einsetzen, oder sich wie Memorial um die Aufarbeitung der Repressionen unter Stalin in den 1930er–1950er Jahren kümmern. Jeder vernünftige Mensch wird sich fragen, warum das geschieht. Wen stört eine NGO wie Memorial und wodurch?

Memorial – ein kurzer Rückblick

Memorial entstand 1989.[2] Es war die erste Vereinigung von Bürgerinnen und Bürgern, die von den Machthabern die jahrzehntelang verborgene Wahrheit über die Vergangenheit forderten: Sie forderten eine offizielle und gesetzlich verankerte Verurteilung der staatlichen Repressionen, die Rehabilitierung der Opfer des stalinistischen Terrors und ein öffentliches Gedenken. Die Gründer von Memorial waren höchst unterschiedliche Menschen, weniger professionelle Historiker, als vielmehr politisch aktive Menschen unterschiedlichen Alters, Dissidenten, die erst kurz zuvor aus dem Lager oder der Verbannung zurückgekehrt waren wie der Physiker und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharov, der zum ersten Vorsitzenden von Memorial gewählt wurde, der Biologe Sergej Kovalev und der Philologe Arsenij Roginskij.

Anfang der 1990er Jahre wurden unter Mitwirkung führender Memorial-Mitglieder zwei Gesetze von eminenter Bedeutung erarbeitet: das Gesetz zur Rehabilitierung der Opfer politischer Verfolgungen (1991)[3] und das Gesetz, das den Zugang zu den Archiven regelte (1992).[4] Diese beiden Gesetze schienen die Basis für eine konsequente Aufarbeitung der Vergangenheit zu sein, aber auf legislativer Ebene tat sich danach nichts mehr. Weder Stalin, noch das kommunistische Regime, noch die Geheimdienste wurden im neuen Russland einer juristischen Beurteilung unterzogen. Das liegt in erster Linie daran, dass der öffentliche Druck nachließ. In den schweren 1990er Jahren, die verglichen mit heute aber viel freier waren, ging bei vielen Menschen das Interesse an den Schattenseiten der sowjetischen Vergangenheit verloren. Gleichzeitig wuchs die nostalgische Sehnsucht nach den angeblich „glücklichen“ 1970er Jahren unter Brežnev. Ende der 1990er Jahre waren es vor allem die Memorial-Verbände, die sich um die Erinnerung an die Opfer der Repressionen kümmerten. Sie errichteten Denkmale, lokalisierten Massengräber von Erschossenen, erstellten eine Datenbank mit Kurzbiographien der Opfer, bauten Sammlungen, Archive und Museen auf. Damals gab es in ganz Russland bereits mehr als 80 solcher Verbände. Die regionalen Behörden halfen ihnen zwar nicht besonders – zur Rechtfertigung verwiesen sie auf fehlende Mittel –, aber sie behinderten die Gruppen auch nicht. Geld war tatsächlich keines da. Nicht einmal Renten wurden ausgezahlt, wer wollte da von Investitionen in die „Gedenkarbeit“ reden. An die Repressionen in der UdSSR erinnerte die El’cin-Regierung nur vor Wahlen, wenn ein Sieg der Kommunisten drohte, die wegen der schweren Wirtschaftslage von einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung unterstützt wurden.

Prominente Liberale, die sich für die Einführung der Marktwirtschaft in Russland engagierten, sahen keinen Sinn darin, Zeit und Anstrengung der Entstalinisierung zu widmen. Das illustrieren die Publikationen und Interventionen eines der profiliertesten Ökonomen dieser Jahre, Egorʼ Gajdar.[5]

Gajdar war zweifellos ein Anhänger liberaldemokratischer Ideen und lehnte das kommunistische Regime eindeutig ab. Aber in seinen Analysen, weshalb das Regime scheiterte und wie ein neues System aussehen sollte, argumentierte er rein ökonomisch. Sein Denken und Handeln und das seines Teams waren von der Überzeugung geprägt, dass sich mit dem erfolgreichen Aufbau einer Marktwirtschaft alle „ideologischen Probleme“ von selbst lösen würden. Dass es einen Zusammenhang zwischen der Herausbildung einer Zivilgesellschaft, dem öffentlichen Bewusstsein und dem Erfolg der Reformen gab, sahen sie nicht. Als sich die Liberalen nach der Jahrtausendwende endlich eines Besseren besannen, war es zu spät. Doch es war weniger die Beschäftigung mit der Vergangenheit als die Haltung zur Gegenwart, die Memorial in den 1990er Jahren in Konflikt mit den Machthabern brachte. Seit der Gründung befasst sich Memorial auch mit aktuellen Menschenrechtsverletzungen. Der Krieg in Tschetschenien ging mit schweren Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung einher. Die Aktivitäten des Menschenrechtszentrums Memorial, das diese Verbrechen minutiös dokumentierte, analysierte und öffentlich machte, rief bei den Machthabern zunehmenden Unwillen hervor.[6]

Geschichte und Gesellschaft in der Putin-Ära

Zu grundlegenden Veränderungen für NGOs kam es mit Vladimir Putins Amtsantritt als Präsident im Frühjahr 2000. Russlands Gesellschaft befand sich damals in einer moralischen Krise. Memorials ständige Erinnerung an die Massenrepressionen lief dem allgemeinen Trend zuwider, die sowjetische Vergangenheit weichzuspülen. Die moralische Relativierung gewann an Boden. Immer häufiger war die These zu hören, dass es keine Geschichte, sondern nur Historiker gäbe, keine unumstrittenen Fakten, sondern nur den Umgang mit ihnen. Eine russische Version des Nolteschen Denkens griff um sich:[7] Die sowjetische Erfahrung sei nicht einzigartig, auch in anderen Ländern habe es Massenverbrechen gegeben. Für die Erinnerungskonflikte mit den Nachbarn, die in den 1990er Jahren eingesetzt hatten, wurden die baltischen Staaten, Polen und die Ukraine verantwortlich gemacht. Russland erschien als das gekränkte Opfer, das von allen Seiten beschuldigt wird. Dieses erinnerungspolitische Credo Russlands fasste der kremlnahe Polittechnologe Gleb Pavlovskij später so zusammen:

„Die Gesellschaft hat im Umgang mit ihrer Vergangenheit ihre Souveränität eingebüßt […] Man kann die Anhäufung von Belastungsmaterial durch die „Richter der Geschichte“ aus verschiedenen Ländern nicht ständig ignorieren […]. Russland, das keine eigene Erinnerungspolitik hat, ist zu einer schutzlosen und sicheren Zielscheibe für diffamierende Projektionen und aggressive Phobien geworden. Solange die russische Gesellschaft nicht das Subjekt der Erinnerung ist, läuft sie Gefahr, zum Objekt fremder Projektionen und gefährlicher Szenarien zu werden.“[8]

Aber all dies wurde nicht gesagt, um die Verbrechen des Stalinismus in die Kette der anderen Katastrophen des 20. Jahrhunderts einzureihen. Im Gegenteil: Wenn man sie weder leugnen noch rechtfertigen kann, muss man sie zynisch relativieren: „Wir sind nicht schlechter als andere, wir müssen uns verteidigen und schuld sind die anderen.“

Im Machtwechsel von El’cin zu Putin sahen selbst im liberaldemokratischen Lager viele zunächst kein Problem. Dem Gros der Bevölkerung schien die Garantie von Stabilität verlockender zu sein als die komplizierte, unverständliche Freiheit. Dieser „Tausch“ erinnerte an den in Russland berühmten Dialog zwischen Lanzelot und dem Drachen aus Evgenij Švarc’ (1896–1958) Drama Der Drache.[9] Der Drache, ein schneidiger energischer Herr mittleren Alters, will dem Ritter Lanzelot klar machen, dass es keinen Sinn habe, ihn zu besiegen. Während seiner Herrschaft hatte er die menschlichen Seelen irreparabel verkrüppelt, so dass sie kein Verlangen nach Freiheit mehr verspüren:

„Drache: Menschliche Seelen, mein Lieber, sind zählebig. Zerhackst du den Körper in zwei Hälften, verreckt der Mensch. Wenn du ihm aber die Seele zerhackst, passiert gar nichts, er wird gefügig. Nein, solche Seelen findest du nirgends. Nur in meiner Stadt. Armlose Seelen. Seelen ohne Beine, taubstumme Seelen, Kettenseelen, Spürhundeseelen, durchlöcherte Seelen, käufliche Seelen. Schade, dass sie unsichtbar sind.“[10]

Nun fiel es Memorial immer schwerer, die Rolle des „armen edlen Ritters“ zu übernehmen. Die Bevölkerung unterstützte die neuen Machthaber weitgehend oder war indifferent. Und ab 2005 kam Russland in den Genuss eines „goldenen Ölregens“, durch den sich die wirtschaftliche Lage im Land wesentlich verbesserte.

Dass die Zeit relativer Freiheit für NGOs vorbei war oder sich dem Ende zuneigte, verstanden die Aktiven aus der Zivilgesellschaft recht schnell. Das Bestreben der Machtkreise um Putin, in denen zunehmend die siloviki dominierten,[11] die Gesellschaft ihrer Kontrolle zu unterwerfen, sowie ihr Misstrauen gegenüber der Opposition, nahmen nach der „Orangen Revolution“ in Kiew 2004 zu.[12] Putin und die siloviki fürchteten, eine derartige Entwicklung könnte auch in Russland passieren.

Die Polittechnologen des Kreml, die in der Ukraine mit ihrer Wahlmanipulation ein Debakel erlitten hatten, versuchten den eigenen Bürgern weiszumachen, dass für die „Orange Revolution“ Menschenrechts-NGOs verantwortlich seien, die Geld aus dem Westen erhielten und als dessen Handlanger agierten.

Danach setzten die ersten einschneidenden Beschränkungen für NGOs ein. Das Putin-System verschärfte im Jahr 2006 die Bestimmungen zur Registrierung von NGOs. Unter anderem wurde die Gründung und Tätigkeit von Organisationen unter Leitung von ausländischen Bürgern, NGOs oder Investoren untersagt.[13] Gleichzeitig wurde das Extremismus-Gesetz verschärft. Die Definition des Begriffs „Extremismus“ wurde so diffus, dass nahezu alles zu einer „extremistischen Tätigkeit“, „extremistischen Organisation“ oder „extremistischem Material“ erklärt werden konnte. Das Gesetz öffnete behördlicher Willkür Tür und Tor.[14]

NGOs sahen sich einer Flut von Überprüfungen durch Staatsorgane ausgesetzt. Bereits damals bekam auch Memorial ernsthafte Probleme. Neun Monate lang saßen Prüfer im Memorial-Büro in Moskau und erstellten Strafbescheide für phantastische Verstöße. So wurde Memorial dafür belangt, dass es versäumt hatte, Steuern für einen Kranz zu bezahlen, der am Gedenktag für die Opfer politischer Verfolgungen vor der Lubjanka in Moskau niedergelegt worden war. Diesen und ähnliche Strafbescheide focht Memorial vor Gericht an – in der Regel ohne Erfolg. Kleinere Memorial-Verbände mussten bereits damals ihre Arbeit einstellen.[15]

Die eigene historische Forschung, die damit verbundenen Veranstaltungen und die Öffentlichkeitsarbeit zur Erinnerung an die Verbrechen des kommunistischen Regimes wurden schwieriger. Der Zugang zu den Archiven wurde erheblich eingeschränkt. Seitdem wird er mit der Begründung abgelehnt, dass die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen oder Staatsgeheimnisse geschützt werden müssten und keine Dokumente über die operative Tätigkeit der Repressionsorgane herausgegeben werden dürften.[16]

Die Kreml-Ideologen orientierten sich immer stärker an der sowjetischen Vergangenheit, die eine Quelle des Nationalstolzes werden sollte. Ein neuer Patriotismus, der sich auf heroische, mythologisierte, lichte Seiten der kommunistischen Epoche stützte, sollte zur Staatsideologie werden. Antiwestliche imperiale Rhetorik war nicht zu überhören, der erwähnte „Krieg der Erinnerungen“ mit den Ex-Sowjetrepubliken Ukraine, Georgien und den baltischen Staaten verschärfte sich. Obwohl die eigentliche Tendenz der Geschichtspolitik des Kreml unverkennbar war, die Erinnerung an den Terror und die Verbrechen des Sowjetregimes zu verdrängen, zogen die Machthaber es zunächst vor, eklektische Geschichtsbilder zu zeichnen.

Bei seinem Besuch auf dem Erschießungsplatz in Butovo südlich von Moskau, wo in den 1930er Jahren über 20 000 Menschen erschossen worden waren, sprach Putin 2007 von der Verantwortung, die der Stalinismus für die Verbrechen an den Bürgern trage:

„Tragödien dieser Art hat es in der Geschichte der Menschheit immer wieder gegeben. Das Jahr 1937 war zwar der Höhepunkt der Repressionen, die vorausgehenden Jahre der Grausamkeit hatten dies indes vorbereitet. Das Ausmaß ist kolossal.“[17]

2010 gab Putin, damals als Premierminister, eine strenge Bewertung des Stalinismus ab, als er das Denkmal für die in Katyn’ erschossenen Polen besuchte:

„Für diese Verbrechen kann es keine Rechtfertigung geben. Die Untaten des totalitären Regimes haben in unserem Land eine eindeutige politische, rechtliche und ethische Beurteilung erfahren. […] Diese Beurteilung ist irreversibel.“[18]

2017 erläuterte Putin seine Haltung zu Stalin in einem Interview mit Oliver Stone. Stalin sei für ihn ein Produkt seiner Epoche. Dabei wies Putin darauf hin, dass es in der Geschichte viele Persönlichkeiten gibt, zu denen es kein klares Urteil geben könne, etwa Cromwell und Napoleon. Stalins überflüssige Dämonisierung sei nichts anderes „als eine der Angriffsmethoden auf die Sowjetunion und Russland […]. Das heutige Russland trägt einige Muttermale des Stalinismus. Wir alle tragen so einige Muttermale. Na und?“[19]

Die Kernthese dieses Eklektizismus lautet, dass die Massenrepressionen zwar nicht zu rechtfertigen sind, die Sowjetunion aber in jedem Fall ein großer Staat war. Deshalb sei ihr Zusammenbruch auch eine „geopolitische Katastrophe“ gewesen. Für Russland sei nur ein starker Staat mit einem starken Führer gut. Als dessen Verkörperung gelangte Stalin zu neuen Ehren. Und die Öffentliche Meinung bewertete Stalin mit den Jahren zunehmend positiv.[20]

Eine neue Qualität: das „Agentengesetz“

Eine neue Etappe der staatlichen Repression begann mit dem sogenannten „Agentengesetz“. Im Herbst 2011 war klar geworden, dass die Gesellschaft, vor allem ihr urbaner und aktiver Teil, nicht mehr so apolitisch war wie zehn Jahre zuvor. Die Fälschungen bei den Duma-Wahlen lösten eine breite Protestwelle aus – zum ersten Mal seit den 1990er Jahren.[21] Das herrschende Machtkartell fühlte sich bedroht und ergriff Gegenmaßnahmen. Nahezu alle in der Verfassung garantierten Grundrechte und bürgerlichen Freiheiten wurden per Gesetz eingeschränkt oder aufgehoben. Das betraf die Versammlungsfreiheit, die Pressefreiheit und die Vereinigungsfreiheit. Proteste gegen Vladimir Putins Rückkehr in das Amt des Präsidenten im Mai 2012 wurden gewaltsam aufgelöst, willkürlich Festgenommene erhielten wegen ihrer Teilnahme an der Demonstration drakonische Strafen. Im Herbst 2012 trat das Gesetz „Über die Änderung einzelner Gesetzesakte der Russländischen Föderation zur Reglementierung der Tätigkeit gemeinnütziger Organisationen, die die Funktion eines ausländischen Agenten ausüben“ in Kraft.[22] Es besagt, dass als „ausländischer Agent“ betrachtet wird, wer ausländische Finanzierung erhält und „politisch“ tätig ist. Und als „politische Tätigkeit“ gilt jeder Versuch, die öffentliche Meinung zu beeinflussen.

Dieser Praxis liegt die tief verwurzelte Überzeugung zugrunde, dass jeder, der die Regierung kritisiert, aus dem Ausland finanziert wird. Putin äußerte sich zu diesem Thema ganz unzweideutig: „Wer zahlt, bestimmt die Musik.“ Das ist nicht verwunderlich, denn für Geheimdienstler ist eine derartige Wahrnehmung der Wirklichkeit typisch. Ihr Weltbild sieht so aus: Alle sind käuflich, alle sind Agenten, und wer kein Geld von uns bekommt, erhält es von anderen, und das heißt, er ist ein fremder Agent.

Kein seriöser Rechtswissenschaftler konnte dieses Gesetz rechtssystematisch erklären. Nur eines stand fest: Die Machthaber hatten jetzt eine Handhabe, um vielen unabhängigen Organisationen das Leben schwer zu machen und sie allmählich zu vernichten. Das war der Sinn der Sache. Der Vorstand von Memorial International gab dazu im September 2012 eine scharfe Erklärung ab.

„Dieses Gesetz ist von Grund auf rechtswidrig und unmoralisch. Rechtswidrig, weil es der Exekutive die Rechte von Gerichten einräumt. Und unmoralisch, weil es a priori davon ausgeht, dass Organisationen, die Mittel aus dem Ausland erhalten, im Auftrag ihrer Sponsoren handeln […] Nach den Bestimmungen dieses Gesetzes können die Behörden jederzeit von Memorial und jeder anderen NGO, die Spenden aus dem Ausland erhält, verlangen, dass sie sich in einem Verzeichnis von ‚Organisationen, die ausländische Agenten sind‘ und in Russland arbeiten, registrieren lassen und alle ihre Publikationen und Internetseiten entsprechend kennzeichnen. Mit anderen Worten: Wir sollen uns selbst als eine Organisation bezeichnen, die im Interesse irgendwelcher, unbekannter ausländischer Kräfte handelt. Diese Behauptung wäre eine Lüge. […] Es genügt, an die Jahre 1937–1938 zu erinnern, als Hundertausende Menschen gezwungen wurden, sich als „ausländische Agenten“ auszugeben; auch später wurden Regimekritiker oft als „Söldner des Westens“ bezeichnet.“[23]

Voller Heuchelei erklärten die Machthaber, dass das Gesetz lediglich der Regulierung diene und niemanden in seiner Tätigkeit behindere. Die NGOs sollten sich einfach nur in das entsprechende Verzeichnis eintragen. Zunächst war vorgesehen, dass sich die Organisationen selbst registrieren sollten. Aber keine tat dies freiwillig. Das war ein kleines Indiz dafür, dass es Solidarität und Widerstand gab. Dann wurde das Gesetz so geändert, dass die Behörden jene, die ihnen nicht passten, selbst als Agenten verzeichnen konnten. Seitdem wurden fast 200 NGOs vom Justizministerium in das Verzeichnis eingetragen, denen Russland vorwirft, „ausländischer Agent“ zu sein.[24]

Viele dieser NGOs haben sich danach aufgelöst, da sie den bürokratischen Schikanen, den sich laufend ändernden und ständig verschärften Bestimmungen und den zahlreichen Überprüfungen nicht gewachsen waren. Vor allem kleinere Organisationen in den Regionen fielen diesem Gesetz zum Opfer. Im Februar 2013 reichte Memorial gemeinsam mit mehreren anderen NGOs beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg Klage gegen das „Agentengesetz“ ein. Das Verfahren ist bis heute anhängig, das Urteil steht aus.

Memorial International als „Agent“

Nach dem Euromajdan in der Ukraine und der Annexion der Krim im Frühjahr 2014 durch Russland wurden die Schrauben nochmals angezogen. Im Sommer 2014 wurde das Menschenrechtszentrum Memorial vom Justizministerium als „ausländischer Agent“ registriert. Als Beweis für seine „politische Tätigkeit“ galt, dass das Menschenrechtszentrum eine Liste politischer Gefangener in Russland erstellt, polizeiliche Festnahmen auf Kundgebungen beobachtet und kontrolliert.[25]

Memorial International wurde in das „Agenten-Register“ eingetragen, nachdem der Vorstand in einer Stellungnahme Russlands Vorgehen auf der Krim als „Aggression“ verurteilt hatte. Nach der Logik der Machthaber war diese Stellungnahme eine „politische Tätigkeit“. Aber Memorial International ist ein Netz von Organisationen, zu denen auch Organisationen in Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Tschechien und der Ukraine gehören. Wie kann ein solches Netz als „ausländischer Agent“ bezeichnet werden? Das ist natürlich eine rhetorische Frage. Wer glaubt, dass die Eintragung in das „Agenten-Register“ letztlich keine Bedeutung habe, der irrt. Das wäre nicht im Sinne dieses Gesetzes. Es folgten umfassende außerplanmäßige Überprüfungen. Das Justizministerium verlangte 9000 Dokumente zur Arbeit des Menschenrechtszentrums Memorial und 30 000 von Memorial International – und zwar innerhalb weniger Tage. Mitarbeiter von Memorial und Freiwillige standen rund um die Uhr am Kopierer. Die Angestellten des Justizministeriums, wohin Hunderte Kartons in zwei Fahrzeugen transportiert wurden, reagierten mit sichtlichem Widerwillen. Nach einiger Zeit erlaubten sie, die Kartons wieder abzuholen. Dabei stellten die Memorial-Mitarbeiter fest, die sie ursprünglich verpackt hatten, dass die Kisten im Ministerium überhaupt nicht geöffnet worden waren.

Aber es blieb nicht bei derartigen sinnlosen Überprüfungen, die eine Methode waren, Memorial in seiner eigentlichen Tätigkeit zu behindern. Vielmehr wurde die gesamte Öffentlichkeitsarbeit der Gesellschaft Memorial, der nun das Stigma des „ausländischen Agenten“ anhaftete, problematisch. Staatliche Institutionen, mit denen Memorial früher kooperiert hatte, lehnten eine weitere Zusammenarbeit ab.

Ein Hauptangriffsziel wurde der Geschichtswettbewerb für Schüler der Oberstufe, den Memorial seit dem Jahr 2000 durchführt. Schüler und Lehrer, die zur Preisverleihung 2016 nach Moskau angereist waren, wurden von Aktivisten der rechtsradikalen Organisationen Nacional’noe osvoboditel’noe dviženie (Nationale Befreiungsbewegung, NOD) und South East Radical Block (SERB) attackiert und mit grüner Farbe (sog. „zelenka“) übergossen – vor den Augen der Polizei. Strafrechtliche Konsequenzen für die Täter gab es nicht. Es ist klar, dass diese nicht eigenständig handelten. Sie wurden benutzt, um Personen abzuschrecken, mit Memorial zusammenzuarbeiten. Sie agierten mit medialer Rückendeckung der Fernsehkanäle REN TV und Rossija 24, welche die Übergriffe zeigten und in ihren Sendungen Verleumdungen über den Wettbewerb und seine Teilnehmer verbreiteten. Die Organisatoren von Memorial wurden – in der schlimmsten Tradition der sowjetischen Propaganda – als „moderne Judasse“ bezeichnet, als „Antipatrioten“, welche „die Geschichte für ausländisches Geld umschreiben“.[26]

In allen Regionen, aus denen die Preisträger kamen, wurden Lehrer, Eltern und häufig auch die Schüler selbst zum jeweiligen Rektor zitiert. Bei diesen Gesprächen waren Mitarbeiter der örtlichen Verwaltung dabei. Mitunter stellten sie sich unverhohlen als Mitarbeiter des FSB vor. Sie wollten wissen, auf welche Weise die Information über den Wettbewerb verbreitet wurde, verlangten Einsicht in die Arbeiten der Teilnehmer und forderten nachdrücklich dazu auf, von einer weiteren Zusammenarbeit mit Memorial abzusehen. Dieser Vorfall macht besonders deutlich, wie schwer es für Memorial geworden ist, als „ausländischer Agent“ tätig zu sein.

Starkem Druck sind auch Memorial-Sektionen in den Regionen ausgesetzt. Die Gruppen in Petersburg (2015), Ekaterinburg (2015), in der Republik Komi (2015), in Rjazanʼ (2015) und Krasnodar (2017) wurden ebenfalls zu „ausländischen Agenten“ erklärt. Oft verbarg sich hinter diesen Attacken die Absicht der Machthaber, die Geschichte umzuschreiben oder Orte des Gedenkens an die Opfer der Repression und des Terrors loszuwerden. Der drastischste Fall ist das Verfahren gegen Jurij Dmitriev, den Leiter der karelischen Sektion von Memorial, der 1997 nach jahrelanger Suche in einem Waldstück bei Medvežegorsk eine Erschießungsstätte des NKVD gefunden hatte. Stalins Schergen hatten hier 1937/1938 fast 10 000 Menschen erschossen und verscharrt. Dmitriev veröffentlichte Bücher mit den Namen von über 15 000 Opfern des Terrors. Im Dezember 2016 wurde der Historiker unter dem fabrizierten Vorwurf der „Herstellung und Verbreitung pornographischer Aufnahmen von Minderjährigen“ verhaftet.[27] Seitdem zieht sich ein Verfahren gegen ihn schier endlos hin. Die regierungstreue Russländische Militärhistorische Gesellschaft will beweisen, dass in dem Massengrab nicht Opfer des Großen Terrors liegen, sondern Rotarmisten, die während der Besatzung 1941–1944 von Finnen umgebracht worden seien.

Es würde den Rahmen eines Aufsatzes sprengen, alle Vorfälle aufzulisten oder die Formen des Drucks systematisch zu beschreiben, die sich in den letzten Jahren gegen NGOs richteten. Am Beispiel von Memorial lassen sich einige Methoden unterscheiden. Aber selbst hierbei gibt es die Schwierigkeit, dass die Machtorgane situativ agieren, in Einzelfällen massiven Druck aufbauen, der dann plötzlich wieder nachlässt. Doch zwei Trends sind unbestritten: Erstens: Die Machthaber versuchen, die Tätigkeit unabhängiger zivilgesellschaftlicher Organisationen ihrer Kontrolle zu unterwerfen. Zweitens agieren sie zunehmend repressiv.

Am meisten Druck wird durch Gesetze und Verordnungen ausgeübt, durch welche die Tätigkeit der NGOs, ihr Status, ihre Rechenschaftspflichten sowie die Strafen bei Verstößen festgelegt werden. Auf der Basis des „Agentengesetzes“ stellt die Eintragung in das Register „ausländischer Agenten“ per se eine repressive Maßnahme dar. Damit sind schärfere staatliche Kontrollen verbunden. Wer zum „ausländischen Agenten“ erklärt wird, ist nun verpflichtet:

Die zweite Bestimmung dieses präzedenzlosen Gesetzes ist die den Organisationen auferlegte Pflicht zur „Selbstentlarvung“ und „Selbstdenunzierung“. Eine NGO, die als „ausländischer Agent“ gebrandmarkt ist, muss jede von ihr verbreitete Publikation mit dem Vermerk versehen, dass diese von einem „ausländischen Agenten“ stamme. Das „Agentengesetz“ sieht vor, dass die Nichterfüllung dieser Vorschrift für die Leiter oder Vorsitzenden derartiger Organisationen strafrechtliche Konsequenzen hat. Ihnen droht eine Haftstrafe von bis zu zwei Jahren. Außerplanmäßige Überprüfungen kann nach diesem Gesetz jeder veranlassen, auch „wachsame Bürger“.

Das „Agentengesetz“ ermöglicht auch die systematische finanzielle Drangsalierung von NGOs. Mit diesem Problem ist Memorial seit 2014 konfrontiert. Wenn NGOs etwa die Angabe, dass sie „ausländische Agenten“ sind, nicht an die entsprechenden Behörden übermitteln, werden sie mit Strafen von 100 000 bis 500 000 Rubeln belegt. Strafen in dieser Höhe drohen auch, wenn sie Publikationen ohne den Hinweis veröffentlichen, dass diese von einem „ausländischen Agenten“ stammen. Versuche, auf dem Rechtsweg Strafbescheide anzufechten, sind zum Scheitern verurteilt, da die Rechtsprechung regierungshörig ist. Gerichtsverhandlungen und Urteile sind rein formal. Dass sie im Sinne der Anklage mit einem Schuldspruch enden, steht von vornherein fest. Die einzige Klage-Instanz, die sich davon unterscheidet, ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

Bei einigen Memorial-Organisationen wie Petersburg (2008) und Permʼ (2019) wurden Hausdurchsuchungen durchgeführt und Dokumente beschlagnahmt, was in keiner Weise gerechtfertigt war.

Eine zentrale Rolle bei der Diskreditierung von Memorial spielen die Massenmedien. Die Fernsehkanäle REN TV, NTV und Rossija 24 haben in den vergangenen Jahren immer wieder Sendungen ausgestrahlt, in denen einzelne Mitglieder von Memorial verleumdet, beleidigt und in ihren Persönlichkeitsrechten angegriffen wurden und Memorial als Agent des Westens oder als „fünfte Kolonne der USA“ dargestellt wurde.[28] Dabei kommen heimlich aufgezeichnete Aufnahmen ebenso zum Einsatz wie Auszüge aus interner Korrespondenz. Unklar ist, wie sie in die Hände der Autoren der Sendung kamen. Das Ziel dieser Beiträge ist es, eine vergiftete Atmosphäre zu schaffen, die potentielle Partner von einer Zusammenarbeit mit Memorial abschreckt – in erster Linie Schulen, Lehrer, Archive, Bibliotheken und Museen. Auch hier hat sich herausgestellt, dass der Rechtsweg blockiert ist: Alle Verleumdungsklagen sind erfolglos geblieben.

In der Gesellschaft ist die Angst vor einer Kooperation mit dem „ausländischen Agenten“ Memorial sehr real. Die ständigen Versuche, die historiographische Arbeit von Memorial zu diskreditieren und Angaben von Forschern, die Massengräber ausfindig gemacht haben, in Zweifel zu ziehen, tun ein Übriges.

Einzelne Mitarbeiter von Memorial werden unter Druck gesetzt, konkrete Personen bedroht. Seit Jahren geht von der Führung der Tschetschenischen Republik eine direkte physische Bedrohung für Mitarbeiter des Menschenrechtszentrums Memorial aus. Im Sommer 2009 wurde die Memorial-Mitarbeiterin Natalja Estemirova in Groznyj entführt und ermordet. Ihr Nachfolger, der Leiter des Menschenrechtszentrums Memorial in Tschetschenien, Ojub Titiev wurde im Januar 2018 festgenommen. Ihm waren Drogen untergeschoben worden. Nach einer „Verhandlung“, die internationale Beobachter als „Justizfarce“ bezeichneten, wurde er im Frühjahr 2019 zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt.[29] Damit war die Menschenrechtsarbeit von Memorial in der Kaukasusrepublik de facto beendet.[30]

In den Mühlen der Justiz

Memorial war lange nicht bereit gewesen, sich als „ausländischer Agent“ einzutragen und die eigenen Publikationen und alle öffentlichen Aktionen mit diesem Label zu versehen. 2016 erhielt Memorial eine „gelbe Karte“ in Form eines Briefes vom Justizministerium mit der Aufforderung, auf der Website den Vermerk „ausländischer Agent“ anzubringen, andernfalls werde die Organisation geschlossen. Am 27. Dezember 2016 verhandelte ein Moskauer Bezirksgericht einen der Strafbescheide gegen das Menschenrechtszentrum Memorial und verurteilte es zu einer Geldstrafe von 300 000 Rubeln, weil es fünf Texte, die die Situation politischer Gefangener in Russland zum Thema hatten, nicht mit dem vorgeschriebenen Vermerk versehen hatte. Am 14. Dezember 2016 war bereits eine Verurteilung nach einem analogen Strafbescheid erfolgt (nach Art. 19.34, Abschn. 2, des Ordnungsstrafrechts). Daraufhin beschloss der Vorstand, folgenden Vermerk auf die Memorial-Website zu stellen:

„Am 4. Oktober 2016 hat das Justizministerium der Russländischer Föderation Memorial International ins Register ‚nichtkommerzieller Organisationen, die die Funktion eines ausländischen Agenten ausüben‘, eingetragen. Wir fechten diese Entscheidung gerichtlich an.“[31]

Seitdem steht diese Aufschrift auf sämtlichen Publikationen und Ankündigungen.

Im August 2019 wandte sich der FSB Inguschetien an Russlands Aufsichtsbehörde für Kommunikation, Informationstechnologien und Medien Roskomnadzor (Federal’naja služba po nadzoru v sfere svjazi, informacionnych technologij i massovych kommunikacij) und teilte mit, dass auf einigen Materialien von Memorial die Kennzeichnung „ausländischer Agent“ fehle. Auch dieses Verfahren entspricht sowjetischer Praxis. Scheinbar geht eine Initiative von unten aus. Die Zentrale nahm sich ihrer an. Warum kam die Denunziation gerade von inguschetischen FSBlern? Es handelte sich wohl um einen Racheakt am Menschenrechtszentrum Memorial im Nordkaukasus. Dieses überwachte die Antiterror-Operationen und macht dem dortigen FSB die Arbeit schwer. Bei Recherchen im Internet stellte der FSB fest, dass in manchen Memorial-Accounts in den sozialen Medien der Hinweis „ausländischer Agent“ fehlte, ebenso auf Seiten der Datenbank mit Informationen über Opfer der politischen Repressionen[32] und den Verantwortlichen aus den sowjetischen Sicherheitsorganen.

Insgesamt verhängte Roskomnadzor im Herbst 2019 28 Ordnungsstrafen gegen Memorial, weil die geforderte Markierung bei 13 Internet-Materialien von Memorial fehlte. Pro Verstoß wurden zwei Bußgeldbescheide ausgestellt, einer gegen die Organisation als juristische Person, einer gegen die verantwortliche Person. Zwei Bescheide über die Verhängung von Ordnungsstrafen betrafen einen Blog von Ėcho Moskvy, in dem Memorial-Themen behandelt werden.[33]

Der Kreml gab zu diesen Strafen keinen Kommentar ab. Im November 2019 erklärte der Pressesprecher des Präsidenten, Dmitrij Peskov, lediglich, dass dem Kreml die Vorwürfe gegen Memorial nicht bekannt seien. Im ersten Quartal 2020 gingen der Vorsitzende von Memorial International Jan Račinskij und der Vorsitzende des Menschenrechtszentrums Memorial Aleksandr Čerkasov mit den Juristen von Memorial regelmäßig ins zuständige Moskauer Bezirksgericht wie zur Arbeit. Alle Verhandlungen liefen identisch ab, obwohl sie von verschiedenen Richtern geleitet wurden. Sie endeten jeweils mit der Verhängung von Strafzahlungen. Mitte März 2020 belief sich die Summe der allein von diesem Gericht verhängten Strafen auf 4,7 Millionen Rubel (ca. 60 000 Euro). Das Moskauer Stadtgericht hat bisher 16 von Memorial eingereichte Revisionsklagen behandelt und alle abgelehnt. Da andernfalls die Existenz von Memorial auf dem Spiel stünde, hat Memorial am 16. März 2020 begonnen, die Geldstrafen zu bezahlen.

Natürlich hatte Memorial dafür gar kein Geld. Als gemeinnützige Organisation lebt Memorial ausschließlich von Projektmitteln und Spenden. Es blieb nur eines – öffentlich um Hilfe zu bitten. Memorial erfuhr eine Solidarität und Unterstützung, die vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen wäre. In den letzten Jahren sind Kampagnen zur Unterstützung verschiedener Personen und Initiativen in Russland normal geworden. Auch Memorial hat Crowdfunding bereits genutzt. Aber es ist ein Unterschied, ob man Spenden für Veranstaltungen wie die „Rückgabe der Namen“, für Publikationen von Gedenkbüchern für die polnischen Opfer des Großen Terrors erbittet oder um Strafen zahlen zu können.

Eine derartige Spendenkampagne zu starten war schwierig. Schließlich hätte es so aussehen können, als sammele man Lösegeld, um es wie in Evgenij Švarc’ „Drachen“ in den Rachen der unersättlichen Machthaber zu werfen. In den sozialen Medien wurde heftig über den Sinn dieser Spenden gestritten. Letztlich ist es gelungen, die Menschen davon zu überzeugen, dass es nicht um die Strafzahlungen, sondern um Memorial, die Erhaltung seines einzigartigen Archivs und die Fortsetzung der Arbeit geht. 4600 Personen unterschiedlichen Alters aus verschiedenen sozialen Milieus haben gespendet. Binnen kurzem war die erforderliche Summe zusammengekommen.

Angesichts der „Verfassungsreform“ 2020, der Annullierung der bisherigen Amtszeiten Putins, der nun bis 2036 Präsident bleiben könnte, sowie der Corona-Pandemie mag der Fall von Memorial wie ein kleiner Tropfen in einem riesigen trüben Strom scheinen.[34] Doch am Fall Memorial als einer der ältesten und bedeutendsten NGOs Russlands lässt sich ablesen, wie es um Freiheit und Selbstverantwortung unter den Bedingungen des autoritären Staates bestellt ist. Bleibt zu hoffen, dass in Russland früher oder später die Abwärtsspirale für zivilgesellschaftliche Kräfte und Menschenrechtler endet. Denn auch Drachen leben nicht ewig.

Aus dem Russischen von Vera Ammer, Euskirchen


[1] Grigorij Ochotin: Agentenjagd. Die Kampagne gegen NGOs in Russland: in: Osteuropa, 1–2/2015, S. 83–94. – Evelyn Moser, Anna Skripchenko: Russian NGOs and Their Struggle for Legitimacy in the Face of the „Foreign Agents“ Law: Surviving in Small Ecologies, in: Europe-Asia Studies, 4/2018, S. 591–614. – Benjamin Reeve: Die „Agentengesetze“, ihre Evolution und Konsequenzen. Bundeszentrale für politische Bildung, 11.6.2018, <https://m.bpb.de/inter nationales/europa/russland/270715/die-agentengesetze-ihre-evolution-und-konsequenzen>. – Russland stellt Memorial wieder an den Pranger. NZZ, 4.10.2016, <www.nzz.ch/international/ europa/russland-justizministerium-setzt-menschenrechtsgruppe-memorial-auf-liste-auslaendischer-agenten-ld.120299>.

[2] Irina Scherbakowa: Die Gesellschaft „Memorial“ und die Erinnerung an die Opfer politischer Verfolgung, in: Volkhard Knigge, Irina Scherbakowa (Hg.): Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929–1956. Weimar 2012. S. 124–131. – Evgenija Lezina: Memorial und seine Geschichte. Russlands historisches Gedächtnis, in: Osteuropa, 11–12/2014, S. 165–176.

[3] <https://normativ.kontur.ru/document?moduleId=1&documentId=67215>.

[4] <http://archives.ru/documents/fz/zakon-fz-1993.shtml>.

[5] Egor’ Gajdar: Vlast’ i sobstvennost’. Sankt Petersburg 2009. Gajdar (1956–2009) bekleidete von 1991–1994 hohe Posten in der Regierung, von Juni bis Dezember 1992 amtierte er als Regierungschef. Unter seiner Führung wurde der Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft eingeleitet. Dazu gehörten die Liberalisierung Außenhandels, die Preisfreigabe und die Privatisierung.

[6] Vsemi imejuščimisja sredstvami … Operacija MVD RF v sele Samaški 7–8-aprelja 1995, g. Moskva 1995. – Narušenija prav čeloveka v chode osuščestvlenija režima črezvyčajnogo položenija. Oktjabr’1993. Moskva 1994, <https://memohrc.org/ru/reports/narusheniya-prav-cheloveka-v-hode-osushchestvleniya-rezhima-chrezvychaynogo-polozheniya>. Zdes živut ljudi. Čečnja, chronika nasiliija. Čast 1. Moskva 2001. <https://memohrc.org/ru/books/ zdes-zhivut-lyudi-chechnya-hronika-nasiliya-chast-1-iyul-dekabr-2000-goda>. – Alexander Tscherkassow: Romanze mit dem Kreml. Vom Scheitern der Menschenrechtspolitik in Tschetschenien, in: Florian Hassel (Hg.): Der Krieg im Schatten. Rußland und Tschetschenien. Frankfurt/Main 2003, S. 137–152.

[7] Der Historiker Ernst Nolte hatte mit seinem Beitrag „Vergangenheit, die nicht vergehen will“, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 6.6.1986 publizierte, den „Historikerstreit“ ausgelöst. In ihm ging es um die Frage, ob die nationalsozialistische Judenvernichtung ein singuläres Verbrechen gewesen sei oder ob ihm ähnliche Verbrechen wie etwa der Massenmord im sowjetischen Gulag vorausgegangen waren.

[8] Gleb Pavlovskij: Plocho s pamjat’ju, plocho s politikoj. Politka pamjati. Russikij žurnal’, 9.12.2008, <www.russ.ru/pole/Ploho-s-pamyat-yu-ploho-s-politikoj>.

[9] Evgenij Švarc’ „Der Drache“ entstand 1944. 1962 wurde es postum uraufgeführt. Mehrere deutsche Theater zeigten es, in der DDR das „Deutsche Theater“ in Berlin.

[10] Jewgeni Schwarz: Der Drache. Märchenkomödie in drei Akten. Bühnenfassung des Deutschen Theaters Berlin. Deutsch von Günter Jäniche, in: Ders.: Stücke. Berlin 1970, S. 301.

[11] Siloviki sind Angehörige der Gewaltministerien: Armee, Polizei und Geheimdienste.

[12] Die „Orange Revolution“ in der Ukraine begann am 22.11.2004, als sich auf dem Majdan in Kiew Zehntausende Menschen versammelten und gegen die Fälschung der Präsidentenwahl demonstrierten. Sie forderten erfolgreich eine Wiederholung der Stichwahl. Diese gewann der Oppositionelle Viktor Juščenko, der im Wahlkampf Opfer eines Dioxinanschlags geworden war. Andrew Wilson: Ukraine’s Orange Revolution. New Haven 2005.

[13] Federal’nyj zakon ot 10 janvarja 2006 g. N. 18-FZ O vnesenii izmenenij v nekotorye zakonodatel’nye akty Rossijskoj Federacii, <https://rg.ru/2006/01/17/nko-poryadok-dok.html>.

[14] <http://pravo.gov.ru/proxy/ips/?docbody=&nd=102079221>.

[15] Seitdem hat sich die Zahl der aktiven Gruppen bei etwa 50 eingependelt.

[16] Jahrelang kämpfte Memorial etwa dafür, dass die polnischen Kriegsgefangenen, die auf Anweisung des Politbüros vom 5.3.1940 ohne Gerichtsverfahren im Frühjahr 1940 in Katyn’ und an anderen Orten erschossen worden waren, als Opfer anerkannt würden, sowie dafür, die Akten zum Katyn’-Verfahren, das die Russländische Militärstaatsanwaltschaft führte, zu deklassifizieren und freizugeben. <https://urokiistorii.ru/article/988>. Alle Klagen, die Memorial in dieser Sache anstrengte, wurden von den Gerichten zurückgewiesen.

[17] Pominal’naja molitva. Vladimir Putin posetil Butovskij polygon, gde pochoroneny žertvy massovych rasstrelov. Rossijskaja gazeta, 31.10.2007, <https://rg.ru/2007/10/31/putin.html>.

[18] Medvedev: Vojnu vyigral narod a ne Stalin. Vedomosti, 7.5.2010, <www.vedomosti.ru/
politics/articles/2010/05/07/medvedev_vojnu_vyigral_narod_a_ne_stalin>.

[19] Putinskij vzgljad na sovetskich voždej. Putin rasskazal o svoem otnošenii k Stalinu. Gazeta.ru, 16.6.2017, <www.gazeta.ru/politics/2017/06/17_a_10721567.shtml>.

[20] <www.levada.ru/2015/01/21/za-stalina-tsarya-i-otechestvo/>.

[21] Mischa Gabowitsch: Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur. Berlin 2013.

[22] Federal’nyj zakon ot 20 ijulja 2012 g. N. 121-FZ „O vnesenii izmenenij v otdel’nyj zakonodatel’nye akty Rossijskoj Federacii v časti regulirovanija dejatel’nosti nekommerčeskich organizacij, vypolnjajuščich funkcii inostrannogo agenta, <https://rg.ru/2012/07/23/nko-dok.html>.

[23] O zakone ob „inostrannych agentach“. Zajavlenie Meždunarodnogo Memoriala, Moskva 21.9.2012, < http://old.memo.ru/d/129219.html>.

[24] <http://unro.minjust.ru/NKOForeignAgent.aspx#>. Am 30.4.2020 führte das Justizministerium in dem Verzeichnis der „ausländischen Agenten“ 71 Organisationen. Etliche Organisationen haben sich aufgelöst, nachdem sie gezwungen werden sollten, sich als „ausländischer Agent“ zu bezeichnen. Einige wurden von der Liste genommen, weil sie laut Justizministerium „nicht mehr als ausländischer Agent fungieren“. Siehe dazu „Zerstörung der Gesellschaft“ und die Dokumentation „Liste der Nichtregierungsorganisationen, die Russland als „ausländische Agenten“ bezeichnet, in: Osteuropa, 6–7/2016, S. 109–142 und Osteuropa, 8–9/2018, S. 61–65.

[25] Das Menschenrechtszentrum Memorial stuft Personen als politische Gefangene ein, die strafrechtlich verfolgt werden, weil sie ihre Bürgerrechte wahrnehmen oder auf Grund ihrer Überzeugungen einer bestimmten Gruppe angehören, ebenso Personen, die unter Verletzung gesetzlicher Bestimmungen oder willkürlich aus politischen Motiven verfolgt werden. Heute, im April 2020, gibt es in Russland 317 politische Gefangene, sie alle verbüßen Haftstrafen.

[26] Zelenka vmesto dialoga: Ulickaja ne budet obraščat’sja v policiju. Vesti.ru 28.4.2016. – Moskviči vstretili krikami „Pozor!“ organizatorov škol’nogo konkursa Memorial. Ren.tv, 25.4.2019, <https://ren.tv/news/v-rossii/412560-moskvichi-vstretili-krikami-pozor-organizatorov-shkolnogo-konkursa-memoriala >

[27] Der Fall Jurij Dmitriev. in: Osteuropa, 12/2019, S. 71–75. – Sergej Lebedev: Jurij Dmitriev. Wanderer im Archipel, in: Osteuropa, 9–10/2017, S. 3–15.

[28] Exemplarisch: ČP. Rassledovanie: Agenty vlivanija–2. NTV, 29.11.2019, <www.youtube. com/watch?v=HMpMIaTCFkA&feature=youtu.be&fbclid=IwAR2eIa9E_vDD4R0t9xfw2Au VnZ_0Rn9KsJnpyt7aa19QRVc8K_BqG_DtP-o>.

[29] Titiev wurde dann auf Bewährung aus der Haft entlassen.

[30] Tschetschenien: Amnesty kritisiert Justizfarce beim Verfahren gegen Menschenrechtler Oyub Titiev Amnesty International 21.3.2019. <www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/ russische-foederation-tschetschenien-amnesty-kritisiert-justizfarce-beim>. –<www.memorial.de/index.php/7707-das-verfahren-gegen- ojub-titiev>

[31] Memorial hat die Klage gegen das Justizministerium in allen Instanzen Russlands verloren, nur die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte steht noch aus.

[32] <http://lists.memo.ru/>. Die „inguschische“ Denunziation in Bezug auf die Datenbank hat einen makabren Beigeschmack: 90 000 Inguschen waren Opfer der Stalinschen Deportationen.

[33] Die Bußgeldbescheide wurden nach Art. 19.34, Abschn. 2, des Ordnungsstrafrechts verhängt. Neben Roskomnadzor können auch das Ministerium für Katastrophenschutz, das Staatliche Katasteramt, die Zollbehörden, die Behörden für Exportkontrolle, Grenzschutz, Arbeitsinspektion oder die Gesundheitsaufsicht derartige Strafbescheide verhängen.

[34] Siehe dazu den Beitrag von Marija Lipman in diesem Heft, S. 89–98.